Vorgeschichte, Teil 1: Moony
---------------------------------------------------------------------------- -----------------------
1 - Prolog
---------------------------------------------------------------------------- -----------------------
Inmitten des Moors gab es einen kleinen Wald. Inmitten des Waldes lag eine Lichtung. Am Rande dieser Lichtung stand ein Haus.
Doch war dies kein Haus wie andere Häuser. Eigentlich war es nicht mal ein richtiges Haus. Es war mehr ein Häuschen - aber kein gewöhnliches Häuschen. Es sah aus, als wäre es geradewegs aus einem Märchen entsprungen: ein schief gebautes, zweistöckiges Gebilde aus weißen Steinen mit sonnengebleichten roten Fensterläden und ebenso vielen Schornsteinen, die krumm und schief oben auf dem Strohdach thronten, wie Blumentöpfen in dem halb zerfallenen Gewächshaus daneben.
Die Menschen, die hinter der kleinen roten Tür in dem überwucherten Vorgarten lebten, wo eine Tigerkatze sich faul zwischen den Rosen sonnte, waren auch nicht eben das, was die meisten als 'gewöhnlich' bezeichnen würden. Anstelle von Fahrrädern verwahrten sie in ihrem Keller struppige Besen für Sonntagsausflüge. Eine Zentralheizung gab es nicht, aber das fröhlich tanzende Feuer im Wohnzimmer wärmte im Winter das ganze Haus. Sie hatten kein Telefon, doch am Kaminsims stand ein Töpfchen mit seltsamem Pulver. Die Töpfe und Pfannen ließen sich in der Küche von der Spülbürste selbst putzen. Ein Staubwedel tanzte zwischen den vielen sonderbaren Ornamenten auf den Regalen hin und her, und in der Zimmerecke schwebte und spielte eine Geige ganz von allein.
Das lag daran, dass in diesem Haus die Lupins wohnten, und die Lupins waren alles andere als gewöhnliche Menschen. Sie waren Teil einer verbogenen, geheimnisvollen und magischen Welt. Mr. John Lupin - ein hochgewachsener, gutaussehender junger Mann mit schwarzem Haar und klaren, blauen Augen - war ein Zauberer und arbeitete für die Abteilung zur Führung und Aufsicht magischer Geschöpfe im Zaubereiministerium. Seine Frau, Faith Lupin, hatte große, braune Augen und hellbraunes Haar, das sie in diesem Moment gerade über die Schulter strich, um ihren dreijährigen Sohn Remus auf den Arm zu nehmen, der die Augen und die Haarfarbe seiner Mutter geerbt hatte.
"Sag Daddy gute Nacht", sagte Faith Lupin.
"Nacht, Daddy", sagte der kleine Remus.
"Gute Nacht, mein Sohn", sagte John und raufte dem Jungen die Haare. Dann setzte er sich in einen alten Sessel und nahm die Zeitung vom Tisch, auf deren Deckblatt ein sich bewegendes Bild von mehreren Leuten zu sehen war, die unter der Schlagzeile 'Die Wimbourner Wespen siegen wieder - Sucher Sneaker schnappt den Schnatz' auf Besenstielen umherflogen.
Seine Frau brachte den kleinen Jungen ins Bett und kam mit einem Lächeln auf den Lippen wieder.
"Ich musste ihn in unserem Bett schlafen lassen, John", erklärte sie leise und setzte sich dabei ihrem Mann gegenüber hin.
"Ach ja?" Er blickte vom Tagespropheten auf. "Es geht doch nicht etwa immer noch um letzte Nacht, oder?"
"Er hatte einen bösen Traum", verteidigte seine Frau ihren Sohn. "Er hat von einem Ungeheuer geträumt, das ihn im Dunkeln holen wollte. Ehrlich, John, ich hab ihn noch nie so ängstlich erlebt."
John lächelte in das besorgte Gesicht seiner Frau.
"Na schön, Schatz. Aber morgen Nacht schläft er nicht bei uns. Er muss endlich lernen ... Was ist?"
Er brach ab, als er das leise Grinsen seiner Frau sah.
"Ich habe mich nur gerade daran erinnert, wer ihn letzte Nacht in unser Zimmer geholt hat", antwortete sie pfiffig.
John grinste zurück und Faith seufzte.
"Ihr zwei werdet mir dieses Wochenende fehlen", sagte sie.
"Du könntest doch mitkommen."
"Du weißt, dass das nicht geht. Ich habe deiner Mutter schon vor Ewigkeiten versprochen, ihr beim Organisieren des Sommerfestes zu helfen. Ich kann jetzt nicht sagen, dass ich doch nicht mitmache, dazu ist es zu spät."
John legte die Zeitung beiseite. "Arme Faith. Du leidest sehr unter meiner Mutter, nicht wahr?" Er lächelte. "Du hast einen hohen Preis gezahlt, als du mich geheiratet hast."
Faith lächelte sanft zurück. "Für den besten Mann der Welt ist kein Preis zu hoch. Auch nicht, wenn es darum geht, einen Basar für Hexen mittleren Alters und bemitleidenswerte Berühmtheiten auszurichten, während du mit meinem Bruderherz und dem kleinen Remus auf Wanderung gehst."
John stand auf und kam zu ihr herüber, um sie auf die Stirn zu küssen.
---------------------------------------------------------------------------- -----------------------
2 - Die Moorwanderung
---------------------------------------------------------------------------- -----------------------
Und so kam es, dass Faith am Samstag, in ihr bestes weinrotes Gewand gekleidet, ihrem Sohn eine rote Wollmütze auf den Kopf setzte.
"Also ihr zwei passt mir schön auf ihn auf, ist das klar?" wiederholte sie zum x-ten mal, und sah dabei John und ihren Bruder besorgt an. Malcolm Marley war einunddreißig und so groß wie John, hatte jedoch breitere Schultern und war muskulöser gebaut. Seine Haarfarbe glich der seiner Schwester, sein Gesicht war rasiert und auf eine spitzbübische Art attraktiv.
"Aber sicher", sagte John.
Faith sah gar nicht so sicher aus. "Ich hoffe nur, ich habe an alles gedacht. Habt ihr die Würstchen, den Speck, die Tomatensoße?"
"Sind alle im Picknickkorb", sagte Malcolm mit einem Funkeln in seinen braunen Augen.
"Und das Zelt?"
"Draußen bei den Besen", versicherte John.
"Und den magischen Fleckenlöser?"
"Im Rucksack."
"Und die zweite Hose für Remus?"
"Im Picknickkorb, zusammen mit den Würstchen, dem Speck und der Soße", scherzte Malcolm.
Faith runzelte die Stirn.
"Keine Sorge", beruhigte John sie. "Wir kommen schon klar. Wir sind ja auch nicht lange weg. Es ist doch nur für eine Nacht ... und du kommst noch zu spät, wenn du dich nicht beeilst."
Faith sah unsicher vom einen zum anderen und zuckte die Schultern. "Na schön, ich schätze, ihr habt wohl Recht."
Sie gab Remus einen Kuss auf die Wange. "Sei ein braver Junge, ja?"
"Ja, Mami."
Malcolm stand von seinem Stuhl auf und umarmte seine Schwester herzlich. "Keine Bange. Wir passen schon auf ihn auf."
Faith verzog die Stirn noch mehr.
"Bis bald, Schatz", sagte John und küsste sie sanft.
Da lächelte sie und drehte sich endlich ab. Sie nahm eine Handvoll Flohpulver aus dem Topf am Kaminsims, trat in den Kamin hinein, seufzte tief, warf das Pulver zu Boden und sagte: "Winkelgasse". Im nächsten Augenblick war sie verschwunden.
John verspürte ein vertrautes Gefühl der Traurigkeit, als er sie gehen sah. Aber dann sah er auf seinen kleinen Sohn und seine Laune verbesserte sich. Dieses Wochenende würden sie Spaß haben. Sie würden nur zu dritt sein - ein reiner Männerausflug.
---------------------------------------------------------------------------- -----------------------
Nachdem sie mehrere Stunden auf dem Besen über das Moor geschwebt waren, beschlossen John und Malcolm, dass es zu dunkel sei, um weiterzumachen. Sie schlugen mit einem leichten Schwenk des Zauberstabs ihr Zelt auf und machten auf dieselbe Weise ein Feuer an, um die Würstchen zu braten und sich zu wärmen. Der volle Mond leuchtete und das Moor war für die späte Stunde erstaunlich hell. Erst nach elf lag der kleine Remus endlich bequem im Zelt und die beiden Erwachsenen setzten sich wieder nach draußen. John ließ sich auf einem Baumstamm nieder und öffnete eine Flasche Butterbier.
"Schläft der kleine Racker endlich?" fragte Malcolm.
"Ja. Der Ausflug hat ihn ziemlich aufgeregt und ich glaube, er hat noch etwas Angst wegen des Traums, den er neulich hatte."
"Welcher Traum?" Malcolm sah von seinem Teller auf, auf dem nur noch die Reste seines achten Würstchens und sechsten Speckstreifens lagen.
"Er ist letztens weinend wach geworden und meinte, er hätte von einem Monster geträumt, das ihn holen wollte." John grinste. "Wenigstens hat deine Schwester sein Gebrabbel so interpretiert."
Malcolm lachte und nahm einen großen Schluck Butterbier. Dann hätte er die Flasche und seinen Teller beinahe fallen gelassen. Ein Heulen ging durch die Nacht. John sprang von seinem Sitz hoch, sein Gesicht so blass wie der Mond über ihnen.
"Was in aller Welt war das?" rief Malcolm.
"Pssst!" zischte John.
Sie warteten lautlos auf weitere Geräusche. Kurze Zeit später hörten sie die grauenhaften Töne einer wilden Bestie, eines Monstrums, und eines anderen Wesens, sehr wahrscheinlich eines hilflosen Moorponys. Dem Geräusch nach zu urteilen hatte die Bestie das Pony angefallen. Sie hörten ein letztes Wiehern, dann wurde es wieder still ... und dann folgte ein weiteres, einsames Heulen.
"Schnell", drängte John. "Pack die Taschen. Nur die wichtigen Sachen. Wir lassen alles zurück, was wir nicht brauchen."
Malcolm schien aus seiner Benommenheit zu erwachen und eilte, um John beim Packen ihrer Sachen zu helfen. Dabei war es ihnen unwichtig, was sie für eine Unordnung hinterließen. John kippte das Teewasser über das Feuer, um die Flammen zu löschen, und hoffte, dass das Monster sie dadurch nicht so leicht finden würde. Er wollte eben die letzte Tasche aufheben und vorne an seinem Besenstiel anbinden als sie hörten, wie eine Plane zerrissen wurde. Malcolm blieb wie festgefroren stehen.
"Remus!" schrie John.
Er rannte ins Zelt, Malcolm hinterher, und fand dort ein riesiges, wolfsähnliches Wesen, das sich über seinen Sohn beugte. Es hob den struppigen Kopf, als sie eintraten, und knurrte wütend.
"Oh mein Gott! Das ist ein Werwolf!" schrie Malcolm.
John gab keine Antwort. Er starrte auf die reglose Gestalt seines Sohnes, der vor den Klauen des Monstrums am Boden lag. Ob er noch lebte oder nicht war nicht zu erkennen. Aber seine linke Seite war klebrig-rot und eine Blutlache tränkte die Erde neben ihm. Ungeachtet der Gefahr stürzte er nach vorn und schnappte sich den Jungen, noch bevor der Werwolf wirklich wusste, was geschehen war, während Malcolm seinen Zauberstab zückte und mit einem Spruch Funken auf die Bestie schleuderte. Sie knurrte tief, und John konnte sie hinter ihm hören, als er durch die Öffnung nach draußen rannte. Er legte Remus neben der Feuerstelle ab und verfluchte seinen Verstand, dass er das Feuer so übereilt gelöscht hatte. Er hasste es, seinen Sohn so daliegen zu lassen, aber die unaufhörlichen Schreie und das Knurren, das Zähnefletschen und das Reißen, das er aus dem Zelt hörte, veranlassten ihn, seinen Zauberstab hervorzuholen und wieder hinein zu rennen. Malcolm hatte sich gegen die Plane gedrückte und hielt den Zauberstab verzweifelt in der Hand gekrallt. Ohne zu zögern hob John den eigenen Stab und zeigte damit direkt auf den Rücken des Werwolfs.
"Incendio!"
Am ganzen Rücken der Kreatur loderten Flammen, und sie wandte und drehte sich und versuchte, sie abzuschütteln. Dabei jaulte sie und steckte die Laken und die Plane in Brand. Malcolm und John sahen argwöhnisch zu. Endlich sprang der noch immer heulende Werwolf durch das Loch im Zeltrücken davon und verschwand in der Nacht. Die beiden Männer flüchteten aus dem brennenden Zelt und kehrten dorthin zurück, wo John Remus abgelegt hatte. Aber in dem Moment, als sie sich ihm näherten, begann der kleine Junge, der immer noch bewusstlos am Boden lag, sich vor ihren Augen zu verwandeln. Sein Gesicht wuchs in die Länge. Fell sprießte auf seinen blutbefleckten Händen. Er war gebissen wurden ... und nur Augenblicke später lag dort eine kleinere Version des Monsters, das sie eben verjagt hatten. John näherte sich ihm langsam und fiel auf die Knie.
"Nein", flüsterte er und streckte seine zitterte Hand über der reglosen Gestalt aus. Er wollte ihn hochheben, aber Malcolm packte ihn an den Schultern, zog ihn wieder auf die Beine und zerrte ihn ein Stück weit weg.
"Nicht, John. Rühr ihn nicht an. Wenn er aufwacht, greift er dich an."
John schüttelte verzweifelt den Kopf.
"Nein. Nein, das kann nicht wahr sein. Das kann nicht passiert sein."
Er kämpfte gegen Malcolm an, der John mit aller Kraft zurückhalten musste, um ihn nicht an Remus' Seite zu lassen.
"Remus!" rief John und riss sich endlich los. Er blieb ein paar Schritte von seinem Sohn entfernt stehen und starrte erst auf ihn, dann auf den Mond. "Nein!" schrie er. "Neeeiiiin!" ---------------------------------------------------------------------------- -----------------------
3 - Vater und Sohn
---------------------------------------------------------------------------- -----------------------
Der achtjährige Remus Lupin saß mit dem Rücken gegen den Baumstamm und lauschte dem langsamen Plätschern eines kleinen Waldbaches und dem Zwitschern der Vögel in den Ästen weit über ihm. Die untergehende Sonne drang durch die Blätter und warf ein grünliches Licht auf den hellbraunen Kopf des Jungen und die dicken Seiten des Buches, das er in den Händen hielt. Er hielt inne, um sich eine hartnäckige Haarsträhne aus dem Auge zu wischen und umzublättern. Irgendwo tiefer im Wald hämmerte ab und zu ein Specht.
Remus verzog die Stirn. Dieses Buch war schwer zu lesen, selbst für einen hungrigen Bücherwurm wie ihn. Nicht, dass er einer dieser blassen Stubenhocker gewesen wäre, die den ganzen Tag lang im Haus saßen und langweilige Wälzer lasen. Nein, Remus wollte genauso gern im Freien sein und auf Bäume klettern, in Bächen Staudämme bauen und Baumhäuser entwerfen, wie alle anderen gesunden Jungen in seinem Alter, und manchmal tat er das auch mit seiner Mutter. Aber das war nicht dasselbe, als wenn es einen anderen Jungen in seinem Alter gäbe, mit dem er spielen könnte. Die einzigen Male, die er dem auch nur nahe kam, waren, wenn Onkel Malcolm zu Besuch kam - seine Mutter sagte immer, er würde sich wie ein ausgewachsenes Kind aufführen. Aber Remus war das egal. Er konnte Onkel Malcolm gut leiden, manchmal wünschte er sich sogar, dass sein Vater etwas mehr wie er wäre. Aber Dad war immer so verschlossen und still. Also ging Remus allein nach draußen und wanderte durch die Wälder, bis er diesen Ort erreichte, der zu Fuß etwa fünfzehn Minuten vom Haus entfernt lag. Hier ließ er sich dann mit einem Buch nieder, wobei er sich entweder gegen den Baum lehnte oder hinauf kletterte, dorthin wo zwei Äste eine Gabelung formten, in der man sicher sitzen konnte, ohne aus dem Baum zu fallen, selbst wenn man zwischendrin ein Nickerchen machte.
Meist las er Abenteuer, aber heute hatte Remus etwas vom Bücherregal seines Vaters geschmuggelt, ein schweres altes Buch mit vielen, vielen dicken Pergamentseiten und dem Titel 'Eine Studie über Werwölfe'. Sein Vater hatte viele Bücher mit solchen Titeln. Oft saß er stundenlang da und las sie, bis Remus' Mutter ihm sanfte Vorwürfe machte und ihn daran erinnerte, dass Remus jemanden zum Spielen brauchte. Dann küsste er sie und legte sein Buch widerstrebend beiseite. Er suchte Remus auf und sie würden etwas spielen - etwas ruhiges. Mit Dad konnte man nur selten lachen. Auch lächelte er nur selten, und wenn, dann lag es daran, dass John Lupin in einem seiner vielen Bücher oder in Zeitschriften wie dem 'Medizinisch-magischen Monatsmagazin' gelesen oder im Radio gehört hatte, dass eine mögliche Heilung für die Beschwerden seines jungen Sohns entdeckt worden sei. Im Laufe der Jahre hatten sie es mit vielen solchen Wunderheilungen versucht, aber stets ohne Erfolg. Doch John Lupin - und auch Faith, die ihre Sorge jedoch besser verbergen konnte - hatte sich immer noch nicht damit abgefunden, dass Remus bis ans Ende seiner Tage ein Werwolf bleiben würde. Als sie von der letzten wirkungslosen Behandlung zurückgekehrt waren, die sie den Großteil ihrer Ersparnisse und ihrer Nerven gekostet hatte, hatte Faith ihrem Sohn zu erklären versucht, dass die Besessenheit seines Vaters, ein Heilmittel für ihn zu finden, daher rührte, dass er sich an Remus' Situation schuldig fühlte. Das hatte Remus nicht verstanden. Wie konnte denn sein Vater daran Schuld sein, was aus ihm geworden war? Nein. Remus verstand das schon: Sein Vater schämte sich dessen, was er war. Er gab sich schließlich immer die größte Mühe, damit niemand herausfand, was seinem Sohn widerfahren war. Ja, daran lag es. Er schämte sich. Und Remus konnte es nicht ertragen, dass sein Vater sich seinetwegen schämte.
Daher hatte Remus beschlossen, dass er geheilt werden musste, denn er war überzeugt, nur so könne er die Zuneigung seines Vaters für sich gewinnen. Und um ein Heilmittel zu finden, musste er die Bücher lesen, die sein Vater gelesen hatte, sich einen Einblick verschaffen und entgegen aller Vernunft hoffen, dass er irgendeinen Ausweg finden würde, den sein Vater übersehen hatte.
Aber das war für ein Kind in seinem Alter harte Arbeit. Außerdem war es schon spät und bald würde der Mond aufgehen. Remus fürchtete den Mond. Er schauderte, wenn er ihn nur ansah. Heute Nacht war Vollmond, und das bedeutete, dass er die inzwischen vertrauten, aber nach wie vor unerträglichen Schmerzen dulden musste. Er seufzte und blickte in den dunkelnden Himmel. Ja, bald war es soweit. Er beugte sich vor und buddelte mit den Fingern zwischen den Wurzeln des alten Baumes eine metallbeschlagene Schatulle aus. Er öffnete sie und legte das Buch vorsichtig hinein, dann machte er die Kiste zu und schloss sie ab. Am allerwenigsten wollte er aus Versehen Dads Buch zerfetzen. Als er die Kiste wieder vergraben hatte, stand Remus auf und sah sich um, genoss die Stille dieses Orts, den er so sehr liebte. Seine Mutter würde in diesem Moment wie jeden Monat das Haus abschließen. Der Wald war wohl der sicherste Ort, den es für Remus' Verwandlung geben konnte. Hier lebten sie einsam und abgeschnitten. Außer seinen Eltern wohnte hier niemand und sie wussten, welche Vorkehrungen sie treffen mussten.
Es wurde dunkel. Remus' Augen brannten. Nein, er würde nicht weinen. Er wusste, dass es wehtun würde, so wie immer, aber so war das nun mal, Tränen würden daran auch nichts ändern. Er bürstete ein Staubkorn von seiner abgeschabten Hose und wartete. Nur noch wenige Minuten ...
---------------------------------------------------------------------------- -----------------------
Der nächste Morgen war hell und warm. Faith Lupin öffnete die Haustür weit und eilte auf den Weg, denn sie erwartete, dass ihr Sohn Remus ihr aus dem Wald entgegen laufen würde, wie er es am Morgen nach seiner Verwandlung fast immer tat. Aber er kam nicht.
*Er versteckt sich bestimmt*, dachte sie lächelnd.
"Na schön, Remus!" rief sie laut. "Komm eben nicht aus deinem Versteck. Dann kann ich dein Frühstück ja der Katze geben, oder?"
Es kam keine Antwort. Wo konnte der Junge nur stecken? Leicht die Stirn runzelnd, aber noch unbesorgt, ging sie weiter in den Wald.
"Remus!" rief sie. "Komm raus, Schatz, dein Kakao wird kalt!"
Immer noch nichts. Sie zuckte die Schultern und ging wieder aufs Haus zu. Remus hatte wahrscheinlich nur wieder die Nase zu tief in ein Buch gesteckt. Er würde schon kommen, wenn sein Magen ihn rief. Kinder!
Sie trat wieder ins Haus und fand John in der Küche stehen. Er sah wegen irgendetwas verwirrt aus.
"Was ist?" fragte sie gelassen.
"Hast du Buttons heute Morgen schon gesehen?"
"Nein. Wieso, liegt er nicht wie immer unter dem Tisch?"
Sie zog den Stuhl heraus, auf dem der Kater sonst lag, aber er war nicht da. Verduzt schaute sie unter den Tisch und sah sich alle Stühle an.
"Merkwürdig", meinte sie schließlich. "Er schläft doch immer da. Malcolm hat sich letztens noch über das eine Mal beschwert, als er sich den Stuhl rangezogen und sich auf die Katze gesetzt hat. Er behauptet, die Narben wären heute noch da."
John sah sich im ganzen Haus um, aber die Katze war nirgends zu finden. Er kehrte zur Küche zurück, wo seine Frau noch immer auf den leeren Küchenstuhl starrte.
"Ich kann ihn nicht finden", sagte er. "Na ja, der wird schon kommen, wenn er Hunger hat. Was hast du denn?" fragte er, als er ihren besorgten Blick bemerkte.
"Ich konnte Remus nicht finden, John", erklärte sie.
"Was?"
"Ich habe gerufen, aber er ist nicht gekommen." Sie wandte sich ihm zu und er sah, dass ihre Augenränder rot waren. "John ... du glaubst doch nicht ..."
John starrte sie an, dachte aber gut und lange nach, bevor er weitersprach.
"Ich finde ihn", versprach er endlich.
---------------------------------------------------------------------------- -----------------------
Remus kletterte den Baumstamm herauf und versteckte sich im Laub. Er hatte gehört, wie seine Mutter ihn rief, aber er konnte nicht zu ihr gehen. Er fand die sichere Stelle bei der Astgabelung und setzte sich, zog dabei die Beine an und umschlang sie unglücklich mit beiden Armen. Sein Hemd war an mehreren Stellen gerissen und seine Augen waren rot und geschwollen. Seine Wangen waren feucht. Nervös schielte er durch das Laub auf den Boden und schloss zitternd die Augen. Da unten waren noch Blutflecken und Fellreste zu sehen, rund um seine Schatulle. Remus war traurig, trauriger als er je gewesen war, so lange er sich erinnern konnte. Mit geschlossenen Augen schluchzte er leise vor sich hin und es kam ihm vor, als wäre eine Ewigkeit vergangen. Plötzlich hörte er etwas. Jemand kam durch das Gestrüpp, jemand lief über das getrocknete Laub des letzten Herbstes.
"Remus!" rief die Stimme seines Vaters ganz aus der Nähe.
Remus kraxelte zwischen den Ästen weiter hoch und legte sich flach auf den Bauch. Aus dieser Stellung konnte er sehen, wie sein Vater unten zwischen den Bäumen durchkam und fast genau dort stehen blieb, wo ... Remus schluckte schwer. Unten sah John Lupin sich um.
"Remus!" rief er erneut. "Komm raus. Remus?"
Er brach ab, als ihm die klebrig-braunen Flecken im Gras auffielen. Er bückte sich und hob ein Stück weiches, langes braunes Fell auf. Remus, der weit oben an seinen Ast geklammert war, zitterte. Sein Vater untersuchte das Fell.
"Großer Gott", murmelte er leise. Er ging in die Hocke und untersuchte den Boden. Er fand eine Stelle, wo die Erde locker war, und kratzte sie mit der Hand beiseite, wobei er auf eine kleine Kiste mit einem Metallschloss und einem Schlüssel stieß. Auf den Deckel waren in kindlicher Handschrift die Initialen R. J. L. geritzt worden. Langsam drehte John Lupin den Schlüssel im Schloss um und begann, den Deckel anzuheben. Doch dann überlegte er es sich scheinbar anders, denn er schloss den Deckel wieder, drehte den Schlüssel erneut um und legte die Kiste in das Loch zurück. Er stand auf und sah sich jetzt noch besorgter um.
"Remus! Wenn du mich hören kannst, komm bitte raus!"
Seine Stimme bebte und er ging in der kleinen Lichtung auf und ab und überquerte dabei immer wieder den Bach. Endlich blieb er unter dem Baum stehen, in dem Remus hockte, und fuhr sich mit beiden Händen durch die Haare. Remus sah nur kurz das Gesicht seines Vaters - er sah merkwürdig erschöpft und fiebrig aus, seine Augenlider waren schwer und seine Wangen ausgehöhlt. Remus war bisher noch nie aufgefallen, wie besorgt sein Vater in letzter Zeit immer wirkte. Er schnappte unwillkürlich nach Luft. John Lupin blickte nach oben zwischen das Laub und hielt sich dabei die Hand vors Gesicht, um sich vor den Sonnenstrahlen zu schützen.
"Remus?" rief er.
"G-geh weg", stotterte das Kind.
"Remus!" rief sein Vater erleichtert. "Was machst du denn da oben? Wir haben uns Sorgen gemacht. Komm sofort da runter."
"N-nein."
"Aber ..."
"Ich kann nicht runterkommen", murmelte Remus. "D-du wirst doch bloß mit mir schimpfen."
"Red keinen Unsinn, Remus. Warum sollte ich denn schimpfen?"
Der arme Junge begann zu schluchzen und der Ast, auf dem er lag, schwankte so stark, dass John Angst bekam.
"Remus, komm da runter, sonst fällst du."
"N-nein", schluchzte Remus. "Tu ich nicht. Ich kann nicht. Ich ... Ich hab letzte Nacht was ganz Schlimmes getan und ich ... ich ..."
Er brach wieder in Tränen aus. John sah hilflos nach oben und begann dann, sich den Baum genauer anzusehen. Er fand Halt und fing an, langsam und vorsichtig hochzuklettern.
"Nein!" schrie Remus, als er bemerkte, was sein Vater vorhatte. "Nicht hochkommen, komm mir nicht zu nahe!"
Er versuchte, selbst noch weiter zwischen den Ästen nach oben zu klettern, aber er saß schon so hoch, dass es nicht weiter ging. Und dann erreichte sein Vater die Astgabelung.
"Remus", sagte er mit einer Stimme, die viel sanfter war, als der Junge sie je gehört hatte. "Lauf nicht vor mir weg. Was auch passiert ist, so schlimm kann es doch nicht sein. Komm her."
"Nein. D-du weißt nicht, was ... was letzte Nacht passiert ist."
John sah auf die Flecken am Boden. "Ich kann es mir vorstellen."
Da sah Remus seinen Vater an. Er saß da, hockte in seinem besten Arbeitsgewand zwischen den Blättern, während von allen Seiten Zweige seine Arme und Beine pieksten, und seine blauen Augen waren auf seinen Sohn gerichtet. Dort war kein Schatten der Wut zu sehen, die Remus erwartet hatte, und auch kein Vorwurf.
"D-du wirst mich dafür hassen", sagte Remus langsam. "Ich weiß es. Ich w- weiß genau, dass du dich meinetwegen schämst, und dass du ... mich hasst. Du hasst mich, weil ich ein - ein Werwolf bin."
"Ich soll mich deinetwegen schämen?" John sah zutiefst verletzt aus. "Dich hassen? Denkst du das wirklich von mir?"
Er sah weg. "Mein Gott, was hab ich nur getan?" seufzte er und hielt sich eine Hand vor das Gesicht. "Wie konnte das passieren? Wieso nur? Wieso?"
Remus hörte vor Schreck auf zu weinen und starrte seinen Vater an. Seine starken, breiten Schultern bebten, er sah verloren aus und ... und so verletzt. Ganz langsam kroch der Junge die Äste zu seinem Vater hinunter. Er streckte eine zitternde Hand aus und berührte seine Schulter.
"Daddy?" flüsterte er.
John drehte sich so plötzlich zu ihm um, dass Remus fast aus dem Baum gefallen wäre.
"Ich habe mich nie deinetwegen geschämt, Remus", sagte sein Vater mit zittriger Stimme. "Geschämt? Ganz im Gegenteil. Ich bin stolz auf dich."
Er lächelte traurig.
"Ich möchte wetten, dass nicht viele Kinder in deinem Alter das durchmachen könnten, was du seit fünf Jahren ertragen musst, und doch in ihrem Gemüt und ihrem Herzen so rein bleiben wie du."
Sein Lächeln wuchs, als er den verstörten Blick in Remus' Gesicht sah.
"Dich hassen?" setzte er fort. "Ich könnte dich niemals hassen, mein Junge. Es tut mir sehr Leid, wenn ich dir den Eindruck vermittelt habe. Ich weiß, ich habe mich dir gegenüber nicht richtig verhalten. Vielleicht war ich einfach zu besessen davon, ein Heilmittel für dich zu finden, um das zu tun, was wirklich wichtig ist - um dir zu zeigen, dass ich dich lieb habe, mein Sohn. Egal was passiert und was du bist."
Remus traten die Tränen wieder in die Augen, und plötzlich fand er sich in den Armen seines Vaters wieder, der ihn so herzlich umarmte, wie er es seit fünf Jahren nicht mehr erlebt hatte.
"Ich hab dich auch lieb, Daddy", flüsterte er. "Es tut mir Leid, dass ich dich traurig gemacht hab."
"Ist schon gut", lachte John, während er seinen Rücken streichelte. Remus lehnte sich zurück und sah, dass sich das müde Gesicht seines Vaters verändert hatte. Plötzlich wirkte er irgendwie viel jünger und freundlicher.
"Komm", meinte sein Vater schließlich "Wir müssen zu deiner Mutter zurück, sie macht sich sicher Sorgen um dich." ---------------------------------------------------------------------------- -----------------------
4 - Der junge Schüler
---------------------------------------------------------------------------- -----------------------
Remus Lupin betrachtete sich im großen Spiegel, der im Schlafzimmer seiner Eltern hing. Wie die meisten Sachen, die sie heutzutage besaßen, hatte auch der Spiegel ein paar Sprünge und sah ziemlich alt aus. Das bisschen Geld, das sie mal gehabt hatten, war weg. Seine Eltern hatten es für nutzlose Versuche ausgegeben, ihren Sohn zu heilen. Remus strich das neue schwarze Gewand glatt, das seine Mutter ihm von Hand aus dem Stoff einer alten Robe seines Vaters genäht hatte, nach Muggel-Art, so wie sie es als Mädchen gelernt hatte. Er fuhr sich mit der Hand durch den Pony und versuchte, sich eine Strähne seines hellbraunen Haars aus dem Gesicht zu streichen, die ihm einfach immer wieder in die Augen fiel, was er auch dagegen tat. Das Sonnenlicht, das durch das Fenster hineinströmte, wärmte sein Gesicht und ein silbernes Glitzern funkelte in seinem Haar. Das erste graue Haar hatte er vor etwa einem Jahr bemerkt, da war er zehn gewesen. Er hatte es schnell herausgezupft, bevor es jemand bemerkte. Aber es war ein neues nachgewachsen, und wieder eins, und mit elf hatte er etliche silberne Strähnen. Seine Mutter schien zuerst besorgt, aber sein Vater hatte lächelnd gesagt, sie würden ihm stehen, und seine Mutter hatte ihm schnell zugestimmt. Tatsächlich schien sie sich inzwischen daran gewöhnt zu haben. Remus war froh darüber. Sie störten ihn nicht und es tat weh, wenn er sie rauszupfte. Er hatte sie mal mit einem Zauber abgeschnitten, aber das hielt nicht lange, sie wuchsen immer nach. Trotzdem war er dankbar, dass ihm seit einiger Zeit keine neuen Silbersträhnen mehr wuchsen. Er wollte mit zwölf nicht schon komplett ergraut sein.
Er sah in sein Spiegelbild und seufzte.
"Schick siehst du heute aus, Schatz", sagte der Spiegel.
Remus zog die Stirn zusammen. Er fand, er sehe mager und kränklich aus, obwohl seine Mutter ihm oft versicherte, dass es auf der ganzen weiten Welt keinen besser aussehenden Jungen gebe. Ehrlich gesagt glaubte Remus, dass seine Mutter seine Fehler nur aus Zuneigung übersah - und er hatte sie im Verdacht, den Spiegel verhext zu haben, damit er ihn auf diese Weise ermutigen sollte. Allerdings sah er wirklich nicht immer so schlecht aus, aber vor zwei Nächten hatte er sehr unter dem Vollmond gelitten.
Er ging aus dem Schlafzimmer und langsam die etwas wackelige alte Treppe hinunter. Dabei fragte er sich insgeheim, warum seine Eltern darauf bestanden hatten, dass er heute sein bestes Gewand tragen und seine besten Manieren zeigen und im Haus bleiben sollte. Letzteres störte ihn besonders. Er wollte heute zu seinem Lieblingsplatz. Er hatte ein neues - wenn auch gebrauchtes - Buch über antike Runen in seiner 'Schatztruhe' und wollte es schnell lesen.
Remus war die Treppe erst halb herunter gekommen, als jemand an der Haustür klopfte. Er hörte das Knistern der Zeitung, als sein Vater sie beiseite legte, und die leisen Schritte seiner Mutter im Flur, als sie ging, um die Tür zu öffnen. Von der Treppe aus sah Remus das grelle Sonnenlicht hereinströmen, stand aber selbst im Schatten versteckt und starrte verwundert den Mann an, der jetzt ihr kleines Haus betrat.
Er war hochgewachsen und dürr. Von oben bis unten war er mit elegantem, tief-purpurnem Stoff bekleidet und auf dem Kopf trug er einen großen Hut, so dass er sich tief beugen musste, um durch die Tür zu passen. Seine Haare und der Bart waren lang und weiß, aber am meisten war Remus von seinen Augen fasziniert. Sie waren klein und blau und funkelten hinter einer Brille, deren Gläser wie zwei Halbmonde geformt waren. Diese Augen waren klar und freundlich, aber der Junge spürte sofort, dass sie auch sehr scharf waren, dass sie einen irgendwie 'durchdringen' konnten. Er hatte das merkwürdige Gefühl, dass diese Augen ihn sogar jetzt irgendwie durchschauten, obwohl er immer noch halb hinter der Wand versteckt war.
Das war also Professor Albus Dumbledore, der Direktor der Zauberschule Hogwarts. Oh ja, Remus erkannte ihn sofort. Sein Vater brachte ihm oft Schokofrösche mit, obwohl Remus sich nicht überwinden konnte, die zappelnde, sich windende Schokolade in den Mund zu stecken und hineinzubeißen. Aber er mochte die Karten. In seiner Schatztruhe lagen mindestens vier Dumbledores, aber keiner von ihnen war wirklich so wie der echte. Er fürchtete sich fast davor, direkt unter diese Augen zu treten, und doch zogen sie ihn merkwürdig an, als ob er sich danach sehnte, ihrem Besitzer seine tiefsten Geheimnisse anzuvertrauen.
"Es ist sehr lieb von Ihnen, dass Sie vorbeikommen, Professor", sagte Faith Lupin gerade.
"Keine Ursache", antwortete der Professor mit weicher, gütiger Stimme. Er schnupperte kurz. "Deine Kochkünste sind immer einen Besuch wert, Faith."
Remus' Mutter lachte. "Danke, Sir. Aber ich fürchte, dieses Lob verdienen eher meine fantastischen Töpfe als meine bescheidenen Kochkünste."
Sie führte Professor Dumbledore ins Wohnzimmer und Remus hörte, wie sich die Stimme seines Vaters mit den anderen beiden vermengte. Er kroch die Treppe herunter und machte dabei einen großen Schritt, um nicht auf die knarrende Stufe zu treten, dann schlich er sich zur halb geschlossenen Tür. Seine Eltern redeten mit Professor Dumbledore. Es schien um ganz alltägliche Dinge zu gehen, um die kürzlich erreichten Leistungen des Ministeriums in Sachen internationaler magischer Kooperation, das letzte Spiel der Wimbourner Wespen und die unerhörte neue Angewohnheit junger Hexen, Roben in Knielänge zu tragen.
"Also", sagte Professor Dumbledore endlich, als die Unterhaltung langsam abbrach. "Wie geht es eurem Sohn?"
"Oh, es geht ihm gut", sagte Faith. "Möchten Sie ihn kennen lernen?"
"Darum bin ich hier", antwortete Dumbledore ganz einfach.
Remus spürte, wie ihm warmes Blut ins Gesicht stieg. Gleichzeitig hörte er das vertraute Knarren, das bedeutete, dass seine Mutter sich gerade von Dads Sessellehne erhoben hatte.
"Ich rufe ihn", sagte sie.
Es war soweit. Remus musste sich beeilen, sonst würde er erwischt werden. Auf Zehenspitzen schlich er sich durch den Flur zurück, ging dann mit normalen Schritten wieder zur Tür und klopfte an.
"Ah, da ist er ja", sagte sein Vater, der überrascht schien, dass der Kopf seines Sohnes genau im richtigen Moment um die Ecke guckte.
Remus trat nervös ein und fühlte sofort die würdigen blauen Augen, die ihn über den Rand von Professor Dumbledores Halbmondbrille studierten.
"Remus, Schatz."
Seine Mutter kam zu ihm herüber, legte ihm die Hand auf die Schulter und führte ihn vor den Direktor.
"Das ist Professor Dumbledore, Remus."
"Ich weiß", platzte er heraus. "Ehm. Ich meine, es ist mir eine Ehre, Sir."
Der alte Zauberer schien seine Begutachtung zu seiner Zufriedenheit abgeschlossen zu haben, denn er lächelte Remus an.
"Also, junger Mann. Ich warte schon lange darauf, deine Bekanntschaft zu machen, weißt du."
Remus war verduzt, was man ihm wohl auch anmerkte, denn Dumbledore lachte leise.
"Aber ja doch, ich habe schon viel über dich gehört, besonders von deinem Vater. Er ist wirklich sehr stolz auf dich."
Aus dem Augenwinkel glaubte Remus zu sehen, wie sein Vater bei diesen Worten leicht errötete. Dumbledore fuhr fort.
"Ich habe gehört, du studierst schon fleißig, Remus Lupin. Deine Eltern sagen, du lässt dich kaum von deinen Büchern trennen. Und du liest nicht bloß Kinderbücher, sondern häufig sogar Schulliteratur."
"Ich habe einige Schulbücher gelesen, ja, Sir", erwiderte Remus. "Aber nicht alle. Ich hab es mal mit einem Buch über Tränke versucht, aber das war mir zu ..." Er brach verlegen ab.
"Ein wenig langweilig, nehme ich an", riet Dumbledore. Dann lächelte er wieder. "Das muss dir nicht peinlich sein, Remus. Wir können uns nicht alle für dasselbe interessieren. Welche Themen magst du lieber?"
"Ich mag antike Runen und Magiegeschichte, und natürlich Verteidigung gegen die Dunklen Künste. Ich hab auch mal versucht, fortgeschrittene Bücher zu lesen, aber die sind manchmal schwer nachzuvollziehen, wenn man die Zauber nicht gleichzeitig anwenden kann."
Albus Dumbledore nickte zufrieden und Remus stellte fest, dass er jetzt viel weniger nervös vor dem Professor stand. So lange er sich an ein vertrautes Gesprächsthema halten konnte - seine Bücher - konnte er sich und seine Eltern nicht allzu sehr blamieren.
"Hast du schon überlegt, was du im nächsten Jahr tun wirst?" fragte ihn Professor Dumbledore.
"Na ja, ehm ... Ich habe seit dem letzten Jahr einen Zauberstab und habe schon einige einfache Zauber damit geübt. Mum sagt, sie wird mir noch mehr beibringen - Dinge, die ich auf einer Zauberschule lernen würde. Natürlich werde ich nie so gut werden wie Ihre Schüler in Hogwarts, Sir."
"Ah, du hast also von Hogwarts gehört, ja? Was denkst du darüber?"
"Ich halte es für die beste Zauberschule der Welt, Professor", sagte Remus enthusiastisch. "Ich meine, meine Eltern waren beide da und wenn ich nicht - na ja, dann hätte ich auch dorthin gewollt, aber das kann ich eben nicht. Ich habe aber einige der Bücher gelesen, die sie dort benutzen, und die Geschichte von Hogwarts."
"Tatsächlich?" Dumbledore lachte wieder. "Dann weißt du ja schon mehr, als viele Hogwarts-Schüler im siebten Jahr je gelernt haben, nehme ich an. Nun gut. Danke, Remus, dass du mir diesen kleinen Einblick in deine Gedanken gewährt hast. Wir werden uns vielleicht noch einmal kurz unterhalten - später."
Überrascht nahm Remus diese Worte als Abschied hin und machte sich auf zu seiner Truhe und dem Buch, das er hineingelegt hatte.
---------------------------------------------------------------------------- -----------------------
Die Sonne stand hoch oben und Remus war in sein Buch vertieft, die Welt um ihn herum hatte er vergessen. Seine beste Robe war voller Blütenstaub und trockener Erde, seine Stirn kraus. Er drehte eine dicke Buchseite um und blätterte dann zurück. Er drehte das Buch auf den Kopf und gab einen leisen Ausruf von sich. So war das also. Die Verbindung war ihm bisher entgangen, aber jetzt war alles klar. Es war ein gutes Buch, das er da hatte. Darin wurde alles auf faszinierende Weise erklärt. Es war sogar so faszinierend, dass er nicht einmal bemerkte, wie sich ihm jemand näherte, bis ein Schatten auf die Seite fiel. Er blickte erschrocken hoch und sah Professor Dumbledore, der auf ihn herabschaute.
"Ah", sagte er. "Hier versteckst du dich also mit deinen Büchern."
"Ich lese gern hier", antwortete Remus und wollte aufstehen.
Dumbledore winkte ab und setzte sich neben ihn auf einen Baumstumpf.
"Ich habe mich mit deinen Eltern über deine Zukunft unterhalten, Remus."
"Ach so?" erwiderte Remus höflich und machte das Buch zu.
"Ja. Offenbar glauben sie, dass es für dich sehr schwer ist, dich damit abfinden zu müssen, dass du vermutlich nie auf eine richtige Schule gehen und mehr als einfache Zaubersprüche lernen wirst. Stimmt das?"
Remus dachte kurz nach. "Kann sein. Ich würde schon gerne viel lernen. Aber ich weiß, dass es nicht sicher wäre, wenn ich unter den anderen Schülern leben würde. Es wäre zu gefährlich für sie. Es ist schade, aber ich muss das Beste daraus machen."
"Du bist ungewöhnlich ruhig für einen Jungen in deiner Lage. Die meisten wären an deiner Stelle bitter, verärgert. Aber du hast ja deine Eltern, die dich sehr lieben."
"Ich weiß", sagte Remus ernst. "Ich habe sie auch lieb."
Dumbledore lächelte. "Du scheinst mir ein sehr geduldiger, intelligenter junger Mann zu sein, Remus. Es wäre eine Schande, ein solches Talent zu verschwenden. Wie gesagt: Ich habe mit deinen Eltern gesprochen, und wir sind uns einig geworden. Ich habe versprochen, alle Vorkehrungen zu treffen. Wir werden ein Gebäude in Hogsmeade errichten. Dort wirst du jeden Monat die Vollmondnacht verbringen. Ich habe unserer Lehrerin für Verwandlung, Professor McGonagall, die dieses Jahr meine Stellvertreterin werden soll, bereits eine Eule geschickt, damit sie sofort mit der Vorbereitung beginnt. Wir werden einen Tunnel graben, der aus dem Schulgelände hinaus in das Haus führen wird. Unsere Herbologielehrerin Professor Sprout hat erst kürzlich einen sehr seltenen Setzling bekommen können: eine peitschende Weide. Diese werden wir über dem Tunneleingang pflanzen, so dass niemand aus Versehen über dich stolpert, während du verwandelt bist. Wenn wir diese Vorsichtsmaßnahmen treffen, dürfte deine Gegenwart in Hogwarts keine Gefahr darstellen."
Remus lachte trocken. "Sie machen Witze."
"Nein, es ist mein Ernst", entgegnete Dumbledore.
Remus spürte, wie sein Kiefer aufklappte. "H-Hogwarts?" stammelte er. "Ich? Ich soll nach Hogwarts? Aber ..."
"Sagt dir unser Plan zu?"
"Ob er mir zusagt?"
Remus sprang auf, halb lachend und halb weinend. "Ob er mir zusagt? Ich finde ihn ... Er ist einfach ..."
Ihm fehlten die Worte. Er blickte den Direktor an, der ihn nun von seinem Baumstumpf aus anlächelte.
"Danke, Professor", sagte Remus mit bebender Stimme. "Ich werde Sie nicht enttäuschen, Sir." ---------------------------------------------------------------------------- -----------------------
5 - Die Fahrt nach Hogwarts
---------------------------------------------------------------------------- -----------------------
Remus Lupin wünschte sich, dass sich sein Magen endlich beruhigen würde. Er fühlte sich an, als ob darin Hundert Schmetterlinge ein wildes Fest feierten. Außerdem kam ihm seine Kehle seltsam verschnürt vor. Er durfte nach Hogwarts! Er wusste nicht, ob er vor Begeisterung singen oder vor Nervosität zusammenbrechen sollte. Seine Mutter stand neben ihm, und auch sie wirkte äußerst unruhig.
"Oh je. Ich hoffe, ich habe dir alles eingepackt, was du brauchst. Wenn dir noch irgendwas fehlen sollte, während du dort bist, dann musst du es mir schreiben, ja? Versprichst du das?"
"Ja, Mum."
In diesem Augenblick kam sein Vater zu ihnen zurück, der mit einem Schaffner gesprochen hatte. Er lächelte seiner Frau und seinem Sohn zu.
"Sieh mal, Remus", sagte er. "Da kommt sie."
Remus blickte nervös auf die große rote Dampflok, die in den Bahnhof ratterte. Der Hogwarts Express. Er schluckte kräftig. Der Zug war beeindruckend, noch viel besser, als er ihn sich vorgestellt hatte. Er konnte es noch immer nicht wirklich glauben. Es war der 31. August und er, der elfjährige Remus J. Lupin, würde heute nach Hogwarts fahren. All die anderen Schüler würden erst morgen eintreffen, wie üblich. Aber da morgen Nacht Vollmond sein würde, hatten sie abgemacht, dass er einen Tag früher anreisen sollte. Er hörte, wie seine Mutter seufzte.
Sie lächelte zu ihm runter, aber ihre Augen sahen feucht aus.
"Tja, Remus. Es ist soweit."
Remus nickte gezwungen und schaute sie an. Wie oft hatte er davon geträumt, nach Hogwarts zu fahren, sich danach gesehnt, von Zuhause fort zu gehen und andere Menschen, Jungen in seinem Alter, kennen zu lernen ... Aber jetzt, wo es soweit war, und er seine Mutter und seinen Vater sah, wie sie dort standen, wie sie sich halb für ihn freuten und halb traurig waren, dass er sie verließ, füllte sich sein Herz mit einem Mal mit Angst. Seine Mutter gab ihm einen Kuss auf die Wange, sein Vater nahm seine Truhe und seinen Kessel und trug sie zum Zug. Remus folgte ihm langsam, doch als er in den Zug steigen wollte, blieb er auf einmal stehen. Er drehte sich um, und rannte hastig seiner Mutter in die Arme, während Tränen ihm über das Gesicht strömten.
"Ich kann das nicht, Mum", weinte er. "Ich kann doch nicht nach Hogwarts. Ich kann dich nicht verlassen."
Seine Mutter nahm ihn kurz in den Arm, richtete ihn dann wieder auf und strich ihm die Haare aus den Augen.
"Doch, das kannst du, Schatz. Du wirst in Hogwarts viele neue Freunde finden und so viel lernen, dass du dir nachher wünschst, du hättest niemals ein Buch zu Gesicht bekommen. Du wirst schon klarkommen."
"Aber - du wirst mir fehlen", sagte er.
Faith lächelte. Sie hatte immer gewusst, dass dieser Moment für Remus, der noch nie in seinem Leben von seinen Eltern fort gewesen war, besonders schwer sein würde.
"Ich weiß, Liebes", sagte sie. "Ich werde dich auch vermissen. Aber so weit weg sind die Ferien nun auch nicht, und dann kommst du uns ja besuchen." Sie seufzte. "Also lauf jetzt, und amüsier dich gut."
Sie drehte Remus um, und dieses Mal stieg er in den Zug und folgte seinem Vater in ein Abteil. John Lupin hob die Truhe in das Gepäckfach.
"So", sagte er. "Hier solltest du's bequem haben."
"Danke, Dad", antwortete Remus unsicher.
John lächelte. "Ich hätte nie gedacht, dass ich es erlebe, dass mein kleiner Junge ganz allein auszieht, um der erste Werwolf in Hogwarts zu sein."
Er kramte nach etwas in seiner Tasche.
"Ich habe hier etwas für dich. Es ist nichts Großes, aber ..."
Remus riss das Papier eifrig auseinander. Darin lag ein altes, aber sauber blitzendes Medaillon. Er öffnete den Verschluss und entdeckte Bilder von seinen Eltern, die ihn anlächelten.
"Ich weiß, das ist eigentlich nichts für einen Jungen. Aber deine Mutter und ich dachten, es würde dir vielleicht trotzdem gefallen."
Remus umarmte seinen Vater. "Danke, Dad."
"Ich bin stolz auf dich, Remus", sagte John und strich ihm durch die Haare.
Mit einem letzten Lächeln kehrte er dann auf den Bahnsteig zurück.
Während der Hogwarts Express Gleis 9 ¾ verließ, stand Remus mit dem Medaillon in der Hand am Fenster und starrte hinaus. Sein Vater hatte seiner Mutter den Arm um die Schulter gelegt, und das letzte, was sich in Remus' Gedächtnis einprägte als der Zug schneller wurde und heiter gen Norden ratterte, war ihr liebenswertes Gesicht, das ihm mit einer Mischung aus Stolz und Trauer nachschaute.
Der Zug war noch nicht weit gekommen und Remus hatte sich eben erst überwunden, das Medaillon in seiner Tasche zu verstauen, da hörte er Schritte auf dem Gang, die so schwer waren, dass es ihm vorkam, als ginge ein Elefant im Zug spazieren. Dann öffnete sich die Tür des Abteils und dort stand ein Mann, der so groß war, dass er eigentlich gar nicht hätte existieren dürfen. Sein Gesicht war dicht mit dunklen Barthaaren bewachsen und er trug einen gewaltigen Mantel aus Maulwurfsfell. Doch über dem zotteligen Bart lächelten zwei freundliche Augen, die wie schwarze Perlen aussahen, den Jungen an.
"Hallo", sagte der Fremde. "Du musst Remus Lupin sein. Professor Dumbledore hat mir gesagt, dass du einen Tag früher nach Hogwarts kommst. Er dachte, du bist vielleicht einsam, wenn du so allein reisen musst, weil du ja auch zum ersten Mal von zu Hause weg bist. Er dachte, du kannst vielleicht ein bisschen Gesellschaft gebrauchen. Also bin ich nach London runter gekommen, um dich sicher hinzubringen. Darf ich mich zu dir setzen?"
Remus, der sich erst von seinem ersten Schrecken über die Größe des Fremden erholen musste und etwas Schwierigkeiten hatte, seine ländliche Redensart zu verstehen, murmelte höflich: "Bitte tun Sie das."
"Arr."
Irgendwie schaffte es der riesige Mann, sich in das Abteil zu quetschen. Er legte einen rosafarbenen Regenschirm ins Gepäckfach. Er setzte sich, wobei er mindestens drei Sitzplätze belegte. Das Abteil wirkte auf einmal viel zu klein. Remus machte sich ernsthafte Sorgen, dass der Zug vielleicht entgleisen könnte, sollte sich sein Begleiter zu schnell bewegen.
"Rubeus Hagrid ist mein Name", sagte dieser nun. "Ich bin Wildhüter in Hogwarts."
"Freut mich, Sie kennen zu lernen", antwortete Remus.
Eine von Hagrids tellergroßen Händen verschwand in einer riesengroßen Tasche und er holte etwa ein Dutzend Schokofrösche hervor.
"Willst du was Süßes?"
"Nein danke", lehnte Remus ab. "Die hab ich nicht so gerne. Ich esse nicht gern Dinge, die sich bewegen, als ob sie leben würden."
Hagrid schaute verduzt drein. "Aber du sammelst doch wohl sicher die Karten, oder?"
"Das schon", gab Remus zu.
"Ha, dacht ich mir's doch. Hab in meinem Leben noch keinen Jungen getroffen, der sie nicht sammelt. Ich sag dir was: Ich ess' die Frösche, und du kannst die Karten haben. Als ich so alt war wie du, da gab's sie noch nicht, und jetzt bin ich zu alt, mit dem Sammeln anzufangen. Einverstanden?"
Zum ersten Mal, seit der Zug den Bahnhof verlassen hatte, lächelte Remus. "Okay."
So ging die Fahrt weiter. Hagrid aß drei Schokofrösche auf einmal und Remus sammelte einen Stapel mit Morgana Le Fays, Merlins und vielen anderen berühmten Hexen und Zauberern.
"Ah, hier hast du einen guten", sagte Hagrid, als er den letzten Frosch auspackte. "Albus Dumbledore. Du hast ihn schon kennen gelernt, nicht?"
"Ja. Er hat uns diesen Sommer zu Hause besucht. Er war so nett, mich nach Hogwarts zu lassen, obwohl ... obwohl ich ein ..."
"Schon gut", sagte Hagrid schnell. "Du brauchst mir nichts erzählen. Ich weiß schon Bescheid. Professor Dumbledore hat's mir gesagt. Er vertraut mir."
Seine riesige Brust schwoll, sofern dies möglich war, auf ihre doppelte Größe an.
"Das ist ja das Tolle an ihm, weißt du. Er glaubt an Leute. Gibt ihnen eine Chance. Auch solchen, die andere meiden würden - Leute wie du und ich."
Remus blickte rasch auf, aber Hagrid war auf einmal wie fasziniert von einigen Bohnen in allen Geschmacksrichtungen, die er in einer weiteren Manteltasche fand, und das Thema kam nicht wieder auf. ---------------------------------------------------------------------------- -----------------------
6 - Willkommen in Hogwarts
---------------------------------------------------------------------------- -----------------------
Als Sie den Bahnhof von Hogsmeade erreichten, war es bereits dunkel draußen. Remus fragte sich gerade, wie er seine Truhe und seinen Kessel zum Schloss tragen sollte, als zwei große Hände die Truhe aus der Ablage holten und Hagrid sich den Kessel unter den Arm klemmte, als wäre er bloß eine kleine Vase.
"Die trag ich schon", sagte Hagrid freundlich. "Komm mit."
Remus folgte dem Wildhüter von Hogwarts aus dem Bahnhof und durch die Dunkelheit, bis sie an das Ufer des schwarzen Sees kamen.
"Heute fahren wir über den See zum Schloss", erklärte Hagrid. "Es ist Tradition, dass die Schüler im ersten Jahr Hogwarts auf diesem Weg erreichen, und Professor Dumbledore wollte, dass dein Empfang dort so weit es geht genauso ist, wie der, den die anderen morgen erleben werden."
Er legte die Truhe in einem Boot ab und Remus kletterte behutsam hinterher. Dann überquerten sie den stillen See. Als sie dem Schloss näher kamen, sah Remus, dass hinter vielen der Fenster Lichter funkelten. Der Mond kam hinter einer Wolke hervor, so dass das Schloss sich mit seinen zahllosen Türmen und Dächern gegen den kurz erhellten Nachthimmel abhob.
"Und, wie gefällt es dir?" fragte Hagrid.
"Es ist wunderschön", erwiderte Remus völlig überwältigt.
Falls das möglich war, war er vom Anblick der gewaltigen Treppe sogar noch mehr beeindruckt, als sie sie endlich errichten, und der große Speisesaal - der bis auf vier lange Tische, über denen Kerzen schwebten, und den Lehrertisch ganz hinten leer war - raubte ihm den Atem. Ewig starrte er den verzauberten Himmel an, der noch viel prächtiger war, als er in den Büchern über Hogwarts beschrieben wurde.
Hagrid ließ die Truhe an der Tür stehen und führte Remus den ganzen Saal entlang bis zum Lehrertisch, wo zwei Personen sie erwarteten. Dort stand Professor Dumbledore, heute in himmelblau gekleidet. Neben ihm stand eine Hexe mittleren Alters mit strengem Gesicht, einem Gewand im Schottenmuster, sehr dünnen Lippen, streng zu einem Dutt gebürsteten Haaren und durchdringenden Augen, die ihn durch ihre eckige Brille musterten.
"Ah, Hagrid. Wie ich sehe, haben Sie uns unseren neuen Schüler gebracht", sagte Dumbledore.
"Ja, Sir, Professor Dumbledore. Professor McGonagall." Hagrid neigte den Kopf leicht vor der streng aussehenden Hexe.
"Ausgezeichnet", setzte Dumbledore fort. "Hat Hagrid sich gut um dich gekümmert, Remus?"
"Ja, Sir. Danke."
Remus spürte, wie unter Professor McGongalls scharfen Augen alle Freude und der Mut, den er während der Zugfahrt wiedergefunden hatte, wieder aus ihm wich.
"Nun gut", redete der Direktor weiter. "Du bist sicher müde und willst dich heute bestimmt früh schlafen legen, denn morgen Nacht wirst du ja nicht viel Ruhe finden. Aber erst müssen wir herausfinden, wo wir dich unterbringen."
Remus sah etwas besorgt aus. Dumbledore lächelte mild.
"Keine Sorge, wir werden schon ein Plätzchen für dich finden. Die Frage ist nur, wo genau. Minerva, den Hut, bitte."
Professor McGonagall trat beiseite, so dass Remus einen hölzernen Hocker und einen schäbigen alten Hut sehen konnte. Diesen hob sie hoch und wies Remus zum Hocker. Er setzte sich, und sofort setzte sie ihm den großen Hut auf den Kopf, so dass er ihm die Sicht versperrte.
*Was ist denn das?* fragte der Hut auf seinem Kopf. *Ein Schüler, heute schon? Ich dachte, ihr kommt erst morgen, ich habe mein Lied extra vorbereitet. Ah ...*
Er schien über etwas nachzudenken, was er in Remus' Kopf entdeckt hatte.
*Ein Werwolf also? Deshalb kommst du eine Nacht zu früh. Na so was. Was mag wohl noch auf uns zukommen? Nun dann, wohin mit dir? Lass mal sehen ... Du hast einen regen Verstand, junger Remus Lupin. Du bist wissbegierig. Du willst viel lernen, aber auch andere erfreuen. Das macht die Sache etwas schwierig. Deine Intelligenz macht mich fast geneigt, dich nach Ravenclaw zu schicken, und doch ... Ein Hufflepuff dient gern anderen, aber nein, dafür bist du doch zu kühn, du gehst gern deinen eigenen Weg. Ich denke, vielleicht ... ja. Ja, jetzt sehe ich es. Es steckt viel Mut in dir. Du wirst viel ertragen, aber niemals verzagen. Ja ...*
Remus zitterte. Er fragte sich, wie der Hut so genau zu wissen glauben konnte, was in ihm steckte, wo er es doch nicht einmal selbst wusste. Und er fragte sich, was der Hut jetzt sagen würde. Es schien eine Ewigkeit zu dauern, ehe die Entscheidung kam. Doch dann, endlich, sprach der Hut laut und deutlich, so dass alle Anwesenden es hörten.
"Gryffindor!"
Professor McGonagall nahmen den Hut von Remus' Kopf. Professor Dumbledore nickte.
"Ja", sagte er. "Das hatte ich vermutet. Gut. Minerva, damit fällt er unter Ihre Obhut. Ich denke, du solltest jetzt einen Happen essen, Remus, und dich dann ausruhen. Gute Nacht."
Damit machte Dumbledore kehrt und verließ den Saal zusammen mit Hagrid. Remus war mit Professor McGonagall allein. Sie schaute zu ihm herab, und für einen kurzen Moment kam sie Remus etwas weniger streng vor.
"Nun, Lupin, dann kommen Sie mal besser mit mir", sagte sie dann mit einer Stimme, die glühende Kohlen gefrieren lassen konnte.
Er folgte ihren schnellen Schritten aus dem Saal und mehrere Treppen hinauf. Sie erreichten einen Flur, in dem das Bild einer dicken Frau in einem rosa Kleid hing. Sie sah ihnen leicht neugierig entgegen.
"Was haben wir denn da? Einen Frühaufsteher?" bemerkte sie.
"Flohhüpfen", sagte Professor McGonagall.
Remus starrte unverständig, doch die Frau im Gemälde zuckte lediglich die großzügig proportionierten Schultern.
"Wie Sie meinen, Professor", sagte sie, und schwang auf ihren Scharnieren zurück, so dass ein Loch in der Wand erschien.
Remus kletterte nach der Lehrerin hindurch und sie kamen in einem runden Turmzimmer aus, wo ein freundliches Feuer im Kamin knisterte. Ein Teller mit kaltem Schinken, Käse, mehreren Scheiben Toast und Marmelade stand mit einem Glas und einem großen Krug Milch auf einem Tisch.
"Dies ist der Gryffindor-Gemeinschaftsraum", erklärte die Lehrerin. "Ihr Schlafzimmer finden Sie hinter der Tür. Gehen Sie die Treppe hinauf bis ganz nach oben. Ihre Truhe wurde bereits dorthin gebracht. Guten Appetit, und gute Nacht."
Und damit ging sie wieder, und Remus blieb allein zurück. Doch er stellte fest, dass ihn das gar nicht so sehr störte. Das Feuer wärmte nicht nur den Körper, sondern auch sein Herz. Und morgen würden die anderen Schüler eintreffen. Er nahm in einem der großen Sessel Platz und zog sich den Tisch näher heran. Auf einmal hatte er Kohldampf, und als er endlich die Treppe hinaufstieg, um schlafen zu gehen, war auf dem Teller kein Krümel und in dem Krug kein Tropfen mehr.
---------------------------------------------------------------------------- -----------------------
1 - Prolog
---------------------------------------------------------------------------- -----------------------
Inmitten des Moors gab es einen kleinen Wald. Inmitten des Waldes lag eine Lichtung. Am Rande dieser Lichtung stand ein Haus.
Doch war dies kein Haus wie andere Häuser. Eigentlich war es nicht mal ein richtiges Haus. Es war mehr ein Häuschen - aber kein gewöhnliches Häuschen. Es sah aus, als wäre es geradewegs aus einem Märchen entsprungen: ein schief gebautes, zweistöckiges Gebilde aus weißen Steinen mit sonnengebleichten roten Fensterläden und ebenso vielen Schornsteinen, die krumm und schief oben auf dem Strohdach thronten, wie Blumentöpfen in dem halb zerfallenen Gewächshaus daneben.
Die Menschen, die hinter der kleinen roten Tür in dem überwucherten Vorgarten lebten, wo eine Tigerkatze sich faul zwischen den Rosen sonnte, waren auch nicht eben das, was die meisten als 'gewöhnlich' bezeichnen würden. Anstelle von Fahrrädern verwahrten sie in ihrem Keller struppige Besen für Sonntagsausflüge. Eine Zentralheizung gab es nicht, aber das fröhlich tanzende Feuer im Wohnzimmer wärmte im Winter das ganze Haus. Sie hatten kein Telefon, doch am Kaminsims stand ein Töpfchen mit seltsamem Pulver. Die Töpfe und Pfannen ließen sich in der Küche von der Spülbürste selbst putzen. Ein Staubwedel tanzte zwischen den vielen sonderbaren Ornamenten auf den Regalen hin und her, und in der Zimmerecke schwebte und spielte eine Geige ganz von allein.
Das lag daran, dass in diesem Haus die Lupins wohnten, und die Lupins waren alles andere als gewöhnliche Menschen. Sie waren Teil einer verbogenen, geheimnisvollen und magischen Welt. Mr. John Lupin - ein hochgewachsener, gutaussehender junger Mann mit schwarzem Haar und klaren, blauen Augen - war ein Zauberer und arbeitete für die Abteilung zur Führung und Aufsicht magischer Geschöpfe im Zaubereiministerium. Seine Frau, Faith Lupin, hatte große, braune Augen und hellbraunes Haar, das sie in diesem Moment gerade über die Schulter strich, um ihren dreijährigen Sohn Remus auf den Arm zu nehmen, der die Augen und die Haarfarbe seiner Mutter geerbt hatte.
"Sag Daddy gute Nacht", sagte Faith Lupin.
"Nacht, Daddy", sagte der kleine Remus.
"Gute Nacht, mein Sohn", sagte John und raufte dem Jungen die Haare. Dann setzte er sich in einen alten Sessel und nahm die Zeitung vom Tisch, auf deren Deckblatt ein sich bewegendes Bild von mehreren Leuten zu sehen war, die unter der Schlagzeile 'Die Wimbourner Wespen siegen wieder - Sucher Sneaker schnappt den Schnatz' auf Besenstielen umherflogen.
Seine Frau brachte den kleinen Jungen ins Bett und kam mit einem Lächeln auf den Lippen wieder.
"Ich musste ihn in unserem Bett schlafen lassen, John", erklärte sie leise und setzte sich dabei ihrem Mann gegenüber hin.
"Ach ja?" Er blickte vom Tagespropheten auf. "Es geht doch nicht etwa immer noch um letzte Nacht, oder?"
"Er hatte einen bösen Traum", verteidigte seine Frau ihren Sohn. "Er hat von einem Ungeheuer geträumt, das ihn im Dunkeln holen wollte. Ehrlich, John, ich hab ihn noch nie so ängstlich erlebt."
John lächelte in das besorgte Gesicht seiner Frau.
"Na schön, Schatz. Aber morgen Nacht schläft er nicht bei uns. Er muss endlich lernen ... Was ist?"
Er brach ab, als er das leise Grinsen seiner Frau sah.
"Ich habe mich nur gerade daran erinnert, wer ihn letzte Nacht in unser Zimmer geholt hat", antwortete sie pfiffig.
John grinste zurück und Faith seufzte.
"Ihr zwei werdet mir dieses Wochenende fehlen", sagte sie.
"Du könntest doch mitkommen."
"Du weißt, dass das nicht geht. Ich habe deiner Mutter schon vor Ewigkeiten versprochen, ihr beim Organisieren des Sommerfestes zu helfen. Ich kann jetzt nicht sagen, dass ich doch nicht mitmache, dazu ist es zu spät."
John legte die Zeitung beiseite. "Arme Faith. Du leidest sehr unter meiner Mutter, nicht wahr?" Er lächelte. "Du hast einen hohen Preis gezahlt, als du mich geheiratet hast."
Faith lächelte sanft zurück. "Für den besten Mann der Welt ist kein Preis zu hoch. Auch nicht, wenn es darum geht, einen Basar für Hexen mittleren Alters und bemitleidenswerte Berühmtheiten auszurichten, während du mit meinem Bruderherz und dem kleinen Remus auf Wanderung gehst."
John stand auf und kam zu ihr herüber, um sie auf die Stirn zu küssen.
---------------------------------------------------------------------------- -----------------------
2 - Die Moorwanderung
---------------------------------------------------------------------------- -----------------------
Und so kam es, dass Faith am Samstag, in ihr bestes weinrotes Gewand gekleidet, ihrem Sohn eine rote Wollmütze auf den Kopf setzte.
"Also ihr zwei passt mir schön auf ihn auf, ist das klar?" wiederholte sie zum x-ten mal, und sah dabei John und ihren Bruder besorgt an. Malcolm Marley war einunddreißig und so groß wie John, hatte jedoch breitere Schultern und war muskulöser gebaut. Seine Haarfarbe glich der seiner Schwester, sein Gesicht war rasiert und auf eine spitzbübische Art attraktiv.
"Aber sicher", sagte John.
Faith sah gar nicht so sicher aus. "Ich hoffe nur, ich habe an alles gedacht. Habt ihr die Würstchen, den Speck, die Tomatensoße?"
"Sind alle im Picknickkorb", sagte Malcolm mit einem Funkeln in seinen braunen Augen.
"Und das Zelt?"
"Draußen bei den Besen", versicherte John.
"Und den magischen Fleckenlöser?"
"Im Rucksack."
"Und die zweite Hose für Remus?"
"Im Picknickkorb, zusammen mit den Würstchen, dem Speck und der Soße", scherzte Malcolm.
Faith runzelte die Stirn.
"Keine Sorge", beruhigte John sie. "Wir kommen schon klar. Wir sind ja auch nicht lange weg. Es ist doch nur für eine Nacht ... und du kommst noch zu spät, wenn du dich nicht beeilst."
Faith sah unsicher vom einen zum anderen und zuckte die Schultern. "Na schön, ich schätze, ihr habt wohl Recht."
Sie gab Remus einen Kuss auf die Wange. "Sei ein braver Junge, ja?"
"Ja, Mami."
Malcolm stand von seinem Stuhl auf und umarmte seine Schwester herzlich. "Keine Bange. Wir passen schon auf ihn auf."
Faith verzog die Stirn noch mehr.
"Bis bald, Schatz", sagte John und küsste sie sanft.
Da lächelte sie und drehte sich endlich ab. Sie nahm eine Handvoll Flohpulver aus dem Topf am Kaminsims, trat in den Kamin hinein, seufzte tief, warf das Pulver zu Boden und sagte: "Winkelgasse". Im nächsten Augenblick war sie verschwunden.
John verspürte ein vertrautes Gefühl der Traurigkeit, als er sie gehen sah. Aber dann sah er auf seinen kleinen Sohn und seine Laune verbesserte sich. Dieses Wochenende würden sie Spaß haben. Sie würden nur zu dritt sein - ein reiner Männerausflug.
---------------------------------------------------------------------------- -----------------------
Nachdem sie mehrere Stunden auf dem Besen über das Moor geschwebt waren, beschlossen John und Malcolm, dass es zu dunkel sei, um weiterzumachen. Sie schlugen mit einem leichten Schwenk des Zauberstabs ihr Zelt auf und machten auf dieselbe Weise ein Feuer an, um die Würstchen zu braten und sich zu wärmen. Der volle Mond leuchtete und das Moor war für die späte Stunde erstaunlich hell. Erst nach elf lag der kleine Remus endlich bequem im Zelt und die beiden Erwachsenen setzten sich wieder nach draußen. John ließ sich auf einem Baumstamm nieder und öffnete eine Flasche Butterbier.
"Schläft der kleine Racker endlich?" fragte Malcolm.
"Ja. Der Ausflug hat ihn ziemlich aufgeregt und ich glaube, er hat noch etwas Angst wegen des Traums, den er neulich hatte."
"Welcher Traum?" Malcolm sah von seinem Teller auf, auf dem nur noch die Reste seines achten Würstchens und sechsten Speckstreifens lagen.
"Er ist letztens weinend wach geworden und meinte, er hätte von einem Monster geträumt, das ihn holen wollte." John grinste. "Wenigstens hat deine Schwester sein Gebrabbel so interpretiert."
Malcolm lachte und nahm einen großen Schluck Butterbier. Dann hätte er die Flasche und seinen Teller beinahe fallen gelassen. Ein Heulen ging durch die Nacht. John sprang von seinem Sitz hoch, sein Gesicht so blass wie der Mond über ihnen.
"Was in aller Welt war das?" rief Malcolm.
"Pssst!" zischte John.
Sie warteten lautlos auf weitere Geräusche. Kurze Zeit später hörten sie die grauenhaften Töne einer wilden Bestie, eines Monstrums, und eines anderen Wesens, sehr wahrscheinlich eines hilflosen Moorponys. Dem Geräusch nach zu urteilen hatte die Bestie das Pony angefallen. Sie hörten ein letztes Wiehern, dann wurde es wieder still ... und dann folgte ein weiteres, einsames Heulen.
"Schnell", drängte John. "Pack die Taschen. Nur die wichtigen Sachen. Wir lassen alles zurück, was wir nicht brauchen."
Malcolm schien aus seiner Benommenheit zu erwachen und eilte, um John beim Packen ihrer Sachen zu helfen. Dabei war es ihnen unwichtig, was sie für eine Unordnung hinterließen. John kippte das Teewasser über das Feuer, um die Flammen zu löschen, und hoffte, dass das Monster sie dadurch nicht so leicht finden würde. Er wollte eben die letzte Tasche aufheben und vorne an seinem Besenstiel anbinden als sie hörten, wie eine Plane zerrissen wurde. Malcolm blieb wie festgefroren stehen.
"Remus!" schrie John.
Er rannte ins Zelt, Malcolm hinterher, und fand dort ein riesiges, wolfsähnliches Wesen, das sich über seinen Sohn beugte. Es hob den struppigen Kopf, als sie eintraten, und knurrte wütend.
"Oh mein Gott! Das ist ein Werwolf!" schrie Malcolm.
John gab keine Antwort. Er starrte auf die reglose Gestalt seines Sohnes, der vor den Klauen des Monstrums am Boden lag. Ob er noch lebte oder nicht war nicht zu erkennen. Aber seine linke Seite war klebrig-rot und eine Blutlache tränkte die Erde neben ihm. Ungeachtet der Gefahr stürzte er nach vorn und schnappte sich den Jungen, noch bevor der Werwolf wirklich wusste, was geschehen war, während Malcolm seinen Zauberstab zückte und mit einem Spruch Funken auf die Bestie schleuderte. Sie knurrte tief, und John konnte sie hinter ihm hören, als er durch die Öffnung nach draußen rannte. Er legte Remus neben der Feuerstelle ab und verfluchte seinen Verstand, dass er das Feuer so übereilt gelöscht hatte. Er hasste es, seinen Sohn so daliegen zu lassen, aber die unaufhörlichen Schreie und das Knurren, das Zähnefletschen und das Reißen, das er aus dem Zelt hörte, veranlassten ihn, seinen Zauberstab hervorzuholen und wieder hinein zu rennen. Malcolm hatte sich gegen die Plane gedrückte und hielt den Zauberstab verzweifelt in der Hand gekrallt. Ohne zu zögern hob John den eigenen Stab und zeigte damit direkt auf den Rücken des Werwolfs.
"Incendio!"
Am ganzen Rücken der Kreatur loderten Flammen, und sie wandte und drehte sich und versuchte, sie abzuschütteln. Dabei jaulte sie und steckte die Laken und die Plane in Brand. Malcolm und John sahen argwöhnisch zu. Endlich sprang der noch immer heulende Werwolf durch das Loch im Zeltrücken davon und verschwand in der Nacht. Die beiden Männer flüchteten aus dem brennenden Zelt und kehrten dorthin zurück, wo John Remus abgelegt hatte. Aber in dem Moment, als sie sich ihm näherten, begann der kleine Junge, der immer noch bewusstlos am Boden lag, sich vor ihren Augen zu verwandeln. Sein Gesicht wuchs in die Länge. Fell sprießte auf seinen blutbefleckten Händen. Er war gebissen wurden ... und nur Augenblicke später lag dort eine kleinere Version des Monsters, das sie eben verjagt hatten. John näherte sich ihm langsam und fiel auf die Knie.
"Nein", flüsterte er und streckte seine zitterte Hand über der reglosen Gestalt aus. Er wollte ihn hochheben, aber Malcolm packte ihn an den Schultern, zog ihn wieder auf die Beine und zerrte ihn ein Stück weit weg.
"Nicht, John. Rühr ihn nicht an. Wenn er aufwacht, greift er dich an."
John schüttelte verzweifelt den Kopf.
"Nein. Nein, das kann nicht wahr sein. Das kann nicht passiert sein."
Er kämpfte gegen Malcolm an, der John mit aller Kraft zurückhalten musste, um ihn nicht an Remus' Seite zu lassen.
"Remus!" rief John und riss sich endlich los. Er blieb ein paar Schritte von seinem Sohn entfernt stehen und starrte erst auf ihn, dann auf den Mond. "Nein!" schrie er. "Neeeiiiin!" ---------------------------------------------------------------------------- -----------------------
3 - Vater und Sohn
---------------------------------------------------------------------------- -----------------------
Der achtjährige Remus Lupin saß mit dem Rücken gegen den Baumstamm und lauschte dem langsamen Plätschern eines kleinen Waldbaches und dem Zwitschern der Vögel in den Ästen weit über ihm. Die untergehende Sonne drang durch die Blätter und warf ein grünliches Licht auf den hellbraunen Kopf des Jungen und die dicken Seiten des Buches, das er in den Händen hielt. Er hielt inne, um sich eine hartnäckige Haarsträhne aus dem Auge zu wischen und umzublättern. Irgendwo tiefer im Wald hämmerte ab und zu ein Specht.
Remus verzog die Stirn. Dieses Buch war schwer zu lesen, selbst für einen hungrigen Bücherwurm wie ihn. Nicht, dass er einer dieser blassen Stubenhocker gewesen wäre, die den ganzen Tag lang im Haus saßen und langweilige Wälzer lasen. Nein, Remus wollte genauso gern im Freien sein und auf Bäume klettern, in Bächen Staudämme bauen und Baumhäuser entwerfen, wie alle anderen gesunden Jungen in seinem Alter, und manchmal tat er das auch mit seiner Mutter. Aber das war nicht dasselbe, als wenn es einen anderen Jungen in seinem Alter gäbe, mit dem er spielen könnte. Die einzigen Male, die er dem auch nur nahe kam, waren, wenn Onkel Malcolm zu Besuch kam - seine Mutter sagte immer, er würde sich wie ein ausgewachsenes Kind aufführen. Aber Remus war das egal. Er konnte Onkel Malcolm gut leiden, manchmal wünschte er sich sogar, dass sein Vater etwas mehr wie er wäre. Aber Dad war immer so verschlossen und still. Also ging Remus allein nach draußen und wanderte durch die Wälder, bis er diesen Ort erreichte, der zu Fuß etwa fünfzehn Minuten vom Haus entfernt lag. Hier ließ er sich dann mit einem Buch nieder, wobei er sich entweder gegen den Baum lehnte oder hinauf kletterte, dorthin wo zwei Äste eine Gabelung formten, in der man sicher sitzen konnte, ohne aus dem Baum zu fallen, selbst wenn man zwischendrin ein Nickerchen machte.
Meist las er Abenteuer, aber heute hatte Remus etwas vom Bücherregal seines Vaters geschmuggelt, ein schweres altes Buch mit vielen, vielen dicken Pergamentseiten und dem Titel 'Eine Studie über Werwölfe'. Sein Vater hatte viele Bücher mit solchen Titeln. Oft saß er stundenlang da und las sie, bis Remus' Mutter ihm sanfte Vorwürfe machte und ihn daran erinnerte, dass Remus jemanden zum Spielen brauchte. Dann küsste er sie und legte sein Buch widerstrebend beiseite. Er suchte Remus auf und sie würden etwas spielen - etwas ruhiges. Mit Dad konnte man nur selten lachen. Auch lächelte er nur selten, und wenn, dann lag es daran, dass John Lupin in einem seiner vielen Bücher oder in Zeitschriften wie dem 'Medizinisch-magischen Monatsmagazin' gelesen oder im Radio gehört hatte, dass eine mögliche Heilung für die Beschwerden seines jungen Sohns entdeckt worden sei. Im Laufe der Jahre hatten sie es mit vielen solchen Wunderheilungen versucht, aber stets ohne Erfolg. Doch John Lupin - und auch Faith, die ihre Sorge jedoch besser verbergen konnte - hatte sich immer noch nicht damit abgefunden, dass Remus bis ans Ende seiner Tage ein Werwolf bleiben würde. Als sie von der letzten wirkungslosen Behandlung zurückgekehrt waren, die sie den Großteil ihrer Ersparnisse und ihrer Nerven gekostet hatte, hatte Faith ihrem Sohn zu erklären versucht, dass die Besessenheit seines Vaters, ein Heilmittel für ihn zu finden, daher rührte, dass er sich an Remus' Situation schuldig fühlte. Das hatte Remus nicht verstanden. Wie konnte denn sein Vater daran Schuld sein, was aus ihm geworden war? Nein. Remus verstand das schon: Sein Vater schämte sich dessen, was er war. Er gab sich schließlich immer die größte Mühe, damit niemand herausfand, was seinem Sohn widerfahren war. Ja, daran lag es. Er schämte sich. Und Remus konnte es nicht ertragen, dass sein Vater sich seinetwegen schämte.
Daher hatte Remus beschlossen, dass er geheilt werden musste, denn er war überzeugt, nur so könne er die Zuneigung seines Vaters für sich gewinnen. Und um ein Heilmittel zu finden, musste er die Bücher lesen, die sein Vater gelesen hatte, sich einen Einblick verschaffen und entgegen aller Vernunft hoffen, dass er irgendeinen Ausweg finden würde, den sein Vater übersehen hatte.
Aber das war für ein Kind in seinem Alter harte Arbeit. Außerdem war es schon spät und bald würde der Mond aufgehen. Remus fürchtete den Mond. Er schauderte, wenn er ihn nur ansah. Heute Nacht war Vollmond, und das bedeutete, dass er die inzwischen vertrauten, aber nach wie vor unerträglichen Schmerzen dulden musste. Er seufzte und blickte in den dunkelnden Himmel. Ja, bald war es soweit. Er beugte sich vor und buddelte mit den Fingern zwischen den Wurzeln des alten Baumes eine metallbeschlagene Schatulle aus. Er öffnete sie und legte das Buch vorsichtig hinein, dann machte er die Kiste zu und schloss sie ab. Am allerwenigsten wollte er aus Versehen Dads Buch zerfetzen. Als er die Kiste wieder vergraben hatte, stand Remus auf und sah sich um, genoss die Stille dieses Orts, den er so sehr liebte. Seine Mutter würde in diesem Moment wie jeden Monat das Haus abschließen. Der Wald war wohl der sicherste Ort, den es für Remus' Verwandlung geben konnte. Hier lebten sie einsam und abgeschnitten. Außer seinen Eltern wohnte hier niemand und sie wussten, welche Vorkehrungen sie treffen mussten.
Es wurde dunkel. Remus' Augen brannten. Nein, er würde nicht weinen. Er wusste, dass es wehtun würde, so wie immer, aber so war das nun mal, Tränen würden daran auch nichts ändern. Er bürstete ein Staubkorn von seiner abgeschabten Hose und wartete. Nur noch wenige Minuten ...
---------------------------------------------------------------------------- -----------------------
Der nächste Morgen war hell und warm. Faith Lupin öffnete die Haustür weit und eilte auf den Weg, denn sie erwartete, dass ihr Sohn Remus ihr aus dem Wald entgegen laufen würde, wie er es am Morgen nach seiner Verwandlung fast immer tat. Aber er kam nicht.
*Er versteckt sich bestimmt*, dachte sie lächelnd.
"Na schön, Remus!" rief sie laut. "Komm eben nicht aus deinem Versteck. Dann kann ich dein Frühstück ja der Katze geben, oder?"
Es kam keine Antwort. Wo konnte der Junge nur stecken? Leicht die Stirn runzelnd, aber noch unbesorgt, ging sie weiter in den Wald.
"Remus!" rief sie. "Komm raus, Schatz, dein Kakao wird kalt!"
Immer noch nichts. Sie zuckte die Schultern und ging wieder aufs Haus zu. Remus hatte wahrscheinlich nur wieder die Nase zu tief in ein Buch gesteckt. Er würde schon kommen, wenn sein Magen ihn rief. Kinder!
Sie trat wieder ins Haus und fand John in der Küche stehen. Er sah wegen irgendetwas verwirrt aus.
"Was ist?" fragte sie gelassen.
"Hast du Buttons heute Morgen schon gesehen?"
"Nein. Wieso, liegt er nicht wie immer unter dem Tisch?"
Sie zog den Stuhl heraus, auf dem der Kater sonst lag, aber er war nicht da. Verduzt schaute sie unter den Tisch und sah sich alle Stühle an.
"Merkwürdig", meinte sie schließlich. "Er schläft doch immer da. Malcolm hat sich letztens noch über das eine Mal beschwert, als er sich den Stuhl rangezogen und sich auf die Katze gesetzt hat. Er behauptet, die Narben wären heute noch da."
John sah sich im ganzen Haus um, aber die Katze war nirgends zu finden. Er kehrte zur Küche zurück, wo seine Frau noch immer auf den leeren Küchenstuhl starrte.
"Ich kann ihn nicht finden", sagte er. "Na ja, der wird schon kommen, wenn er Hunger hat. Was hast du denn?" fragte er, als er ihren besorgten Blick bemerkte.
"Ich konnte Remus nicht finden, John", erklärte sie.
"Was?"
"Ich habe gerufen, aber er ist nicht gekommen." Sie wandte sich ihm zu und er sah, dass ihre Augenränder rot waren. "John ... du glaubst doch nicht ..."
John starrte sie an, dachte aber gut und lange nach, bevor er weitersprach.
"Ich finde ihn", versprach er endlich.
---------------------------------------------------------------------------- -----------------------
Remus kletterte den Baumstamm herauf und versteckte sich im Laub. Er hatte gehört, wie seine Mutter ihn rief, aber er konnte nicht zu ihr gehen. Er fand die sichere Stelle bei der Astgabelung und setzte sich, zog dabei die Beine an und umschlang sie unglücklich mit beiden Armen. Sein Hemd war an mehreren Stellen gerissen und seine Augen waren rot und geschwollen. Seine Wangen waren feucht. Nervös schielte er durch das Laub auf den Boden und schloss zitternd die Augen. Da unten waren noch Blutflecken und Fellreste zu sehen, rund um seine Schatulle. Remus war traurig, trauriger als er je gewesen war, so lange er sich erinnern konnte. Mit geschlossenen Augen schluchzte er leise vor sich hin und es kam ihm vor, als wäre eine Ewigkeit vergangen. Plötzlich hörte er etwas. Jemand kam durch das Gestrüpp, jemand lief über das getrocknete Laub des letzten Herbstes.
"Remus!" rief die Stimme seines Vaters ganz aus der Nähe.
Remus kraxelte zwischen den Ästen weiter hoch und legte sich flach auf den Bauch. Aus dieser Stellung konnte er sehen, wie sein Vater unten zwischen den Bäumen durchkam und fast genau dort stehen blieb, wo ... Remus schluckte schwer. Unten sah John Lupin sich um.
"Remus!" rief er erneut. "Komm raus. Remus?"
Er brach ab, als ihm die klebrig-braunen Flecken im Gras auffielen. Er bückte sich und hob ein Stück weiches, langes braunes Fell auf. Remus, der weit oben an seinen Ast geklammert war, zitterte. Sein Vater untersuchte das Fell.
"Großer Gott", murmelte er leise. Er ging in die Hocke und untersuchte den Boden. Er fand eine Stelle, wo die Erde locker war, und kratzte sie mit der Hand beiseite, wobei er auf eine kleine Kiste mit einem Metallschloss und einem Schlüssel stieß. Auf den Deckel waren in kindlicher Handschrift die Initialen R. J. L. geritzt worden. Langsam drehte John Lupin den Schlüssel im Schloss um und begann, den Deckel anzuheben. Doch dann überlegte er es sich scheinbar anders, denn er schloss den Deckel wieder, drehte den Schlüssel erneut um und legte die Kiste in das Loch zurück. Er stand auf und sah sich jetzt noch besorgter um.
"Remus! Wenn du mich hören kannst, komm bitte raus!"
Seine Stimme bebte und er ging in der kleinen Lichtung auf und ab und überquerte dabei immer wieder den Bach. Endlich blieb er unter dem Baum stehen, in dem Remus hockte, und fuhr sich mit beiden Händen durch die Haare. Remus sah nur kurz das Gesicht seines Vaters - er sah merkwürdig erschöpft und fiebrig aus, seine Augenlider waren schwer und seine Wangen ausgehöhlt. Remus war bisher noch nie aufgefallen, wie besorgt sein Vater in letzter Zeit immer wirkte. Er schnappte unwillkürlich nach Luft. John Lupin blickte nach oben zwischen das Laub und hielt sich dabei die Hand vors Gesicht, um sich vor den Sonnenstrahlen zu schützen.
"Remus?" rief er.
"G-geh weg", stotterte das Kind.
"Remus!" rief sein Vater erleichtert. "Was machst du denn da oben? Wir haben uns Sorgen gemacht. Komm sofort da runter."
"N-nein."
"Aber ..."
"Ich kann nicht runterkommen", murmelte Remus. "D-du wirst doch bloß mit mir schimpfen."
"Red keinen Unsinn, Remus. Warum sollte ich denn schimpfen?"
Der arme Junge begann zu schluchzen und der Ast, auf dem er lag, schwankte so stark, dass John Angst bekam.
"Remus, komm da runter, sonst fällst du."
"N-nein", schluchzte Remus. "Tu ich nicht. Ich kann nicht. Ich ... Ich hab letzte Nacht was ganz Schlimmes getan und ich ... ich ..."
Er brach wieder in Tränen aus. John sah hilflos nach oben und begann dann, sich den Baum genauer anzusehen. Er fand Halt und fing an, langsam und vorsichtig hochzuklettern.
"Nein!" schrie Remus, als er bemerkte, was sein Vater vorhatte. "Nicht hochkommen, komm mir nicht zu nahe!"
Er versuchte, selbst noch weiter zwischen den Ästen nach oben zu klettern, aber er saß schon so hoch, dass es nicht weiter ging. Und dann erreichte sein Vater die Astgabelung.
"Remus", sagte er mit einer Stimme, die viel sanfter war, als der Junge sie je gehört hatte. "Lauf nicht vor mir weg. Was auch passiert ist, so schlimm kann es doch nicht sein. Komm her."
"Nein. D-du weißt nicht, was ... was letzte Nacht passiert ist."
John sah auf die Flecken am Boden. "Ich kann es mir vorstellen."
Da sah Remus seinen Vater an. Er saß da, hockte in seinem besten Arbeitsgewand zwischen den Blättern, während von allen Seiten Zweige seine Arme und Beine pieksten, und seine blauen Augen waren auf seinen Sohn gerichtet. Dort war kein Schatten der Wut zu sehen, die Remus erwartet hatte, und auch kein Vorwurf.
"D-du wirst mich dafür hassen", sagte Remus langsam. "Ich weiß es. Ich w- weiß genau, dass du dich meinetwegen schämst, und dass du ... mich hasst. Du hasst mich, weil ich ein - ein Werwolf bin."
"Ich soll mich deinetwegen schämen?" John sah zutiefst verletzt aus. "Dich hassen? Denkst du das wirklich von mir?"
Er sah weg. "Mein Gott, was hab ich nur getan?" seufzte er und hielt sich eine Hand vor das Gesicht. "Wie konnte das passieren? Wieso nur? Wieso?"
Remus hörte vor Schreck auf zu weinen und starrte seinen Vater an. Seine starken, breiten Schultern bebten, er sah verloren aus und ... und so verletzt. Ganz langsam kroch der Junge die Äste zu seinem Vater hinunter. Er streckte eine zitternde Hand aus und berührte seine Schulter.
"Daddy?" flüsterte er.
John drehte sich so plötzlich zu ihm um, dass Remus fast aus dem Baum gefallen wäre.
"Ich habe mich nie deinetwegen geschämt, Remus", sagte sein Vater mit zittriger Stimme. "Geschämt? Ganz im Gegenteil. Ich bin stolz auf dich."
Er lächelte traurig.
"Ich möchte wetten, dass nicht viele Kinder in deinem Alter das durchmachen könnten, was du seit fünf Jahren ertragen musst, und doch in ihrem Gemüt und ihrem Herzen so rein bleiben wie du."
Sein Lächeln wuchs, als er den verstörten Blick in Remus' Gesicht sah.
"Dich hassen?" setzte er fort. "Ich könnte dich niemals hassen, mein Junge. Es tut mir sehr Leid, wenn ich dir den Eindruck vermittelt habe. Ich weiß, ich habe mich dir gegenüber nicht richtig verhalten. Vielleicht war ich einfach zu besessen davon, ein Heilmittel für dich zu finden, um das zu tun, was wirklich wichtig ist - um dir zu zeigen, dass ich dich lieb habe, mein Sohn. Egal was passiert und was du bist."
Remus traten die Tränen wieder in die Augen, und plötzlich fand er sich in den Armen seines Vaters wieder, der ihn so herzlich umarmte, wie er es seit fünf Jahren nicht mehr erlebt hatte.
"Ich hab dich auch lieb, Daddy", flüsterte er. "Es tut mir Leid, dass ich dich traurig gemacht hab."
"Ist schon gut", lachte John, während er seinen Rücken streichelte. Remus lehnte sich zurück und sah, dass sich das müde Gesicht seines Vaters verändert hatte. Plötzlich wirkte er irgendwie viel jünger und freundlicher.
"Komm", meinte sein Vater schließlich "Wir müssen zu deiner Mutter zurück, sie macht sich sicher Sorgen um dich." ---------------------------------------------------------------------------- -----------------------
4 - Der junge Schüler
---------------------------------------------------------------------------- -----------------------
Remus Lupin betrachtete sich im großen Spiegel, der im Schlafzimmer seiner Eltern hing. Wie die meisten Sachen, die sie heutzutage besaßen, hatte auch der Spiegel ein paar Sprünge und sah ziemlich alt aus. Das bisschen Geld, das sie mal gehabt hatten, war weg. Seine Eltern hatten es für nutzlose Versuche ausgegeben, ihren Sohn zu heilen. Remus strich das neue schwarze Gewand glatt, das seine Mutter ihm von Hand aus dem Stoff einer alten Robe seines Vaters genäht hatte, nach Muggel-Art, so wie sie es als Mädchen gelernt hatte. Er fuhr sich mit der Hand durch den Pony und versuchte, sich eine Strähne seines hellbraunen Haars aus dem Gesicht zu streichen, die ihm einfach immer wieder in die Augen fiel, was er auch dagegen tat. Das Sonnenlicht, das durch das Fenster hineinströmte, wärmte sein Gesicht und ein silbernes Glitzern funkelte in seinem Haar. Das erste graue Haar hatte er vor etwa einem Jahr bemerkt, da war er zehn gewesen. Er hatte es schnell herausgezupft, bevor es jemand bemerkte. Aber es war ein neues nachgewachsen, und wieder eins, und mit elf hatte er etliche silberne Strähnen. Seine Mutter schien zuerst besorgt, aber sein Vater hatte lächelnd gesagt, sie würden ihm stehen, und seine Mutter hatte ihm schnell zugestimmt. Tatsächlich schien sie sich inzwischen daran gewöhnt zu haben. Remus war froh darüber. Sie störten ihn nicht und es tat weh, wenn er sie rauszupfte. Er hatte sie mal mit einem Zauber abgeschnitten, aber das hielt nicht lange, sie wuchsen immer nach. Trotzdem war er dankbar, dass ihm seit einiger Zeit keine neuen Silbersträhnen mehr wuchsen. Er wollte mit zwölf nicht schon komplett ergraut sein.
Er sah in sein Spiegelbild und seufzte.
"Schick siehst du heute aus, Schatz", sagte der Spiegel.
Remus zog die Stirn zusammen. Er fand, er sehe mager und kränklich aus, obwohl seine Mutter ihm oft versicherte, dass es auf der ganzen weiten Welt keinen besser aussehenden Jungen gebe. Ehrlich gesagt glaubte Remus, dass seine Mutter seine Fehler nur aus Zuneigung übersah - und er hatte sie im Verdacht, den Spiegel verhext zu haben, damit er ihn auf diese Weise ermutigen sollte. Allerdings sah er wirklich nicht immer so schlecht aus, aber vor zwei Nächten hatte er sehr unter dem Vollmond gelitten.
Er ging aus dem Schlafzimmer und langsam die etwas wackelige alte Treppe hinunter. Dabei fragte er sich insgeheim, warum seine Eltern darauf bestanden hatten, dass er heute sein bestes Gewand tragen und seine besten Manieren zeigen und im Haus bleiben sollte. Letzteres störte ihn besonders. Er wollte heute zu seinem Lieblingsplatz. Er hatte ein neues - wenn auch gebrauchtes - Buch über antike Runen in seiner 'Schatztruhe' und wollte es schnell lesen.
Remus war die Treppe erst halb herunter gekommen, als jemand an der Haustür klopfte. Er hörte das Knistern der Zeitung, als sein Vater sie beiseite legte, und die leisen Schritte seiner Mutter im Flur, als sie ging, um die Tür zu öffnen. Von der Treppe aus sah Remus das grelle Sonnenlicht hereinströmen, stand aber selbst im Schatten versteckt und starrte verwundert den Mann an, der jetzt ihr kleines Haus betrat.
Er war hochgewachsen und dürr. Von oben bis unten war er mit elegantem, tief-purpurnem Stoff bekleidet und auf dem Kopf trug er einen großen Hut, so dass er sich tief beugen musste, um durch die Tür zu passen. Seine Haare und der Bart waren lang und weiß, aber am meisten war Remus von seinen Augen fasziniert. Sie waren klein und blau und funkelten hinter einer Brille, deren Gläser wie zwei Halbmonde geformt waren. Diese Augen waren klar und freundlich, aber der Junge spürte sofort, dass sie auch sehr scharf waren, dass sie einen irgendwie 'durchdringen' konnten. Er hatte das merkwürdige Gefühl, dass diese Augen ihn sogar jetzt irgendwie durchschauten, obwohl er immer noch halb hinter der Wand versteckt war.
Das war also Professor Albus Dumbledore, der Direktor der Zauberschule Hogwarts. Oh ja, Remus erkannte ihn sofort. Sein Vater brachte ihm oft Schokofrösche mit, obwohl Remus sich nicht überwinden konnte, die zappelnde, sich windende Schokolade in den Mund zu stecken und hineinzubeißen. Aber er mochte die Karten. In seiner Schatztruhe lagen mindestens vier Dumbledores, aber keiner von ihnen war wirklich so wie der echte. Er fürchtete sich fast davor, direkt unter diese Augen zu treten, und doch zogen sie ihn merkwürdig an, als ob er sich danach sehnte, ihrem Besitzer seine tiefsten Geheimnisse anzuvertrauen.
"Es ist sehr lieb von Ihnen, dass Sie vorbeikommen, Professor", sagte Faith Lupin gerade.
"Keine Ursache", antwortete der Professor mit weicher, gütiger Stimme. Er schnupperte kurz. "Deine Kochkünste sind immer einen Besuch wert, Faith."
Remus' Mutter lachte. "Danke, Sir. Aber ich fürchte, dieses Lob verdienen eher meine fantastischen Töpfe als meine bescheidenen Kochkünste."
Sie führte Professor Dumbledore ins Wohnzimmer und Remus hörte, wie sich die Stimme seines Vaters mit den anderen beiden vermengte. Er kroch die Treppe herunter und machte dabei einen großen Schritt, um nicht auf die knarrende Stufe zu treten, dann schlich er sich zur halb geschlossenen Tür. Seine Eltern redeten mit Professor Dumbledore. Es schien um ganz alltägliche Dinge zu gehen, um die kürzlich erreichten Leistungen des Ministeriums in Sachen internationaler magischer Kooperation, das letzte Spiel der Wimbourner Wespen und die unerhörte neue Angewohnheit junger Hexen, Roben in Knielänge zu tragen.
"Also", sagte Professor Dumbledore endlich, als die Unterhaltung langsam abbrach. "Wie geht es eurem Sohn?"
"Oh, es geht ihm gut", sagte Faith. "Möchten Sie ihn kennen lernen?"
"Darum bin ich hier", antwortete Dumbledore ganz einfach.
Remus spürte, wie ihm warmes Blut ins Gesicht stieg. Gleichzeitig hörte er das vertraute Knarren, das bedeutete, dass seine Mutter sich gerade von Dads Sessellehne erhoben hatte.
"Ich rufe ihn", sagte sie.
Es war soweit. Remus musste sich beeilen, sonst würde er erwischt werden. Auf Zehenspitzen schlich er sich durch den Flur zurück, ging dann mit normalen Schritten wieder zur Tür und klopfte an.
"Ah, da ist er ja", sagte sein Vater, der überrascht schien, dass der Kopf seines Sohnes genau im richtigen Moment um die Ecke guckte.
Remus trat nervös ein und fühlte sofort die würdigen blauen Augen, die ihn über den Rand von Professor Dumbledores Halbmondbrille studierten.
"Remus, Schatz."
Seine Mutter kam zu ihm herüber, legte ihm die Hand auf die Schulter und führte ihn vor den Direktor.
"Das ist Professor Dumbledore, Remus."
"Ich weiß", platzte er heraus. "Ehm. Ich meine, es ist mir eine Ehre, Sir."
Der alte Zauberer schien seine Begutachtung zu seiner Zufriedenheit abgeschlossen zu haben, denn er lächelte Remus an.
"Also, junger Mann. Ich warte schon lange darauf, deine Bekanntschaft zu machen, weißt du."
Remus war verduzt, was man ihm wohl auch anmerkte, denn Dumbledore lachte leise.
"Aber ja doch, ich habe schon viel über dich gehört, besonders von deinem Vater. Er ist wirklich sehr stolz auf dich."
Aus dem Augenwinkel glaubte Remus zu sehen, wie sein Vater bei diesen Worten leicht errötete. Dumbledore fuhr fort.
"Ich habe gehört, du studierst schon fleißig, Remus Lupin. Deine Eltern sagen, du lässt dich kaum von deinen Büchern trennen. Und du liest nicht bloß Kinderbücher, sondern häufig sogar Schulliteratur."
"Ich habe einige Schulbücher gelesen, ja, Sir", erwiderte Remus. "Aber nicht alle. Ich hab es mal mit einem Buch über Tränke versucht, aber das war mir zu ..." Er brach verlegen ab.
"Ein wenig langweilig, nehme ich an", riet Dumbledore. Dann lächelte er wieder. "Das muss dir nicht peinlich sein, Remus. Wir können uns nicht alle für dasselbe interessieren. Welche Themen magst du lieber?"
"Ich mag antike Runen und Magiegeschichte, und natürlich Verteidigung gegen die Dunklen Künste. Ich hab auch mal versucht, fortgeschrittene Bücher zu lesen, aber die sind manchmal schwer nachzuvollziehen, wenn man die Zauber nicht gleichzeitig anwenden kann."
Albus Dumbledore nickte zufrieden und Remus stellte fest, dass er jetzt viel weniger nervös vor dem Professor stand. So lange er sich an ein vertrautes Gesprächsthema halten konnte - seine Bücher - konnte er sich und seine Eltern nicht allzu sehr blamieren.
"Hast du schon überlegt, was du im nächsten Jahr tun wirst?" fragte ihn Professor Dumbledore.
"Na ja, ehm ... Ich habe seit dem letzten Jahr einen Zauberstab und habe schon einige einfache Zauber damit geübt. Mum sagt, sie wird mir noch mehr beibringen - Dinge, die ich auf einer Zauberschule lernen würde. Natürlich werde ich nie so gut werden wie Ihre Schüler in Hogwarts, Sir."
"Ah, du hast also von Hogwarts gehört, ja? Was denkst du darüber?"
"Ich halte es für die beste Zauberschule der Welt, Professor", sagte Remus enthusiastisch. "Ich meine, meine Eltern waren beide da und wenn ich nicht - na ja, dann hätte ich auch dorthin gewollt, aber das kann ich eben nicht. Ich habe aber einige der Bücher gelesen, die sie dort benutzen, und die Geschichte von Hogwarts."
"Tatsächlich?" Dumbledore lachte wieder. "Dann weißt du ja schon mehr, als viele Hogwarts-Schüler im siebten Jahr je gelernt haben, nehme ich an. Nun gut. Danke, Remus, dass du mir diesen kleinen Einblick in deine Gedanken gewährt hast. Wir werden uns vielleicht noch einmal kurz unterhalten - später."
Überrascht nahm Remus diese Worte als Abschied hin und machte sich auf zu seiner Truhe und dem Buch, das er hineingelegt hatte.
---------------------------------------------------------------------------- -----------------------
Die Sonne stand hoch oben und Remus war in sein Buch vertieft, die Welt um ihn herum hatte er vergessen. Seine beste Robe war voller Blütenstaub und trockener Erde, seine Stirn kraus. Er drehte eine dicke Buchseite um und blätterte dann zurück. Er drehte das Buch auf den Kopf und gab einen leisen Ausruf von sich. So war das also. Die Verbindung war ihm bisher entgangen, aber jetzt war alles klar. Es war ein gutes Buch, das er da hatte. Darin wurde alles auf faszinierende Weise erklärt. Es war sogar so faszinierend, dass er nicht einmal bemerkte, wie sich ihm jemand näherte, bis ein Schatten auf die Seite fiel. Er blickte erschrocken hoch und sah Professor Dumbledore, der auf ihn herabschaute.
"Ah", sagte er. "Hier versteckst du dich also mit deinen Büchern."
"Ich lese gern hier", antwortete Remus und wollte aufstehen.
Dumbledore winkte ab und setzte sich neben ihn auf einen Baumstumpf.
"Ich habe mich mit deinen Eltern über deine Zukunft unterhalten, Remus."
"Ach so?" erwiderte Remus höflich und machte das Buch zu.
"Ja. Offenbar glauben sie, dass es für dich sehr schwer ist, dich damit abfinden zu müssen, dass du vermutlich nie auf eine richtige Schule gehen und mehr als einfache Zaubersprüche lernen wirst. Stimmt das?"
Remus dachte kurz nach. "Kann sein. Ich würde schon gerne viel lernen. Aber ich weiß, dass es nicht sicher wäre, wenn ich unter den anderen Schülern leben würde. Es wäre zu gefährlich für sie. Es ist schade, aber ich muss das Beste daraus machen."
"Du bist ungewöhnlich ruhig für einen Jungen in deiner Lage. Die meisten wären an deiner Stelle bitter, verärgert. Aber du hast ja deine Eltern, die dich sehr lieben."
"Ich weiß", sagte Remus ernst. "Ich habe sie auch lieb."
Dumbledore lächelte. "Du scheinst mir ein sehr geduldiger, intelligenter junger Mann zu sein, Remus. Es wäre eine Schande, ein solches Talent zu verschwenden. Wie gesagt: Ich habe mit deinen Eltern gesprochen, und wir sind uns einig geworden. Ich habe versprochen, alle Vorkehrungen zu treffen. Wir werden ein Gebäude in Hogsmeade errichten. Dort wirst du jeden Monat die Vollmondnacht verbringen. Ich habe unserer Lehrerin für Verwandlung, Professor McGonagall, die dieses Jahr meine Stellvertreterin werden soll, bereits eine Eule geschickt, damit sie sofort mit der Vorbereitung beginnt. Wir werden einen Tunnel graben, der aus dem Schulgelände hinaus in das Haus führen wird. Unsere Herbologielehrerin Professor Sprout hat erst kürzlich einen sehr seltenen Setzling bekommen können: eine peitschende Weide. Diese werden wir über dem Tunneleingang pflanzen, so dass niemand aus Versehen über dich stolpert, während du verwandelt bist. Wenn wir diese Vorsichtsmaßnahmen treffen, dürfte deine Gegenwart in Hogwarts keine Gefahr darstellen."
Remus lachte trocken. "Sie machen Witze."
"Nein, es ist mein Ernst", entgegnete Dumbledore.
Remus spürte, wie sein Kiefer aufklappte. "H-Hogwarts?" stammelte er. "Ich? Ich soll nach Hogwarts? Aber ..."
"Sagt dir unser Plan zu?"
"Ob er mir zusagt?"
Remus sprang auf, halb lachend und halb weinend. "Ob er mir zusagt? Ich finde ihn ... Er ist einfach ..."
Ihm fehlten die Worte. Er blickte den Direktor an, der ihn nun von seinem Baumstumpf aus anlächelte.
"Danke, Professor", sagte Remus mit bebender Stimme. "Ich werde Sie nicht enttäuschen, Sir." ---------------------------------------------------------------------------- -----------------------
5 - Die Fahrt nach Hogwarts
---------------------------------------------------------------------------- -----------------------
Remus Lupin wünschte sich, dass sich sein Magen endlich beruhigen würde. Er fühlte sich an, als ob darin Hundert Schmetterlinge ein wildes Fest feierten. Außerdem kam ihm seine Kehle seltsam verschnürt vor. Er durfte nach Hogwarts! Er wusste nicht, ob er vor Begeisterung singen oder vor Nervosität zusammenbrechen sollte. Seine Mutter stand neben ihm, und auch sie wirkte äußerst unruhig.
"Oh je. Ich hoffe, ich habe dir alles eingepackt, was du brauchst. Wenn dir noch irgendwas fehlen sollte, während du dort bist, dann musst du es mir schreiben, ja? Versprichst du das?"
"Ja, Mum."
In diesem Augenblick kam sein Vater zu ihnen zurück, der mit einem Schaffner gesprochen hatte. Er lächelte seiner Frau und seinem Sohn zu.
"Sieh mal, Remus", sagte er. "Da kommt sie."
Remus blickte nervös auf die große rote Dampflok, die in den Bahnhof ratterte. Der Hogwarts Express. Er schluckte kräftig. Der Zug war beeindruckend, noch viel besser, als er ihn sich vorgestellt hatte. Er konnte es noch immer nicht wirklich glauben. Es war der 31. August und er, der elfjährige Remus J. Lupin, würde heute nach Hogwarts fahren. All die anderen Schüler würden erst morgen eintreffen, wie üblich. Aber da morgen Nacht Vollmond sein würde, hatten sie abgemacht, dass er einen Tag früher anreisen sollte. Er hörte, wie seine Mutter seufzte.
Sie lächelte zu ihm runter, aber ihre Augen sahen feucht aus.
"Tja, Remus. Es ist soweit."
Remus nickte gezwungen und schaute sie an. Wie oft hatte er davon geträumt, nach Hogwarts zu fahren, sich danach gesehnt, von Zuhause fort zu gehen und andere Menschen, Jungen in seinem Alter, kennen zu lernen ... Aber jetzt, wo es soweit war, und er seine Mutter und seinen Vater sah, wie sie dort standen, wie sie sich halb für ihn freuten und halb traurig waren, dass er sie verließ, füllte sich sein Herz mit einem Mal mit Angst. Seine Mutter gab ihm einen Kuss auf die Wange, sein Vater nahm seine Truhe und seinen Kessel und trug sie zum Zug. Remus folgte ihm langsam, doch als er in den Zug steigen wollte, blieb er auf einmal stehen. Er drehte sich um, und rannte hastig seiner Mutter in die Arme, während Tränen ihm über das Gesicht strömten.
"Ich kann das nicht, Mum", weinte er. "Ich kann doch nicht nach Hogwarts. Ich kann dich nicht verlassen."
Seine Mutter nahm ihn kurz in den Arm, richtete ihn dann wieder auf und strich ihm die Haare aus den Augen.
"Doch, das kannst du, Schatz. Du wirst in Hogwarts viele neue Freunde finden und so viel lernen, dass du dir nachher wünschst, du hättest niemals ein Buch zu Gesicht bekommen. Du wirst schon klarkommen."
"Aber - du wirst mir fehlen", sagte er.
Faith lächelte. Sie hatte immer gewusst, dass dieser Moment für Remus, der noch nie in seinem Leben von seinen Eltern fort gewesen war, besonders schwer sein würde.
"Ich weiß, Liebes", sagte sie. "Ich werde dich auch vermissen. Aber so weit weg sind die Ferien nun auch nicht, und dann kommst du uns ja besuchen." Sie seufzte. "Also lauf jetzt, und amüsier dich gut."
Sie drehte Remus um, und dieses Mal stieg er in den Zug und folgte seinem Vater in ein Abteil. John Lupin hob die Truhe in das Gepäckfach.
"So", sagte er. "Hier solltest du's bequem haben."
"Danke, Dad", antwortete Remus unsicher.
John lächelte. "Ich hätte nie gedacht, dass ich es erlebe, dass mein kleiner Junge ganz allein auszieht, um der erste Werwolf in Hogwarts zu sein."
Er kramte nach etwas in seiner Tasche.
"Ich habe hier etwas für dich. Es ist nichts Großes, aber ..."
Remus riss das Papier eifrig auseinander. Darin lag ein altes, aber sauber blitzendes Medaillon. Er öffnete den Verschluss und entdeckte Bilder von seinen Eltern, die ihn anlächelten.
"Ich weiß, das ist eigentlich nichts für einen Jungen. Aber deine Mutter und ich dachten, es würde dir vielleicht trotzdem gefallen."
Remus umarmte seinen Vater. "Danke, Dad."
"Ich bin stolz auf dich, Remus", sagte John und strich ihm durch die Haare.
Mit einem letzten Lächeln kehrte er dann auf den Bahnsteig zurück.
Während der Hogwarts Express Gleis 9 ¾ verließ, stand Remus mit dem Medaillon in der Hand am Fenster und starrte hinaus. Sein Vater hatte seiner Mutter den Arm um die Schulter gelegt, und das letzte, was sich in Remus' Gedächtnis einprägte als der Zug schneller wurde und heiter gen Norden ratterte, war ihr liebenswertes Gesicht, das ihm mit einer Mischung aus Stolz und Trauer nachschaute.
Der Zug war noch nicht weit gekommen und Remus hatte sich eben erst überwunden, das Medaillon in seiner Tasche zu verstauen, da hörte er Schritte auf dem Gang, die so schwer waren, dass es ihm vorkam, als ginge ein Elefant im Zug spazieren. Dann öffnete sich die Tür des Abteils und dort stand ein Mann, der so groß war, dass er eigentlich gar nicht hätte existieren dürfen. Sein Gesicht war dicht mit dunklen Barthaaren bewachsen und er trug einen gewaltigen Mantel aus Maulwurfsfell. Doch über dem zotteligen Bart lächelten zwei freundliche Augen, die wie schwarze Perlen aussahen, den Jungen an.
"Hallo", sagte der Fremde. "Du musst Remus Lupin sein. Professor Dumbledore hat mir gesagt, dass du einen Tag früher nach Hogwarts kommst. Er dachte, du bist vielleicht einsam, wenn du so allein reisen musst, weil du ja auch zum ersten Mal von zu Hause weg bist. Er dachte, du kannst vielleicht ein bisschen Gesellschaft gebrauchen. Also bin ich nach London runter gekommen, um dich sicher hinzubringen. Darf ich mich zu dir setzen?"
Remus, der sich erst von seinem ersten Schrecken über die Größe des Fremden erholen musste und etwas Schwierigkeiten hatte, seine ländliche Redensart zu verstehen, murmelte höflich: "Bitte tun Sie das."
"Arr."
Irgendwie schaffte es der riesige Mann, sich in das Abteil zu quetschen. Er legte einen rosafarbenen Regenschirm ins Gepäckfach. Er setzte sich, wobei er mindestens drei Sitzplätze belegte. Das Abteil wirkte auf einmal viel zu klein. Remus machte sich ernsthafte Sorgen, dass der Zug vielleicht entgleisen könnte, sollte sich sein Begleiter zu schnell bewegen.
"Rubeus Hagrid ist mein Name", sagte dieser nun. "Ich bin Wildhüter in Hogwarts."
"Freut mich, Sie kennen zu lernen", antwortete Remus.
Eine von Hagrids tellergroßen Händen verschwand in einer riesengroßen Tasche und er holte etwa ein Dutzend Schokofrösche hervor.
"Willst du was Süßes?"
"Nein danke", lehnte Remus ab. "Die hab ich nicht so gerne. Ich esse nicht gern Dinge, die sich bewegen, als ob sie leben würden."
Hagrid schaute verduzt drein. "Aber du sammelst doch wohl sicher die Karten, oder?"
"Das schon", gab Remus zu.
"Ha, dacht ich mir's doch. Hab in meinem Leben noch keinen Jungen getroffen, der sie nicht sammelt. Ich sag dir was: Ich ess' die Frösche, und du kannst die Karten haben. Als ich so alt war wie du, da gab's sie noch nicht, und jetzt bin ich zu alt, mit dem Sammeln anzufangen. Einverstanden?"
Zum ersten Mal, seit der Zug den Bahnhof verlassen hatte, lächelte Remus. "Okay."
So ging die Fahrt weiter. Hagrid aß drei Schokofrösche auf einmal und Remus sammelte einen Stapel mit Morgana Le Fays, Merlins und vielen anderen berühmten Hexen und Zauberern.
"Ah, hier hast du einen guten", sagte Hagrid, als er den letzten Frosch auspackte. "Albus Dumbledore. Du hast ihn schon kennen gelernt, nicht?"
"Ja. Er hat uns diesen Sommer zu Hause besucht. Er war so nett, mich nach Hogwarts zu lassen, obwohl ... obwohl ich ein ..."
"Schon gut", sagte Hagrid schnell. "Du brauchst mir nichts erzählen. Ich weiß schon Bescheid. Professor Dumbledore hat's mir gesagt. Er vertraut mir."
Seine riesige Brust schwoll, sofern dies möglich war, auf ihre doppelte Größe an.
"Das ist ja das Tolle an ihm, weißt du. Er glaubt an Leute. Gibt ihnen eine Chance. Auch solchen, die andere meiden würden - Leute wie du und ich."
Remus blickte rasch auf, aber Hagrid war auf einmal wie fasziniert von einigen Bohnen in allen Geschmacksrichtungen, die er in einer weiteren Manteltasche fand, und das Thema kam nicht wieder auf. ---------------------------------------------------------------------------- -----------------------
6 - Willkommen in Hogwarts
---------------------------------------------------------------------------- -----------------------
Als Sie den Bahnhof von Hogsmeade erreichten, war es bereits dunkel draußen. Remus fragte sich gerade, wie er seine Truhe und seinen Kessel zum Schloss tragen sollte, als zwei große Hände die Truhe aus der Ablage holten und Hagrid sich den Kessel unter den Arm klemmte, als wäre er bloß eine kleine Vase.
"Die trag ich schon", sagte Hagrid freundlich. "Komm mit."
Remus folgte dem Wildhüter von Hogwarts aus dem Bahnhof und durch die Dunkelheit, bis sie an das Ufer des schwarzen Sees kamen.
"Heute fahren wir über den See zum Schloss", erklärte Hagrid. "Es ist Tradition, dass die Schüler im ersten Jahr Hogwarts auf diesem Weg erreichen, und Professor Dumbledore wollte, dass dein Empfang dort so weit es geht genauso ist, wie der, den die anderen morgen erleben werden."
Er legte die Truhe in einem Boot ab und Remus kletterte behutsam hinterher. Dann überquerten sie den stillen See. Als sie dem Schloss näher kamen, sah Remus, dass hinter vielen der Fenster Lichter funkelten. Der Mond kam hinter einer Wolke hervor, so dass das Schloss sich mit seinen zahllosen Türmen und Dächern gegen den kurz erhellten Nachthimmel abhob.
"Und, wie gefällt es dir?" fragte Hagrid.
"Es ist wunderschön", erwiderte Remus völlig überwältigt.
Falls das möglich war, war er vom Anblick der gewaltigen Treppe sogar noch mehr beeindruckt, als sie sie endlich errichten, und der große Speisesaal - der bis auf vier lange Tische, über denen Kerzen schwebten, und den Lehrertisch ganz hinten leer war - raubte ihm den Atem. Ewig starrte er den verzauberten Himmel an, der noch viel prächtiger war, als er in den Büchern über Hogwarts beschrieben wurde.
Hagrid ließ die Truhe an der Tür stehen und führte Remus den ganzen Saal entlang bis zum Lehrertisch, wo zwei Personen sie erwarteten. Dort stand Professor Dumbledore, heute in himmelblau gekleidet. Neben ihm stand eine Hexe mittleren Alters mit strengem Gesicht, einem Gewand im Schottenmuster, sehr dünnen Lippen, streng zu einem Dutt gebürsteten Haaren und durchdringenden Augen, die ihn durch ihre eckige Brille musterten.
"Ah, Hagrid. Wie ich sehe, haben Sie uns unseren neuen Schüler gebracht", sagte Dumbledore.
"Ja, Sir, Professor Dumbledore. Professor McGonagall." Hagrid neigte den Kopf leicht vor der streng aussehenden Hexe.
"Ausgezeichnet", setzte Dumbledore fort. "Hat Hagrid sich gut um dich gekümmert, Remus?"
"Ja, Sir. Danke."
Remus spürte, wie unter Professor McGongalls scharfen Augen alle Freude und der Mut, den er während der Zugfahrt wiedergefunden hatte, wieder aus ihm wich.
"Nun gut", redete der Direktor weiter. "Du bist sicher müde und willst dich heute bestimmt früh schlafen legen, denn morgen Nacht wirst du ja nicht viel Ruhe finden. Aber erst müssen wir herausfinden, wo wir dich unterbringen."
Remus sah etwas besorgt aus. Dumbledore lächelte mild.
"Keine Sorge, wir werden schon ein Plätzchen für dich finden. Die Frage ist nur, wo genau. Minerva, den Hut, bitte."
Professor McGonagall trat beiseite, so dass Remus einen hölzernen Hocker und einen schäbigen alten Hut sehen konnte. Diesen hob sie hoch und wies Remus zum Hocker. Er setzte sich, und sofort setzte sie ihm den großen Hut auf den Kopf, so dass er ihm die Sicht versperrte.
*Was ist denn das?* fragte der Hut auf seinem Kopf. *Ein Schüler, heute schon? Ich dachte, ihr kommt erst morgen, ich habe mein Lied extra vorbereitet. Ah ...*
Er schien über etwas nachzudenken, was er in Remus' Kopf entdeckt hatte.
*Ein Werwolf also? Deshalb kommst du eine Nacht zu früh. Na so was. Was mag wohl noch auf uns zukommen? Nun dann, wohin mit dir? Lass mal sehen ... Du hast einen regen Verstand, junger Remus Lupin. Du bist wissbegierig. Du willst viel lernen, aber auch andere erfreuen. Das macht die Sache etwas schwierig. Deine Intelligenz macht mich fast geneigt, dich nach Ravenclaw zu schicken, und doch ... Ein Hufflepuff dient gern anderen, aber nein, dafür bist du doch zu kühn, du gehst gern deinen eigenen Weg. Ich denke, vielleicht ... ja. Ja, jetzt sehe ich es. Es steckt viel Mut in dir. Du wirst viel ertragen, aber niemals verzagen. Ja ...*
Remus zitterte. Er fragte sich, wie der Hut so genau zu wissen glauben konnte, was in ihm steckte, wo er es doch nicht einmal selbst wusste. Und er fragte sich, was der Hut jetzt sagen würde. Es schien eine Ewigkeit zu dauern, ehe die Entscheidung kam. Doch dann, endlich, sprach der Hut laut und deutlich, so dass alle Anwesenden es hörten.
"Gryffindor!"
Professor McGonagall nahmen den Hut von Remus' Kopf. Professor Dumbledore nickte.
"Ja", sagte er. "Das hatte ich vermutet. Gut. Minerva, damit fällt er unter Ihre Obhut. Ich denke, du solltest jetzt einen Happen essen, Remus, und dich dann ausruhen. Gute Nacht."
Damit machte Dumbledore kehrt und verließ den Saal zusammen mit Hagrid. Remus war mit Professor McGonagall allein. Sie schaute zu ihm herab, und für einen kurzen Moment kam sie Remus etwas weniger streng vor.
"Nun, Lupin, dann kommen Sie mal besser mit mir", sagte sie dann mit einer Stimme, die glühende Kohlen gefrieren lassen konnte.
Er folgte ihren schnellen Schritten aus dem Saal und mehrere Treppen hinauf. Sie erreichten einen Flur, in dem das Bild einer dicken Frau in einem rosa Kleid hing. Sie sah ihnen leicht neugierig entgegen.
"Was haben wir denn da? Einen Frühaufsteher?" bemerkte sie.
"Flohhüpfen", sagte Professor McGonagall.
Remus starrte unverständig, doch die Frau im Gemälde zuckte lediglich die großzügig proportionierten Schultern.
"Wie Sie meinen, Professor", sagte sie, und schwang auf ihren Scharnieren zurück, so dass ein Loch in der Wand erschien.
Remus kletterte nach der Lehrerin hindurch und sie kamen in einem runden Turmzimmer aus, wo ein freundliches Feuer im Kamin knisterte. Ein Teller mit kaltem Schinken, Käse, mehreren Scheiben Toast und Marmelade stand mit einem Glas und einem großen Krug Milch auf einem Tisch.
"Dies ist der Gryffindor-Gemeinschaftsraum", erklärte die Lehrerin. "Ihr Schlafzimmer finden Sie hinter der Tür. Gehen Sie die Treppe hinauf bis ganz nach oben. Ihre Truhe wurde bereits dorthin gebracht. Guten Appetit, und gute Nacht."
Und damit ging sie wieder, und Remus blieb allein zurück. Doch er stellte fest, dass ihn das gar nicht so sehr störte. Das Feuer wärmte nicht nur den Körper, sondern auch sein Herz. Und morgen würden die anderen Schüler eintreffen. Er nahm in einem der großen Sessel Platz und zog sich den Tisch näher heran. Auf einmal hatte er Kohldampf, und als er endlich die Treppe hinaufstieg, um schlafen zu gehen, war auf dem Teller kein Krümel und in dem Krug kein Tropfen mehr.
