Vorgeschichte, Teil 7: Die Marauder entstehen
---------------------------------------------------------------------------- ----------------------------------
1 - Ferien
---------------------------------------------------------------------------- ----------------------------------
Sirius saß, in seinen Winterumhang gehüllt, auf einer Bank neben dem festgefrorenen See. Er häufte lustlos mit seiner Stiefelspitze kleine Schneeberge an. Es war ein später Nachmittag Anfang Dezember, und in Hogwarts griff bereits die Weihnachtsstimmung um sich. Alle packten in versteckten Ecken heimlich Geschenke ein, Hagrid hatte mehrere riesige Tannenbäume ins Schloss geschleppt, die Rüstungen in den Fluren studierten unter Professor Flitwicks erfahrener Aufsicht Weihnachtslieder ein und die meisten Schüler freuten sich darauf, die Ferien zu Hause zu verbringen. Sirius Black war jedoch nicht weihnachtlich zumute. Er hatte keine Familie, und würde ein einsames Weihnachtsfest hier in Hogwarts verbringen. James würde zu seiner Mutter heimfahren, Remus würde Weihnachten bei seinen Eltern verbringen und Peter fuhr natürlich nach Hause zu seinen Eltern und Schwestern. Nein, Sirius hatte keinen Grund, sich auf das Weihnachtsfest zu freuen.
Plötzlich hörte er hinter sich einen vertrauten Ruf und Schritte, die in seine Richtung rannten.
"Sirius, Sirius!" schrie James fröhlich lachend, bremste scharf ab, ließ sich atemlos auf die Bank fallen und wedelte mit einem Pergamentstück. "Sirius, rate mal, was das ist."
"Sag du's mir," erwiderte Sirius gereizt.
"Das ist ein Brief von meiner Mutter", keuchte James. "Und weißt du, was sie schreibt?"
"Nein."
Sirius sah aus, als sei es ihm auch völlig gleichgültig, was Mrs. Potter zu sagen hatte, doch James grinste nur.
"Dir wird die schlechte Laune bald vergehen, Sirius", versprach er. "Weißt du, ich habe Mum geschrieben und ihr alles über dich erzählt - na ja, alles vielleicht nicht. Ich hab ihr nichts davon gesagt, dass du letzte Woche Bubotuber-Eiter auf Snapes Schal geschmiert hast. Und ich hab auch irgendwie vergessen zu erzählen, dass du das eine Mal den Kitzeltrank in Professor Flitwicks Tee gemischt hast. Und dass ..."
"Jetzt komm endlich auf den Punkt, James", bat Sirius. "Ich bin echt nicht in Stimmung."
"Aber gleich wirst du's sein. Ich habe Mum nämlich erzählt, was für ein toller Freund du bist, dass du aber keine Familie hast und so und traurig bist, weil du Weihnachten alleine hier bleiben musst ..."
"Ich bin nicht traurig!" schnaubte Sirius.
James fuhr unerschrocken fort. "Kannst du vielleicht mal eine Minute den Mund halten? Ich versuche gerade, dir zu sagen, dass meine Mutter dich einlädt, Weihnachten bei uns zu feiern!" schloss er.
Sirius starrte ihn an. "Das ist doch ein Scherz!"
"Nein." James grinste. "Keinesfalls. Wie sieht's aus, kommst du?"
Sirius saß einen Moment lang benommen da, dann breitete sich auch auf seinem Gesicht ein Grinsen aus. "Versuch mal, mich davon abzuhalten!"
"Hallo", sagte eine Stimme hinter ihnen. "Ihr seht aber gut gelaunt aus."
"Remus!"
James wandte sich zu ihrem Freund um. "Du bist zurück! Komm, setz dich. Du siehst ganz schön fertig aus."
Er hatte Recht. Remus sah fast genauso aus, wie bei ihrem ersten Kennenlernen. James fand es seltsam, dass sein Freund immer so kränklich wirkte, wenn er fort gewesen war. Das war schon mehrere Male vorgekommen, seit sie sich kannten. Im Oktober war seine Mutter krank gewesen. Dann hatte er zur Beerdigung seiner Großmutter mütterlicherseits gemusst. Und gestern Abend war seine Mutter wieder krank geworden. Doch wann immer Remus von diesen kurzen Besuchen zu Hause zurückkehrte, war er derjenige, der krank aussah. James war besorgt. Er hoffte, dass das kein Hinweis war, dass sein Freund unter derselben schweren Krankheit litt, die seine Mutter regelmäßig zu befallen schien.
"Wie geht es deiner Mutter?" fragte er, als Remus sich gesetzt hatte.
"Ganz gut", erwiderte Remus kurz und wechselte schnell das Thema. "Was habt ihr beiden denn zu feiern?"
"Sirius kommt über Weihnachten mit zu mir", erklärte James.
"Das ist ja toll", sagte Remus und freute sich für seinen Freund. "So können wir alle zusammen nach London fahren. Wir alle vier in einem Abteil - so was hat der Hogwarts Express noch nie erlebt."
Sie lachten.
---------------------------------------------------------------------------- ----------------------------------
Die letzten Schultage dehnten sich ins Endlose, aber dann war es endlich Zeit, die Truhen zu packen und zum Bahnhof von Hogsmeade zu gehen. James kam es vor, als müsste die Schule jetzt vollkommen leer sein, so viele Schüler standen auf dem Bahnsteig.
Er, Sirius, Remus und Peter fanden ein leeres Abteil und hatten viel Spaß auf der Fahrt nach London. Sie sprachen über das, was sie zu Hause vorhatten und grübelten, welche Geschenke wohl auf sie warteten. Die Zeit verging wie im Fluge, und ehe sie sich's versahen wurde der Express langsamer und fuhr auf Gleis 9 ¾ ein. Sirius verließ als Erster den Zug und die anderen reichten ihm eine Truhe nach der anderen entgegen. Dann kletterten auch sie auf den Bahnsteig herab und schauten sich nach ihren Familien um.
Eine blonde junge Frau neben der Schaffnerhütte winkte ihnen zu. James kamen ihre kleine Stupsnase und die kleinen, perlenartigen Augen gleich bekannt vor. Peter entdeckte sie auch und winkte zurück.
"Das ist Pippa!" rief er. "Tja, dann will ich mal. Wir sehen uns dann nach Weihnachten."
Er hob ein Ende seiner Truhe hoch und zog sie mit sich fort. James, Sirius und Remus schoben ihre Truhen vom Zug weg. Sirius, der Größte von den dreien, stellte sich auf die Zehenspitzen und hielt über die Köpfe der Menge hinweg Ausschau nach Personen, die mit seinen Freunden verwandt sein könnten. Schließlich entdeckte er eine Frau mit schulterlangen braunen Haaren, die für die Welt der Zauberer seltsam gekleidet war, da sie ein graues Kostüm trug, wie es Muggel-Frauen oft hatten.
"Kannst du jemanden sehen?" fragte James.
"Ich weiß nicht. Ist das vielleicht ..."
James folgte Sirius' Blickrichtung und begann, mit beiden Armen zu wedeln. Die Frau lächelte und kam auf sie zu. Als sie die Jungen erreichte, umarmte sie James.
"Das ist meine Mutter", sagte James, während er seine Brille zurechtrückte. "Mum, das sind Sirius und Remus."
"Hallo", sagte Mrs. Potter freundlich.
Sie antworteten höflich. Dann rief Remus: "Da sind meine Eltern!" und zeigte auf sie.
James wandte sich neugierig um, um die zwei Personen zu betrachten, die jetzt in ihre Richtung kamen. Der Mann hatte sehr dunkle Haare und sah recht gut aus mit seinen leuchtend blauen Augen. Aber es war die Frau - zweifellos Remus' Mutter, da sie ihm so ähnlich sah - die ihn wirklich faszinierte. Er hatte natürlich immer erwartet, dass sie so ähnlich aussehen würde. Das lange, hellbraune Haar und die braunen Augen hatte er sich genau so vorgestellt. Allerdings hatte er nicht erwartet, dass sie so gesund und voller Leben scheinen würde. Die Krankheiten, aufgrund derer Remus mehr als einmal die Schule verlassen und sie besucht hatte, hatten in ihm das Bild einer kränklichen Person geweckt, die etwas von Remus' müden Gesichtszügen und schweren Augenlidern hatte. Ganz bestimmt hatte er nicht die roten Wangen und die Fröhlichkeit erwartet, die er jetzt fand. Als sie sie erreichte und begrüßte stellte James fest, dass er Mrs. Lupin gut leiden konnte, und das Rätsel um ihre Krankheit beschäftigte ihn mehr denn je.
---------------------------------------------------------------------------- ----------------------------------
2 - Remus Lupins Dilemma
---------------------------------------------------------------------------- ----------------------------------
Remus kam zum Frühstück die Treppe herunter und staunte dabei, wie schnell die Zeit wieder einmal vorbeigestrichen war. Er versuchte, sich jeden Augenblick seines Besuches zu Hause genau einzuprägen. Im Wohnzimmer flackerte ein fröhliches Feuer, die altbekannte Stufe knarrte unter seinem Gewicht. Aus der Küche wehte ihm der Duft frisch gebackenen Brotes entgegen und das Summen seiner Mutter klang so lieblich, dass es schmerzte, sie so bald wieder verlassen zu müssen. Er betrat den Raum so leise es ging, um sie nicht zu stören, aber Faith drehte sich sofort zu ihm herum und lächelte.
"Ich kann es kaum glauben, dass du uns so bald schon wieder verlässt", seufzte sie.
"Ich auch nicht, Mum", antwortete er und rutschte auf einen Küchenstuhl. "Ich wünschte, die Ferien wären noch etwas länger. Wenigstens eine Woche", platzte es aus ihm heraus.
Seine Mutter blickte scharf zu ihm herüber und setzte sich mit einem weisen Lächeln ihm gegenüber hin.
"Verstehe", sagte sie leise. "Also hatte ich Recht."
"Recht?" fragte Remus, obwohl er die Antwort bereits erraten hatte. "Recht womit?"
"Du hast es ihnen nicht gesagt, nicht wahr? Deinen neuen Freunden. James, Sirius und Peter. Sie wissen nicht, dass du ein Werwolf bist."
Remus fuhr leicht zusammen.
"Nein", gab er zu. "Ich hab es ihnen nicht erzählt. Weiß - weiß Dad es schon?" fügte er besorgt hinzu.
"Nein", versicherte seine Mutter.
Remus seufzte erleichtert. Er wollte nicht, dass sein Vater erfuhr, dass er zu feige gewesen war, den anderen die Wahrheit zu sagen. Sein Vater würde nur enttäuscht von ihm sein ... so enttäuscht, wie Remus es von sich selbst war. Und doch ...
"Darf ich fragen, warum du es ihnen nicht gesagt hast?" fuhr seine Mutter fort.
Remus stand auf und wandte sich ab, aber er spürte die Augen seiner Mutter genauso intensiv, als wenn er sie direkt angesehen hätte.
"Ich kann es nicht. Wenn sie herausfinden, was ich bin, dann werden sie nichts mehr mit mir zu tun haben wollen. Das will doch keiner. Nicht mal meine eigene Großmutter."
"Die Mutter deines Vaters suchte nur nach einem Vorwand. Sie konnte mich nie leiden und mein Kind daher auch nicht. Sie gab meinem 'schlechten Blut' die Schuld an dem, was mit dir geschehen ist. Dein Vater hat es ihr nie verziehen."
"Sie ist aber nicht die einzige. Niemand will mit einem Werwolf zusammen sein. Warum sollten meine Freunde anders reagieren?"
"Eben weil sie deine Freunde sind. Wenn deine Freundschaft ihnen auch nur das Geringste bedeutet, dann wird es ihnen egal sein. Sie werden dich so nehmen, wie du bist, und dich trotzdem mögen."
"Das sagst du doch nur, weil du mich liebst", sagte Remus ungeduldig.
"Ja", sagte seine Mutter so sanft, dass der Junge nicht anders konnte, als sie wieder anzusehen und sich vom liebevollen Ausdruck ihrer Augen zutiefst bewegen zu lassen.
"Ich liebe dich, Remus", setzte sie fort. "Und wer dich so kennt, wie ich es tue, wird dich ebenfalls lieben. Sag es ihnen, Remus. Stell ihre Freundschaft auf die Probe."
Remus dachte lange nach. Endlich sagte er: "Ich weiß nicht, ob ich das kann, Mum. Ich weiß nicht, ob ich den Mut hätte, weiterzumachen, wenn ... wenn sie mich im Stich lassen."
Faith Lupin lächelte und kam zu ihm. Sie strich ihm eine Strähne aus den Augen und küsste ihn auf die Stirn.
"Du kannst, mein Schatz. Du hast mehr Mut als du ahnst."
Remus rang sich ein Lächeln ab. Doch er war immer noch nicht sicher.
---------------------------------------------------------------------------- ----------------------------------
3 - James Potters Entdeckung
---------------------------------------------------------------------------- ----------------------------------
Die Ferien waren vorbei. Zurück in Hogwarts schaute Peter gebannt zu, während James begann, ein besonderes Geschenk auszupacken, dass er zu Weihnachten bekommen hatte. Sirius hatte sich grinsend auf seinem Bett ausgestreckt. Er wusste schon, was James da hatte. Remus hockte auf der Fensterbank und beachtete sie kaum, er starrte mit leerem Blick auf die peitschende Weide herab und ging in Gedanken immer wieder das Gespräch mit seiner Mutter durch.
"Wunderschön!" flüsterte Peter beeindruckt. "Was ist das?"
"Abwarten."
"Hey, Remus, komm mal her!" rief Sirius. "Das darfst du dir nicht entgehen lassen!"
Remus zwang sich, das Fenster zu verlassen. James hielt einen langen Umhang aus einem schillernden, undefinierbaren Stoff hoch. Einmal schien er in Tausend Farben gleichzeitig zu leuchten, im nächsten Augenblick glaubte man, ihn sich eingebildet zu haben, dass er nur ein Traum am Rande der Erinnerung sei - man wusste, dass er da gewesen war, aber konnte ihn nicht ganz erfassen. Obwohl ihn seine privaten Sorgen so sehr beschäftigten, war Remus fasziniert.
"Zieh ihn an!" drängte Sirius.
James lächelte und schwang sich den Umhang um die Schultern. Dabei verschwanden seine Arme, sein Oberkörper, seine Beine, der ganze Junge vollständig aus dem Raum. Das einzige, was von ihm noch zu sehen war, war sein Kopf, der mitten in der Luft schwebte, und seine Finger, die den Umhang am Hals festhielten. Peter atmete tief ein. Remus starrte.
"Das ist ein Tarnumhang", sagte Sirius so stolz, als wäre es sein eigener. "Das perfekte Hilfsmittel für nächtliche Ausflüge, findest du nicht, Remus?"
"Er ist fantastisch", stimmte Remus zu.
"Wo hat deine Mutter ihn her?" fragte Peter James.
James, der unter dem Umhang hervorkam und ihn sorgsam faltete, sagte:
"Sie sagt, sie hat ihn gar nicht gekauft. Er wurde per Post geschickt und es war keine Karte dabei. Mum sagt, sie kennt nur zwei Leute, die mal so einen Umhang hatten, aber er kann von keinem der beiden sein."
Er runzelte die Stirn.
"Mehr wollte sie mir nicht sagen."
Remus trat näher und berührte den Stoff vorsichtig.
"Erstaunlich. Er muss seinen ursprünglichen Besitzer ein Vermögen gekostet haben. Aber ... hältst du es nicht für gefährlich, ihn zu benutzen, wenn du nicht weißt, von wem er ist?" meinte er zweifelnd.
"Ach, komm schon", sagte Sirius, schwang die Beine vom Bett und stellte sich neben sie.
"Was sollte denn daran bitteschön faul sein? Ich meine, wer würde so etwas verhexen?"
Er nahm James den Umhang ab und wickelte ihn sich um die Hüfte, so dass sein Oberkörper und seine Beine getrennt herumzulaufen schienen. Remus schien noch immer besorgt.
"Remus", sagte James ernst, "ich finde, Sirius hat Recht. Der einzige, der mir etwas Verhextes zu Weihnachten schicken würde, ist Snape, und selbst der würde nicht so viel Geld ausgeben, nur um zu jemandem gemein zu sein."
"Wahrscheinlich hast du Recht", stimmte Remus ihm zu. "Es gäbe ja auch keinen Grund, warum dir jemand etwas Böses wollen könnte. Aber ich würde mich bedeutend wohler fühlen, wenn wir wüssten, wer ihn geschickt hat."
"Ach, entspann dich, Remus", schimpfte Sirius.
Er warf seinem Freund mit einem Lachen den Umhang über den Kopf und zerrte ihn zu Boden. James und Peter sahen lachend zu, während der halb unsichtbare Wirrwarr aus Armen und Beinen zappelte und endlich wieder auftauchte. Sirius und Remus lächelten sie beide an und schnappten nach Luft.
---------------------------------------------------------------------------- ----------------------------------
Der Unterricht begann viel zu schnell. Gleich am ersten Tag hatten sie eine Doppelstunde Zaubertränke und Verteidigung gegen die Dunklen Künste mit den Slytherins, was weiteren Spott von Severus Snape mit sich brachte. Aber James stellte fest, dass ihn das gar nicht so sehr störte. Wenn Snape ihm zu sehr auf die Nerven ging, dachte er einfach an den Umhang, der zusammengefaltet in seiner Truhe lag, und stellte sich den neidischen Blick auf Snapes Gesicht vor, wenn er davon wüsste. Er hielt den Umhang nach wie vor für ungefährlich, aber Remus hatte ihn veranlasst, sich mehr denn je zu wundern, wer ihn geschickt haben konnte. Welche zwei Personen konnte seine Mutter gemeint haben? Sie hatte keine Geschwister, so weit er wusste, keine Familie. Obwohl sie natürlich irgendwann einmal Eltern gehabt haben musste. James begann, über seine Großeltern nachzudenken. Ob sie noch am Leben waren? Hatte einer von ihnen ihm den Umhang geschickt? Oder kam er - sein Herz hüpfte in seiner Brust - vielleicht von seinem Vater? Die Stimme des Lehrers entriss ihn seinen Gedanken, als er eine Frage gestellt bekam, auf die Sirius ihm schnell die Antwort zuflüsterte, während Snape ihn aus der Ferne höhnisch angrinste.
Am Freitag Nachmittag unterbrach Professor McGonagall die Schneeballschlacht im Freien, indem sie abermals Remus abholte. Er entschuldigte sich und bat die anderen, nicht auf ihn zu warten. James entsann sich sofort wieder seiner Bedenken vor den Ferien und war so damit beschäftigt, über die mysteriösen Abwesenheiten seines Freundes zu grübeln, dass Sirius' Schneeball völlig überraschend auf sein linkes Ohr klatschte.
---------------------------------------------------------------------------- ----------------------------------
Remus kam den ganzen Nachmittag und Abend nicht zurück. Sirius war längst eingeschlafen und hinter Peters und Franks Vorhängen kam Schnarchen hervor, doch James Potter saß immer noch auf dem Fenstersims und starrte in die Nacht hinaus.
Er ließ die Augen ziellos über den schneebedeckten Rasen schweifen und dachte an den Spaß, den er und seine Freunde beim Auskundschaften des Geländes haben würden, jetzt, wo er seinen neuen Umhang hatte. Vielleicht würden sie ja sogar eines Nachts in den Verbotenen Wald vordringen, vielleicht an einer Nacht wie dieser, wenn der volle Mond genug Licht abgab, so dass man keine Laterne benötigte, die einen verraten konnte. James schaute zum Mond hinauf und bewunderte seine Klarheit, das milchige Leuchten der riesigen Scheibe, die von hier oben aus greifbar nahe wirkte. Er drehte sich um und sah sich im Schlafraum um, der hier in Hogwarts sein Zuhause war.
Mondlicht fiel auf das leere Bett an der gegenüberliegenden Wand, und die Sorge schloss sich mit eiskalter Hand um James' Herz. Er war überzeugt, dass mit Remus etwas ganz und gar nicht stimmte, und es quälte ihn, nicht zu wissen, was es war. Er hatte irgendwie das Gefühl, dass er es längst wissen sollte. Das Wissen lauerte in seinem Verstand, ein Gedanke, der eklig langsam Gestalt annahm, wie ein Wort, das einem auf der Zunge lag und sich weigerte, ausgesprochen zu werden. Je mehr man versuchte, es zu finden, desto weiter glitt es einem davon. Gleichzeitig war er sicher, dass es sehr wichtig war, die Wahrheit herauszufinden. In der relativ kurzen Zeit, die er bisher in Hogwarts verbracht hatte, waren ihm die anderen Gryffindors sehr ans Herz gewachsen. Er konnte den Gedanken nicht ertragen, dass einer von ihnen ernsthaft krank sein könnte. Mit einem tiefen Seufzen und einem schweren Herzen schleppte James sich endlich ins Bett.
Seine Träume waren unruhig. Immer wieder erschien der Umriss einer gewaltigen Kreatur, die sich wie ein schwarzer Schatten vor einem blassen Licht abhob, dessen Ursprung er nicht erkennen konnte, obwohl es ihm vertraut vorkam. Er drehte sich im Schlaf um und versuchte, dem bedrohlichen Wesen den Rücken zuzukehren, aber er konnte es nicht.
Er hörte schwere Schritte auf trockenem Laub und spürte seinen eigenen Atem. Dann erkannte er die Schritte als seine eigenen. Er rannte, lief vor etwas weg. Oder - nicht? Je schneller er lief, desto näher schien er dem Ding zu kommen - was immer es auch sein mochte. Ein großer, grauer Schatten, derselbe, vor dem er eben noch geflohen war. Doch nun schien er gar nicht mehr bedrohlich. Er war vielmehr ... sanft. Hilflos. Einsam. James blieb ein paar Schritte entfernt stehen.
Die Kreatur drehte den Kopf, und James blickte in ein Paar große, braune Augen. Sie waren traurig und müde und kamen ihm auf seltsame Weise bekannt vor. Es schmerzte ihn, das Wesen allein und ohne Freunde zu sehen. Es schien ihn um Hilfe bitten zu wollen, schien ihn anzuflehen, doch irgend etwas zu tun, was seine traurige Existenz erträglicher machen würde. Aber was konnte ein Elfjähriger schon tun? Er wich dem sehnsüchtigen Blick aus, schaute weg, sah gen Himmel - und mit einem Mal wusste er es.
James setzte sich mit einem Ruck auf. Ausnahmsweise konnte er sich noch so klar an seinen Traum erinnern, als wäre das alles tatsächlich passiert. Er riss den Vorhang seines Bettes beiseite und blinzelte. Der volle Mond erhellte noch immer den Raum und schien direkt auf das Kopfkissen des leeren Bettes. James griff nach seiner Brille. Sein Herz schlug wie wild. Wenn er Recht hatte, dann machte natürlich alles Sinn. Die Lösung war so einfach, dass er sich wunderte, dass sie ihm nicht schon früher eingefallen war.
Er kletterte aus dem Bett und holte seine Truhe so leise es ging darunter hervor. Dann nahm er seinen neuen Umhang heraus und zog ihn an. Er dachte kurz daran, Sirius zu wecken, aber entschied sich dagegen. Er war sich zwar ziemlich sicher, dass er Recht hatte, trotzdem musste er aber absolute Gewissheit haben, bevor er seine Theorie weitererzählte. Er schlich sich auf Zehenspitzen aus dem Raum, kroch die Treppe hinunter, durch das Loch in der Wand, und machte sich auf zur Bibliothek.
---------------------------------------------------------------------------- ----------------------------------
4 - Sirius Blacks Plan
---------------------------------------------------------------------------- ----------------------------------
"James? James, wach auf!"
Sirius warf den Vorhang zurück und hielt inne. Das Bett war leer. Verduzt wandte er sich an die anderen beiden.
"James ist weg."
"Vielleicht hatte er Hunger und ist schon mal frühstücken gegangen", schlug Peter vor.
"Das würde er nicht tun. Nicht, ohne mich vorher zu wecken", meinte Sirius. Er klang verletzt.
"Tja", sagte Frank und klopfte sich auf den Magen, "also ich verhungere. Ich gehe nach unten. Kommt einer mit?"
Peter nickte. Er und Frank verließen den Raum, doch Sirius setzte sich auf das Ende von James' Bett und runzelte die Stirn. Er sah plötzlich hoch. Hatte da nicht eben der Fußboden geknarrt? Die Tür zum Schlafraum schloss sich wie von alleine.
"Was zum -" setzte er an, aber eine andere Stimme sagte:
"Psssst."
Etwas bewegte sich, und auf einmal stand James direkt vor ihm. Seinen Tarnumhang hatte er sich über den einen Arm gelegt, in der anderen Hand hielt er ein dickes Buch. Er kam zum Bett herüber, legte den Umhang in die Truhe zurück und nahm neben Sirius Platz.
"James - wo hast du gesteckt?" fragte Sirius verwirrt. "Warum hast du mich nicht mitgenommen?"
"Tut mir Leid", erwiderte James. "Ich musste mir einfach nur wirklich sicher sein, bevor ich es jemandem erzähle."
"Bevor du was erzählst?"
Als Antwort legte James ihm das schwere Buch auf den Schoß.
"Viecher und Vögel in der Zauberwelt", las Sirius darauf. "James, was soll das Ganze?"
"Ich konnte letzte Nacht nicht gut schlafen", fing James an. "Ich habe nachgedacht. Darüber, dass Remus ständig 'nach Hause' fährt, weil in seiner Familie wieder irgendeine Katastrophe ausgebrochen ist. Du weißt doch, er behauptet immer, seine Mutter wäre krank. Na ja, ich fand es irgendwie seltsam, als wir sie Weihnachten gesehen haben, dass sie gar nicht krank wirkte. Und dann habe ich angefangen, zu grübeln - also eigentlich hatte ich das auch vorher schon. Aber ich habe dann wirklich scharf nachgedacht."
"Über was denn nun?"
"Darüber, warum Remus wirklich so häufig verschwindet. Und warum seine Mutter kerngesund aussieht, er aber immer todkrank wirkt, wenn er zurückkommt. Letzte Nacht habe ich die Antwort gefunden. Und es ist wirklich ganz offensichtlich! Ich könnte mich selber treten, wenn ich daran denke, wie blind ich war."
"Dann trittst du mich besser gleich mit, ich versteh' dich nämlich immer noch nicht", klagte Sirius.
"Die Antwort steht in diesem Buch. Aber eigentlich habe ich sie gefunden, weil ich bei Vollmond schlecht schlafe."
"Was hat das denn damit zu tun?"
"Verstehst du denn nicht?" flüsterte James aufgeregt. "Remus erfindet immer Ausreden, um zu verschwinden, wenn Vollmond ist. Ich habe so gut es ging alle Daten nachverfolgt, an denen seine Mutter angeblich krank war."
"Angeblich? Du meinst, er hat gelogen? Warum sollte er das tun?"
"Natürlich weil er nicht wollte, dass wir die Wahrheit erfahren."
"Die da wäre?" fragte Sirius.
"Siehst du das nicht selbst?" entgegnete James. "Er ist ein Werwolf, Sirius."
Sirius starrte ihn an.
"Du spinnst", sagte er endlich. "Ich meine, er kann doch nicht - er kann kein - Werwolf sein. Nicht Remus. Er ist doch so - so ..."
James nickte hastig.
"Ich weiß, es klingt verrückt. Aber die Tatsachen passen. Er erfindet jeden Monat bei Vollmond Ausreden, er kommt wieder und sieht schrecklich aus - er hat sogar graue Haare, dabei ist er erst elf!"
Sirius schaute James mit einem abwesenden Blick an. Was James da sagte, machte Sinn, wenn man darüber nachdachte. Es passte alles zusammen. Es erklärte alles, was zugegebenermaßen seltsam war an Remus Lupin. Und doch kam es Sirius unglaublich vor, dass ein Junge, den er - wenn er ehrlich war - immer für etwas verweichlicht gehalten hatte, oder sanft, um es netter auszudrücken, bei Vollmond zu einer brutalen Bestie mutieren sollte. Lange Zeit dachte er schweigend nach, denn er wusste nicht, was er sagen sollte. Endlich gab er zu, dass Remus Lupin zwar die Zähigkeit fehlte, die Sirius gefallen hätte, dass er aber dennoch ein anständiger Junge und guter Freund war. Schließlich brachte er nur hervor:
"Das - ist nicht fair, James."
Kurz kam ihm der Gedanke, dass diese Worte leer und irgendwie dumm klangen. Doch James blieb vollkommen ernst.
"Nein", stimmte er ihm zu. "Das ist es nicht."
"Aber warum die ganzen Lügen und Ausreden erfinden? Warum hat er es uns nicht einfach gesagt?" wunderte sich Sirius.
James zuckte die Achseln.
"Werwölfe sind im allgemeinen mehr als unbeliebt. Die meisten Zauberer behandeln sie doch wie Aussätzige. Oder schlimmer noch, wie gefährliche Monster. Eltern würden zum Beispiel nie wollen, dass ihr Kind mit einem Werwolf im selben Raum schläft. Ich denke, wenn meine Mutter hiervon gehört hätte, bevor sie Remus selbst kennen gelernt und gesehen hat, wie er so ist, dann hätte sie auch etwas dagegen. Vielleicht hätte sie das immer noch, wenn sie es wüsste. Remus muss wohl gedacht haben, wir würden nichts mehr mit ihm zu tun haben wollen, wenn wir die Wahrheit wüssten."
Sirius schüttelte den Kopf.
"Er sollte uns besser kennen. Wir sind seine Freunde."
"Wir haben leicht reden. Wir wissen doch nicht, welche Probleme er schon gehabt hat, bevor wir ihn kannten. Wir können uns unmöglich vorstellen, wie das ist."
Er schwieg kurz, dann sagte er:
"Die Frage ist nur, jetzt, wo wir es wissen - was tun wir?"
"Was können wir schon tun?" fragte Sirius hilflos.
James stand auf und schritt auf und ab. Er blieb am Fenster stehen und sah nachdenklich nach draußen. Endlich kam er zurück und setzte sich auf seine Truhe.
"Erst einmal", begann er, "müssen wir Remus sagen, dass wir es wissen, und dass es okay ist und wir trotzdem seine Freunde sind."
"In Ordnung. Zuerst sollten wir aber mit Peter sprechen. Für uns mag das ja schön und gut sein, aber ich weiß nicht, ob es ihm auch so wenig ausmachen wird, mit einem Werwolf befreundet zu sein."
James seufzte. "Du hast Recht. Aber mehr Leuten sollten wir es wirklich nicht sagen. Nicht mal Frank. Er verbringt sowieso viel mehr Zeit mit den Hufflepuffs, also dürfte er nicht zu böse auf uns sein, wenn er es irgendwann mal rausfinden sollte."
"Einverstanden. Also reden wir mit Peter, und dann sagen wir es Remus. Was dann?"
"Ich habe in allen Büchern, die ich finden konnte, nach einer Heilmethode gesucht. Nichts. Trotzdem muss es doch eine Möglichkeit geben, das Ganze für Remus erträglicher zu machen."
Sie saßen eine Weile schweigend da.
"Vielleicht gibt es wirklich einen Weg", meinte Sirius plötzlich.
Er legte das Buch vom Schoß, kramte ein anderes, sehr altes und ziemlich stark beschädigtes Werk aus seiner Truhe hervor und begann zu blättern.
"Ich habe mal irgendwann etwas über Werwölfe hier drin gelesen. Wenn ich Recht habe, dann ..."
Sein Gesicht erhellte sich, als er fand, was er gesucht hatte. Er zeigte auf die Seite, die er aufgeschlagen hatte.
"In diesem Buch steht, dass Werwölfe für Menschen extrem gefährlich sind. Wenn sie allein rumwildern, können sie auch manchmal Tiere anfallen. Aber hierin werden ein paar Werwölfe erwähnt, die sich mit Tieren angefreundet haben - zum Beispiel mit Hunden oder Bären. Es müssen wohl größere Tiere sein, die sie unter Kontrolle halten können."
James schaute seinem Freund gebannt zu, während dieser an einer Idee arbeitete. Gegen Ende hatte Sirius immer langsamer gesprochen, und nun hörte er ganz auf zu sprechen. James kannte ihn gut genug, um den verrückten Plan zu erahnen, den er schmiedete.
"Denkst du auch, was ich gerade denke?" fragte er.
Sirius lächelte verschlagen. "Vermutlich. Es würde bedeuten, dass wir noch mal mit deinem Umhang in die Bibliothek müssten. Die Bücher, die wir suchen, finden wir sicher nur in der verbotenen Abteilung, und es würde wohl kaum ein Lehrer die Erlaubnis unterschreiben, wenn wir ihm nicht sagen, was wir vorhaben. Und das geht nicht."
James grinste.
"Ein typischer à-la-Black-Plan also. Gefällt mir."
---------------------------------------------------------------------------- ----------------------------------
5 - Die Marauder
---------------------------------------------------------------------------- ----------------------------------
Remus stapfte an dem Quälgeist Peeves vorbei, der wieder einmal sang:
"Lusche, Lusche, Lupin."
Er war einfach zu müde, um sich von dem Poltergeist und seinen dummen Beleidigungen stören zu lassen. Er erreichte das Porträt an der Wand und murmelte das Weihnachtspasswort:
"Weihnachtswitze."
"Du siehst nicht aus, als ob du dafür in Stimmung wärst", gab die Dame im Porträt mitleidig zu bedenken und schwang sich beiseite.
Remus kletterte durch das Loch und stieg mit schweren Schritten die Treppe zum Schlafraum hinauf. Er hatte letzte Nacht starke Schmerzen gehabt, und die Tatsache, dass er schon wieder seine Freunde belogen hatte, und der sanfte Vorwurf seiner Mutter, dass er seinen Freunden immer noch nicht die Wahrheit gesagt hatte, schien seine Schultern noch schwerer zu machen. Er fuhr sich mit der Hand durch die Haare und über das Gesicht. Es kam ihm vor, als wäre zwischen seinen Augen eine weitere Sorgenfalte entstanden. Mit Mühe drückte er die Klinke runter und ging hinein. Dann blieb er wie festgefroren stehen.
Drei Gesichter waren ihm zugewandt. Links saß Peter, dessen kleine Augen zwischen James und Sirius hin- und herhuschten, Remus aber auswichen. Rechts saß Sirius wachsam im Schneidersitz auf dem Ende von James' Bett. Seine Augen waren - anders als die von Peter - starr auf Remus' Gesicht gerichtet und er sah ungewohnt ernst aus. In der Mitte thronte James wie ein König am Fußende von Sirius' Bett.
"Hallo", sagte Remus vorsichtig. "Was ist denn hier los?"
"Wir dachten nur, wir empfangen dich mal gebührend", erwiderte Sirius. "Wie geht es deiner armen Mutter? Oder war dieses Mal dein Vater krank? Ich hoffe, du hast nicht so lange am Krankenbett gesessen, dass du nicht zu einem schönen Vollmondspaziergang um Mitternacht gekommen bist."
Remus' Wangen wurden heiß. Oh nein. Das konnte er gerade wirklich nicht gebrauchen. Er war zu erschöpft.
"Du gehst doch sicher gerne bei Vollmond spazieren, oder?" setzte Sirius fort. "Ich nämlich schon, das ist so ..."
"Sirius", unterbrach ihn James, der in Remus' hageres Gesicht blickte. "Lass das."
Remus sah vom einen zum anderen und schließlich ruhten seine Augen auf James. Trotz der ungewohnten Kühle seiner Stimme sah er so freundlich und verständnisvoll aus wie immer. Remus hatte das Gefühl, als würde jemand sein Herz gewaltsam in seiner Brust herumdrehen. Dies waren die einzigen Freunde, die er je gehabt hatte. Wenn er sie verlieren sollte ...
"James, ich ...." fing er an, doch James hob die Hand und stand auf.
Er kam auf Remus zu und schaute ihn eine Weile an. Dann sah er sich kurz zu Sirius um und die beiden tauschten einen Blick. James drehte sich wieder Remus zu und lächelte, und Remus war froh, dass es dasselbe offene Lächeln war wie sonst auch. Und dann tat James etwas, was er noch nie zuvor getan hatte. Er umarmte Remus wie einen Bruder, und führte ihn fürsorglich zu seinem Bett.
"Setz dich", riet er. "Du siehst schrecklich aus, und wir wollen nicht, dass du uns gleich wegkippst. Wir haben dir nämlich erst noch etwas zu sagen."
Er setzte sich auf den Rand von Remus'. Peter und Sirius taten es ihm nach.
"Also", begann James sachlich, "wie du dir denken kannst, sind wir endlich darauf gekommen, dass du ein Werwolf bist. Keine Angst, Dumbledore hat nichts verraten, wir haben es selbst herausgefunden."
"Na ja, eigentlich war James das alleine", warf Sirius ein.
"Jedenfalls", setzte James fort, "als wir es herausfanden, haben wir mal angenommen, dass du deine Gründe hattest, uns nichts davon zu erzählen."
Remus nickte.
"Ich - ich dachte, ihr würdet nichts mehr von mir wissen wollen", sagte er. Er wollte seinem Glück noch immer nicht ganz trauen.
"Tja, ausnahmsweise hast du dich mal geirrt, wie du siehst," sagte Sirius lächelnd.
Sirius' typisches, freundschaftliches Necken brachte endlich auch Remus zum Schmunzeln.
"Ausnahmsweise bin ich sogar froh darüber", antwortete er.
Er hörte erstaunt, ungläubig, aber zufrieden zu, während James erklärte, wie er sein Geheimnis gelüftet hatte, und als James und Sirius ihm ihren Plan erläuterten - heimlich Animagi zu werden, um ihm nach seiner Verwandlung Gesellschaft leisten zu können - war er so überglücklich und dankbar, dass ihm die Worte fehlten. Es war, als steckte ihm ein riesiger Kloß im Hals, und seine Augen brannten wie wild. Die anderen sahen taktvoll weg, während er sich erholte. Sirius kramte ihre Karte von Hogwarts hervor.
"Also, Mr. Moony", sagte er fröhlich, "dann zeig uns doch mal, wo du dich in letzter Zeit rumgetrieben hast."
Er reichte Remus eine Feder und ein Tintenfass.
Aber Remus, der grinste, obwohl er noch müde aussah, wenn auch gesünder und weniger erschöpft, schob die Karte beiseite und holte stattdessen ein leeres Pergamentstück, eine Feder und eine andere Tinte hervor.
"Ich habe eine bessere Idee", sagte er. "Dieses Pergament und Tintenfässchen habe ich von meinen Eltern zu Weihnachten bekommen - es war das beste Geschenk, abgesehen von dem, das ihr drei mir gerade gemacht habt." Er strahlte.
Er zeigte mit dem Zauberstab auf die Karte und sagte:
"Als erstes brauchen wir ein Passwort. Einen originellen Spruch am besten, den nur wir vier kennen und den man aufsagen muss, um den Inhalt des Pergaments lesen zu können. Und dann noch einen Zauber, um es wieder zu schließen."
Sie dachten kurz nach. Dann streckte Sirius die Hand aus.
"Ich hab einen. Wie wäre es mit 'Ich schwöre feierlich, dass ich ein Tunichtgut bin'?"
Sie lachten.
"Ausgezeichnet", sagte Remus.
Er wiederholte die Worte und schwenkte dabei den Zauberstab über das Pergament. Dann fing er an, alle Striche von der alten Karte auf die neue zu übertragen. Er fügte noch einen Punkt hinzu, den er mit 'Peitschende Weide' beschriftete, und die andern sahen erstaunt zu, als er einen langen Tunnel einzeichnete, der vom Baum zum Rand der Karte führte.
"Unter der peitschenden Weide liegt ein Tunnel, der für mich gegraben wurde. Die Weide selbst wurde nur deswegen gepflanzt, um den Eingang zu verbergen. Es gibt einen Punkt an der Seite des Stammes, den man berühren muss, damit die Weide still steht. Der Tunnel führt zu einem leer stehenden Haus in Hogsmeade", erklärte er. "Der Heulenden Hütte. Und dort ... verwandle ich mich."
Eine Weile saßen sie alle schweigend da, dann nahm Sirius Feder und Karte von Remus und sagte:
"Hey, Pete ..."
Peter war von der ganzen Aufregung völlig abgelenkt und erschrak, als er angesprochen wurde.
"Ja?"
"Schaust du mal in meiner Truhe nach? Da ist irgendwo ein Buch, 'Die Kunst magischer Kartographie'. Mach das mal am Lesezeichen auf."
Peter tat es und reichte Sirius das dicke Buch. Sirius las schnell etwas nach und schaute dann zufrieden auf.
"Seht mal", flüsterte er, "das ist ein praktischer kleiner Trick, den wir mal im Heim angewendet haben, als wir eine Karte des Erzieherflügels angefertigt haben."
Er zeigte wieder mit dem Zauberstab auf die Karte und sagte:
"Omnis demonstratio."
Sofort begannen kleine Punkte, sich auf der Karte zu bewegen. Peter lehnte sich vor und sah sich die im Gryffindor-Turm genauer an. Sie waren mit 'James Potter', 'Remus Lupin', 'Peter Pettigrew' und 'Sirius Black' beschriftet.
"Das ist brillant", sagte er bewundernd.
"Darf ich?" fragte James und nahm die Karte und die Feder von Sirius.
Er dachte einen Moment lang nach, dann beugte er sich über das Pergamentstück und schrieb etwas am oberen Rand. Endlich lehnte er sich zufrieden zurück.
"Die Karte des Rumtreibers", las Sirius laut vor. "Sehr gut."
Er nahm seinen eigenen Zauberstab wieder zur Hand, schwenkte ihn über die Karte, wie Remus es zuvor getan hatte, und sagte:
"Unheil angerichtet."
Das Pergament war wieder leer.
---------------------------------------------------------------------------- ----------------------------------
1 - Ferien
---------------------------------------------------------------------------- ----------------------------------
Sirius saß, in seinen Winterumhang gehüllt, auf einer Bank neben dem festgefrorenen See. Er häufte lustlos mit seiner Stiefelspitze kleine Schneeberge an. Es war ein später Nachmittag Anfang Dezember, und in Hogwarts griff bereits die Weihnachtsstimmung um sich. Alle packten in versteckten Ecken heimlich Geschenke ein, Hagrid hatte mehrere riesige Tannenbäume ins Schloss geschleppt, die Rüstungen in den Fluren studierten unter Professor Flitwicks erfahrener Aufsicht Weihnachtslieder ein und die meisten Schüler freuten sich darauf, die Ferien zu Hause zu verbringen. Sirius Black war jedoch nicht weihnachtlich zumute. Er hatte keine Familie, und würde ein einsames Weihnachtsfest hier in Hogwarts verbringen. James würde zu seiner Mutter heimfahren, Remus würde Weihnachten bei seinen Eltern verbringen und Peter fuhr natürlich nach Hause zu seinen Eltern und Schwestern. Nein, Sirius hatte keinen Grund, sich auf das Weihnachtsfest zu freuen.
Plötzlich hörte er hinter sich einen vertrauten Ruf und Schritte, die in seine Richtung rannten.
"Sirius, Sirius!" schrie James fröhlich lachend, bremste scharf ab, ließ sich atemlos auf die Bank fallen und wedelte mit einem Pergamentstück. "Sirius, rate mal, was das ist."
"Sag du's mir," erwiderte Sirius gereizt.
"Das ist ein Brief von meiner Mutter", keuchte James. "Und weißt du, was sie schreibt?"
"Nein."
Sirius sah aus, als sei es ihm auch völlig gleichgültig, was Mrs. Potter zu sagen hatte, doch James grinste nur.
"Dir wird die schlechte Laune bald vergehen, Sirius", versprach er. "Weißt du, ich habe Mum geschrieben und ihr alles über dich erzählt - na ja, alles vielleicht nicht. Ich hab ihr nichts davon gesagt, dass du letzte Woche Bubotuber-Eiter auf Snapes Schal geschmiert hast. Und ich hab auch irgendwie vergessen zu erzählen, dass du das eine Mal den Kitzeltrank in Professor Flitwicks Tee gemischt hast. Und dass ..."
"Jetzt komm endlich auf den Punkt, James", bat Sirius. "Ich bin echt nicht in Stimmung."
"Aber gleich wirst du's sein. Ich habe Mum nämlich erzählt, was für ein toller Freund du bist, dass du aber keine Familie hast und so und traurig bist, weil du Weihnachten alleine hier bleiben musst ..."
"Ich bin nicht traurig!" schnaubte Sirius.
James fuhr unerschrocken fort. "Kannst du vielleicht mal eine Minute den Mund halten? Ich versuche gerade, dir zu sagen, dass meine Mutter dich einlädt, Weihnachten bei uns zu feiern!" schloss er.
Sirius starrte ihn an. "Das ist doch ein Scherz!"
"Nein." James grinste. "Keinesfalls. Wie sieht's aus, kommst du?"
Sirius saß einen Moment lang benommen da, dann breitete sich auch auf seinem Gesicht ein Grinsen aus. "Versuch mal, mich davon abzuhalten!"
"Hallo", sagte eine Stimme hinter ihnen. "Ihr seht aber gut gelaunt aus."
"Remus!"
James wandte sich zu ihrem Freund um. "Du bist zurück! Komm, setz dich. Du siehst ganz schön fertig aus."
Er hatte Recht. Remus sah fast genauso aus, wie bei ihrem ersten Kennenlernen. James fand es seltsam, dass sein Freund immer so kränklich wirkte, wenn er fort gewesen war. Das war schon mehrere Male vorgekommen, seit sie sich kannten. Im Oktober war seine Mutter krank gewesen. Dann hatte er zur Beerdigung seiner Großmutter mütterlicherseits gemusst. Und gestern Abend war seine Mutter wieder krank geworden. Doch wann immer Remus von diesen kurzen Besuchen zu Hause zurückkehrte, war er derjenige, der krank aussah. James war besorgt. Er hoffte, dass das kein Hinweis war, dass sein Freund unter derselben schweren Krankheit litt, die seine Mutter regelmäßig zu befallen schien.
"Wie geht es deiner Mutter?" fragte er, als Remus sich gesetzt hatte.
"Ganz gut", erwiderte Remus kurz und wechselte schnell das Thema. "Was habt ihr beiden denn zu feiern?"
"Sirius kommt über Weihnachten mit zu mir", erklärte James.
"Das ist ja toll", sagte Remus und freute sich für seinen Freund. "So können wir alle zusammen nach London fahren. Wir alle vier in einem Abteil - so was hat der Hogwarts Express noch nie erlebt."
Sie lachten.
---------------------------------------------------------------------------- ----------------------------------
Die letzten Schultage dehnten sich ins Endlose, aber dann war es endlich Zeit, die Truhen zu packen und zum Bahnhof von Hogsmeade zu gehen. James kam es vor, als müsste die Schule jetzt vollkommen leer sein, so viele Schüler standen auf dem Bahnsteig.
Er, Sirius, Remus und Peter fanden ein leeres Abteil und hatten viel Spaß auf der Fahrt nach London. Sie sprachen über das, was sie zu Hause vorhatten und grübelten, welche Geschenke wohl auf sie warteten. Die Zeit verging wie im Fluge, und ehe sie sich's versahen wurde der Express langsamer und fuhr auf Gleis 9 ¾ ein. Sirius verließ als Erster den Zug und die anderen reichten ihm eine Truhe nach der anderen entgegen. Dann kletterten auch sie auf den Bahnsteig herab und schauten sich nach ihren Familien um.
Eine blonde junge Frau neben der Schaffnerhütte winkte ihnen zu. James kamen ihre kleine Stupsnase und die kleinen, perlenartigen Augen gleich bekannt vor. Peter entdeckte sie auch und winkte zurück.
"Das ist Pippa!" rief er. "Tja, dann will ich mal. Wir sehen uns dann nach Weihnachten."
Er hob ein Ende seiner Truhe hoch und zog sie mit sich fort. James, Sirius und Remus schoben ihre Truhen vom Zug weg. Sirius, der Größte von den dreien, stellte sich auf die Zehenspitzen und hielt über die Köpfe der Menge hinweg Ausschau nach Personen, die mit seinen Freunden verwandt sein könnten. Schließlich entdeckte er eine Frau mit schulterlangen braunen Haaren, die für die Welt der Zauberer seltsam gekleidet war, da sie ein graues Kostüm trug, wie es Muggel-Frauen oft hatten.
"Kannst du jemanden sehen?" fragte James.
"Ich weiß nicht. Ist das vielleicht ..."
James folgte Sirius' Blickrichtung und begann, mit beiden Armen zu wedeln. Die Frau lächelte und kam auf sie zu. Als sie die Jungen erreichte, umarmte sie James.
"Das ist meine Mutter", sagte James, während er seine Brille zurechtrückte. "Mum, das sind Sirius und Remus."
"Hallo", sagte Mrs. Potter freundlich.
Sie antworteten höflich. Dann rief Remus: "Da sind meine Eltern!" und zeigte auf sie.
James wandte sich neugierig um, um die zwei Personen zu betrachten, die jetzt in ihre Richtung kamen. Der Mann hatte sehr dunkle Haare und sah recht gut aus mit seinen leuchtend blauen Augen. Aber es war die Frau - zweifellos Remus' Mutter, da sie ihm so ähnlich sah - die ihn wirklich faszinierte. Er hatte natürlich immer erwartet, dass sie so ähnlich aussehen würde. Das lange, hellbraune Haar und die braunen Augen hatte er sich genau so vorgestellt. Allerdings hatte er nicht erwartet, dass sie so gesund und voller Leben scheinen würde. Die Krankheiten, aufgrund derer Remus mehr als einmal die Schule verlassen und sie besucht hatte, hatten in ihm das Bild einer kränklichen Person geweckt, die etwas von Remus' müden Gesichtszügen und schweren Augenlidern hatte. Ganz bestimmt hatte er nicht die roten Wangen und die Fröhlichkeit erwartet, die er jetzt fand. Als sie sie erreichte und begrüßte stellte James fest, dass er Mrs. Lupin gut leiden konnte, und das Rätsel um ihre Krankheit beschäftigte ihn mehr denn je.
---------------------------------------------------------------------------- ----------------------------------
2 - Remus Lupins Dilemma
---------------------------------------------------------------------------- ----------------------------------
Remus kam zum Frühstück die Treppe herunter und staunte dabei, wie schnell die Zeit wieder einmal vorbeigestrichen war. Er versuchte, sich jeden Augenblick seines Besuches zu Hause genau einzuprägen. Im Wohnzimmer flackerte ein fröhliches Feuer, die altbekannte Stufe knarrte unter seinem Gewicht. Aus der Küche wehte ihm der Duft frisch gebackenen Brotes entgegen und das Summen seiner Mutter klang so lieblich, dass es schmerzte, sie so bald wieder verlassen zu müssen. Er betrat den Raum so leise es ging, um sie nicht zu stören, aber Faith drehte sich sofort zu ihm herum und lächelte.
"Ich kann es kaum glauben, dass du uns so bald schon wieder verlässt", seufzte sie.
"Ich auch nicht, Mum", antwortete er und rutschte auf einen Küchenstuhl. "Ich wünschte, die Ferien wären noch etwas länger. Wenigstens eine Woche", platzte es aus ihm heraus.
Seine Mutter blickte scharf zu ihm herüber und setzte sich mit einem weisen Lächeln ihm gegenüber hin.
"Verstehe", sagte sie leise. "Also hatte ich Recht."
"Recht?" fragte Remus, obwohl er die Antwort bereits erraten hatte. "Recht womit?"
"Du hast es ihnen nicht gesagt, nicht wahr? Deinen neuen Freunden. James, Sirius und Peter. Sie wissen nicht, dass du ein Werwolf bist."
Remus fuhr leicht zusammen.
"Nein", gab er zu. "Ich hab es ihnen nicht erzählt. Weiß - weiß Dad es schon?" fügte er besorgt hinzu.
"Nein", versicherte seine Mutter.
Remus seufzte erleichtert. Er wollte nicht, dass sein Vater erfuhr, dass er zu feige gewesen war, den anderen die Wahrheit zu sagen. Sein Vater würde nur enttäuscht von ihm sein ... so enttäuscht, wie Remus es von sich selbst war. Und doch ...
"Darf ich fragen, warum du es ihnen nicht gesagt hast?" fuhr seine Mutter fort.
Remus stand auf und wandte sich ab, aber er spürte die Augen seiner Mutter genauso intensiv, als wenn er sie direkt angesehen hätte.
"Ich kann es nicht. Wenn sie herausfinden, was ich bin, dann werden sie nichts mehr mit mir zu tun haben wollen. Das will doch keiner. Nicht mal meine eigene Großmutter."
"Die Mutter deines Vaters suchte nur nach einem Vorwand. Sie konnte mich nie leiden und mein Kind daher auch nicht. Sie gab meinem 'schlechten Blut' die Schuld an dem, was mit dir geschehen ist. Dein Vater hat es ihr nie verziehen."
"Sie ist aber nicht die einzige. Niemand will mit einem Werwolf zusammen sein. Warum sollten meine Freunde anders reagieren?"
"Eben weil sie deine Freunde sind. Wenn deine Freundschaft ihnen auch nur das Geringste bedeutet, dann wird es ihnen egal sein. Sie werden dich so nehmen, wie du bist, und dich trotzdem mögen."
"Das sagst du doch nur, weil du mich liebst", sagte Remus ungeduldig.
"Ja", sagte seine Mutter so sanft, dass der Junge nicht anders konnte, als sie wieder anzusehen und sich vom liebevollen Ausdruck ihrer Augen zutiefst bewegen zu lassen.
"Ich liebe dich, Remus", setzte sie fort. "Und wer dich so kennt, wie ich es tue, wird dich ebenfalls lieben. Sag es ihnen, Remus. Stell ihre Freundschaft auf die Probe."
Remus dachte lange nach. Endlich sagte er: "Ich weiß nicht, ob ich das kann, Mum. Ich weiß nicht, ob ich den Mut hätte, weiterzumachen, wenn ... wenn sie mich im Stich lassen."
Faith Lupin lächelte und kam zu ihm. Sie strich ihm eine Strähne aus den Augen und küsste ihn auf die Stirn.
"Du kannst, mein Schatz. Du hast mehr Mut als du ahnst."
Remus rang sich ein Lächeln ab. Doch er war immer noch nicht sicher.
---------------------------------------------------------------------------- ----------------------------------
3 - James Potters Entdeckung
---------------------------------------------------------------------------- ----------------------------------
Die Ferien waren vorbei. Zurück in Hogwarts schaute Peter gebannt zu, während James begann, ein besonderes Geschenk auszupacken, dass er zu Weihnachten bekommen hatte. Sirius hatte sich grinsend auf seinem Bett ausgestreckt. Er wusste schon, was James da hatte. Remus hockte auf der Fensterbank und beachtete sie kaum, er starrte mit leerem Blick auf die peitschende Weide herab und ging in Gedanken immer wieder das Gespräch mit seiner Mutter durch.
"Wunderschön!" flüsterte Peter beeindruckt. "Was ist das?"
"Abwarten."
"Hey, Remus, komm mal her!" rief Sirius. "Das darfst du dir nicht entgehen lassen!"
Remus zwang sich, das Fenster zu verlassen. James hielt einen langen Umhang aus einem schillernden, undefinierbaren Stoff hoch. Einmal schien er in Tausend Farben gleichzeitig zu leuchten, im nächsten Augenblick glaubte man, ihn sich eingebildet zu haben, dass er nur ein Traum am Rande der Erinnerung sei - man wusste, dass er da gewesen war, aber konnte ihn nicht ganz erfassen. Obwohl ihn seine privaten Sorgen so sehr beschäftigten, war Remus fasziniert.
"Zieh ihn an!" drängte Sirius.
James lächelte und schwang sich den Umhang um die Schultern. Dabei verschwanden seine Arme, sein Oberkörper, seine Beine, der ganze Junge vollständig aus dem Raum. Das einzige, was von ihm noch zu sehen war, war sein Kopf, der mitten in der Luft schwebte, und seine Finger, die den Umhang am Hals festhielten. Peter atmete tief ein. Remus starrte.
"Das ist ein Tarnumhang", sagte Sirius so stolz, als wäre es sein eigener. "Das perfekte Hilfsmittel für nächtliche Ausflüge, findest du nicht, Remus?"
"Er ist fantastisch", stimmte Remus zu.
"Wo hat deine Mutter ihn her?" fragte Peter James.
James, der unter dem Umhang hervorkam und ihn sorgsam faltete, sagte:
"Sie sagt, sie hat ihn gar nicht gekauft. Er wurde per Post geschickt und es war keine Karte dabei. Mum sagt, sie kennt nur zwei Leute, die mal so einen Umhang hatten, aber er kann von keinem der beiden sein."
Er runzelte die Stirn.
"Mehr wollte sie mir nicht sagen."
Remus trat näher und berührte den Stoff vorsichtig.
"Erstaunlich. Er muss seinen ursprünglichen Besitzer ein Vermögen gekostet haben. Aber ... hältst du es nicht für gefährlich, ihn zu benutzen, wenn du nicht weißt, von wem er ist?" meinte er zweifelnd.
"Ach, komm schon", sagte Sirius, schwang die Beine vom Bett und stellte sich neben sie.
"Was sollte denn daran bitteschön faul sein? Ich meine, wer würde so etwas verhexen?"
Er nahm James den Umhang ab und wickelte ihn sich um die Hüfte, so dass sein Oberkörper und seine Beine getrennt herumzulaufen schienen. Remus schien noch immer besorgt.
"Remus", sagte James ernst, "ich finde, Sirius hat Recht. Der einzige, der mir etwas Verhextes zu Weihnachten schicken würde, ist Snape, und selbst der würde nicht so viel Geld ausgeben, nur um zu jemandem gemein zu sein."
"Wahrscheinlich hast du Recht", stimmte Remus ihm zu. "Es gäbe ja auch keinen Grund, warum dir jemand etwas Böses wollen könnte. Aber ich würde mich bedeutend wohler fühlen, wenn wir wüssten, wer ihn geschickt hat."
"Ach, entspann dich, Remus", schimpfte Sirius.
Er warf seinem Freund mit einem Lachen den Umhang über den Kopf und zerrte ihn zu Boden. James und Peter sahen lachend zu, während der halb unsichtbare Wirrwarr aus Armen und Beinen zappelte und endlich wieder auftauchte. Sirius und Remus lächelten sie beide an und schnappten nach Luft.
---------------------------------------------------------------------------- ----------------------------------
Der Unterricht begann viel zu schnell. Gleich am ersten Tag hatten sie eine Doppelstunde Zaubertränke und Verteidigung gegen die Dunklen Künste mit den Slytherins, was weiteren Spott von Severus Snape mit sich brachte. Aber James stellte fest, dass ihn das gar nicht so sehr störte. Wenn Snape ihm zu sehr auf die Nerven ging, dachte er einfach an den Umhang, der zusammengefaltet in seiner Truhe lag, und stellte sich den neidischen Blick auf Snapes Gesicht vor, wenn er davon wüsste. Er hielt den Umhang nach wie vor für ungefährlich, aber Remus hatte ihn veranlasst, sich mehr denn je zu wundern, wer ihn geschickt haben konnte. Welche zwei Personen konnte seine Mutter gemeint haben? Sie hatte keine Geschwister, so weit er wusste, keine Familie. Obwohl sie natürlich irgendwann einmal Eltern gehabt haben musste. James begann, über seine Großeltern nachzudenken. Ob sie noch am Leben waren? Hatte einer von ihnen ihm den Umhang geschickt? Oder kam er - sein Herz hüpfte in seiner Brust - vielleicht von seinem Vater? Die Stimme des Lehrers entriss ihn seinen Gedanken, als er eine Frage gestellt bekam, auf die Sirius ihm schnell die Antwort zuflüsterte, während Snape ihn aus der Ferne höhnisch angrinste.
Am Freitag Nachmittag unterbrach Professor McGonagall die Schneeballschlacht im Freien, indem sie abermals Remus abholte. Er entschuldigte sich und bat die anderen, nicht auf ihn zu warten. James entsann sich sofort wieder seiner Bedenken vor den Ferien und war so damit beschäftigt, über die mysteriösen Abwesenheiten seines Freundes zu grübeln, dass Sirius' Schneeball völlig überraschend auf sein linkes Ohr klatschte.
---------------------------------------------------------------------------- ----------------------------------
Remus kam den ganzen Nachmittag und Abend nicht zurück. Sirius war längst eingeschlafen und hinter Peters und Franks Vorhängen kam Schnarchen hervor, doch James Potter saß immer noch auf dem Fenstersims und starrte in die Nacht hinaus.
Er ließ die Augen ziellos über den schneebedeckten Rasen schweifen und dachte an den Spaß, den er und seine Freunde beim Auskundschaften des Geländes haben würden, jetzt, wo er seinen neuen Umhang hatte. Vielleicht würden sie ja sogar eines Nachts in den Verbotenen Wald vordringen, vielleicht an einer Nacht wie dieser, wenn der volle Mond genug Licht abgab, so dass man keine Laterne benötigte, die einen verraten konnte. James schaute zum Mond hinauf und bewunderte seine Klarheit, das milchige Leuchten der riesigen Scheibe, die von hier oben aus greifbar nahe wirkte. Er drehte sich um und sah sich im Schlafraum um, der hier in Hogwarts sein Zuhause war.
Mondlicht fiel auf das leere Bett an der gegenüberliegenden Wand, und die Sorge schloss sich mit eiskalter Hand um James' Herz. Er war überzeugt, dass mit Remus etwas ganz und gar nicht stimmte, und es quälte ihn, nicht zu wissen, was es war. Er hatte irgendwie das Gefühl, dass er es längst wissen sollte. Das Wissen lauerte in seinem Verstand, ein Gedanke, der eklig langsam Gestalt annahm, wie ein Wort, das einem auf der Zunge lag und sich weigerte, ausgesprochen zu werden. Je mehr man versuchte, es zu finden, desto weiter glitt es einem davon. Gleichzeitig war er sicher, dass es sehr wichtig war, die Wahrheit herauszufinden. In der relativ kurzen Zeit, die er bisher in Hogwarts verbracht hatte, waren ihm die anderen Gryffindors sehr ans Herz gewachsen. Er konnte den Gedanken nicht ertragen, dass einer von ihnen ernsthaft krank sein könnte. Mit einem tiefen Seufzen und einem schweren Herzen schleppte James sich endlich ins Bett.
Seine Träume waren unruhig. Immer wieder erschien der Umriss einer gewaltigen Kreatur, die sich wie ein schwarzer Schatten vor einem blassen Licht abhob, dessen Ursprung er nicht erkennen konnte, obwohl es ihm vertraut vorkam. Er drehte sich im Schlaf um und versuchte, dem bedrohlichen Wesen den Rücken zuzukehren, aber er konnte es nicht.
Er hörte schwere Schritte auf trockenem Laub und spürte seinen eigenen Atem. Dann erkannte er die Schritte als seine eigenen. Er rannte, lief vor etwas weg. Oder - nicht? Je schneller er lief, desto näher schien er dem Ding zu kommen - was immer es auch sein mochte. Ein großer, grauer Schatten, derselbe, vor dem er eben noch geflohen war. Doch nun schien er gar nicht mehr bedrohlich. Er war vielmehr ... sanft. Hilflos. Einsam. James blieb ein paar Schritte entfernt stehen.
Die Kreatur drehte den Kopf, und James blickte in ein Paar große, braune Augen. Sie waren traurig und müde und kamen ihm auf seltsame Weise bekannt vor. Es schmerzte ihn, das Wesen allein und ohne Freunde zu sehen. Es schien ihn um Hilfe bitten zu wollen, schien ihn anzuflehen, doch irgend etwas zu tun, was seine traurige Existenz erträglicher machen würde. Aber was konnte ein Elfjähriger schon tun? Er wich dem sehnsüchtigen Blick aus, schaute weg, sah gen Himmel - und mit einem Mal wusste er es.
James setzte sich mit einem Ruck auf. Ausnahmsweise konnte er sich noch so klar an seinen Traum erinnern, als wäre das alles tatsächlich passiert. Er riss den Vorhang seines Bettes beiseite und blinzelte. Der volle Mond erhellte noch immer den Raum und schien direkt auf das Kopfkissen des leeren Bettes. James griff nach seiner Brille. Sein Herz schlug wie wild. Wenn er Recht hatte, dann machte natürlich alles Sinn. Die Lösung war so einfach, dass er sich wunderte, dass sie ihm nicht schon früher eingefallen war.
Er kletterte aus dem Bett und holte seine Truhe so leise es ging darunter hervor. Dann nahm er seinen neuen Umhang heraus und zog ihn an. Er dachte kurz daran, Sirius zu wecken, aber entschied sich dagegen. Er war sich zwar ziemlich sicher, dass er Recht hatte, trotzdem musste er aber absolute Gewissheit haben, bevor er seine Theorie weitererzählte. Er schlich sich auf Zehenspitzen aus dem Raum, kroch die Treppe hinunter, durch das Loch in der Wand, und machte sich auf zur Bibliothek.
---------------------------------------------------------------------------- ----------------------------------
4 - Sirius Blacks Plan
---------------------------------------------------------------------------- ----------------------------------
"James? James, wach auf!"
Sirius warf den Vorhang zurück und hielt inne. Das Bett war leer. Verduzt wandte er sich an die anderen beiden.
"James ist weg."
"Vielleicht hatte er Hunger und ist schon mal frühstücken gegangen", schlug Peter vor.
"Das würde er nicht tun. Nicht, ohne mich vorher zu wecken", meinte Sirius. Er klang verletzt.
"Tja", sagte Frank und klopfte sich auf den Magen, "also ich verhungere. Ich gehe nach unten. Kommt einer mit?"
Peter nickte. Er und Frank verließen den Raum, doch Sirius setzte sich auf das Ende von James' Bett und runzelte die Stirn. Er sah plötzlich hoch. Hatte da nicht eben der Fußboden geknarrt? Die Tür zum Schlafraum schloss sich wie von alleine.
"Was zum -" setzte er an, aber eine andere Stimme sagte:
"Psssst."
Etwas bewegte sich, und auf einmal stand James direkt vor ihm. Seinen Tarnumhang hatte er sich über den einen Arm gelegt, in der anderen Hand hielt er ein dickes Buch. Er kam zum Bett herüber, legte den Umhang in die Truhe zurück und nahm neben Sirius Platz.
"James - wo hast du gesteckt?" fragte Sirius verwirrt. "Warum hast du mich nicht mitgenommen?"
"Tut mir Leid", erwiderte James. "Ich musste mir einfach nur wirklich sicher sein, bevor ich es jemandem erzähle."
"Bevor du was erzählst?"
Als Antwort legte James ihm das schwere Buch auf den Schoß.
"Viecher und Vögel in der Zauberwelt", las Sirius darauf. "James, was soll das Ganze?"
"Ich konnte letzte Nacht nicht gut schlafen", fing James an. "Ich habe nachgedacht. Darüber, dass Remus ständig 'nach Hause' fährt, weil in seiner Familie wieder irgendeine Katastrophe ausgebrochen ist. Du weißt doch, er behauptet immer, seine Mutter wäre krank. Na ja, ich fand es irgendwie seltsam, als wir sie Weihnachten gesehen haben, dass sie gar nicht krank wirkte. Und dann habe ich angefangen, zu grübeln - also eigentlich hatte ich das auch vorher schon. Aber ich habe dann wirklich scharf nachgedacht."
"Über was denn nun?"
"Darüber, warum Remus wirklich so häufig verschwindet. Und warum seine Mutter kerngesund aussieht, er aber immer todkrank wirkt, wenn er zurückkommt. Letzte Nacht habe ich die Antwort gefunden. Und es ist wirklich ganz offensichtlich! Ich könnte mich selber treten, wenn ich daran denke, wie blind ich war."
"Dann trittst du mich besser gleich mit, ich versteh' dich nämlich immer noch nicht", klagte Sirius.
"Die Antwort steht in diesem Buch. Aber eigentlich habe ich sie gefunden, weil ich bei Vollmond schlecht schlafe."
"Was hat das denn damit zu tun?"
"Verstehst du denn nicht?" flüsterte James aufgeregt. "Remus erfindet immer Ausreden, um zu verschwinden, wenn Vollmond ist. Ich habe so gut es ging alle Daten nachverfolgt, an denen seine Mutter angeblich krank war."
"Angeblich? Du meinst, er hat gelogen? Warum sollte er das tun?"
"Natürlich weil er nicht wollte, dass wir die Wahrheit erfahren."
"Die da wäre?" fragte Sirius.
"Siehst du das nicht selbst?" entgegnete James. "Er ist ein Werwolf, Sirius."
Sirius starrte ihn an.
"Du spinnst", sagte er endlich. "Ich meine, er kann doch nicht - er kann kein - Werwolf sein. Nicht Remus. Er ist doch so - so ..."
James nickte hastig.
"Ich weiß, es klingt verrückt. Aber die Tatsachen passen. Er erfindet jeden Monat bei Vollmond Ausreden, er kommt wieder und sieht schrecklich aus - er hat sogar graue Haare, dabei ist er erst elf!"
Sirius schaute James mit einem abwesenden Blick an. Was James da sagte, machte Sinn, wenn man darüber nachdachte. Es passte alles zusammen. Es erklärte alles, was zugegebenermaßen seltsam war an Remus Lupin. Und doch kam es Sirius unglaublich vor, dass ein Junge, den er - wenn er ehrlich war - immer für etwas verweichlicht gehalten hatte, oder sanft, um es netter auszudrücken, bei Vollmond zu einer brutalen Bestie mutieren sollte. Lange Zeit dachte er schweigend nach, denn er wusste nicht, was er sagen sollte. Endlich gab er zu, dass Remus Lupin zwar die Zähigkeit fehlte, die Sirius gefallen hätte, dass er aber dennoch ein anständiger Junge und guter Freund war. Schließlich brachte er nur hervor:
"Das - ist nicht fair, James."
Kurz kam ihm der Gedanke, dass diese Worte leer und irgendwie dumm klangen. Doch James blieb vollkommen ernst.
"Nein", stimmte er ihm zu. "Das ist es nicht."
"Aber warum die ganzen Lügen und Ausreden erfinden? Warum hat er es uns nicht einfach gesagt?" wunderte sich Sirius.
James zuckte die Achseln.
"Werwölfe sind im allgemeinen mehr als unbeliebt. Die meisten Zauberer behandeln sie doch wie Aussätzige. Oder schlimmer noch, wie gefährliche Monster. Eltern würden zum Beispiel nie wollen, dass ihr Kind mit einem Werwolf im selben Raum schläft. Ich denke, wenn meine Mutter hiervon gehört hätte, bevor sie Remus selbst kennen gelernt und gesehen hat, wie er so ist, dann hätte sie auch etwas dagegen. Vielleicht hätte sie das immer noch, wenn sie es wüsste. Remus muss wohl gedacht haben, wir würden nichts mehr mit ihm zu tun haben wollen, wenn wir die Wahrheit wüssten."
Sirius schüttelte den Kopf.
"Er sollte uns besser kennen. Wir sind seine Freunde."
"Wir haben leicht reden. Wir wissen doch nicht, welche Probleme er schon gehabt hat, bevor wir ihn kannten. Wir können uns unmöglich vorstellen, wie das ist."
Er schwieg kurz, dann sagte er:
"Die Frage ist nur, jetzt, wo wir es wissen - was tun wir?"
"Was können wir schon tun?" fragte Sirius hilflos.
James stand auf und schritt auf und ab. Er blieb am Fenster stehen und sah nachdenklich nach draußen. Endlich kam er zurück und setzte sich auf seine Truhe.
"Erst einmal", begann er, "müssen wir Remus sagen, dass wir es wissen, und dass es okay ist und wir trotzdem seine Freunde sind."
"In Ordnung. Zuerst sollten wir aber mit Peter sprechen. Für uns mag das ja schön und gut sein, aber ich weiß nicht, ob es ihm auch so wenig ausmachen wird, mit einem Werwolf befreundet zu sein."
James seufzte. "Du hast Recht. Aber mehr Leuten sollten wir es wirklich nicht sagen. Nicht mal Frank. Er verbringt sowieso viel mehr Zeit mit den Hufflepuffs, also dürfte er nicht zu böse auf uns sein, wenn er es irgendwann mal rausfinden sollte."
"Einverstanden. Also reden wir mit Peter, und dann sagen wir es Remus. Was dann?"
"Ich habe in allen Büchern, die ich finden konnte, nach einer Heilmethode gesucht. Nichts. Trotzdem muss es doch eine Möglichkeit geben, das Ganze für Remus erträglicher zu machen."
Sie saßen eine Weile schweigend da.
"Vielleicht gibt es wirklich einen Weg", meinte Sirius plötzlich.
Er legte das Buch vom Schoß, kramte ein anderes, sehr altes und ziemlich stark beschädigtes Werk aus seiner Truhe hervor und begann zu blättern.
"Ich habe mal irgendwann etwas über Werwölfe hier drin gelesen. Wenn ich Recht habe, dann ..."
Sein Gesicht erhellte sich, als er fand, was er gesucht hatte. Er zeigte auf die Seite, die er aufgeschlagen hatte.
"In diesem Buch steht, dass Werwölfe für Menschen extrem gefährlich sind. Wenn sie allein rumwildern, können sie auch manchmal Tiere anfallen. Aber hierin werden ein paar Werwölfe erwähnt, die sich mit Tieren angefreundet haben - zum Beispiel mit Hunden oder Bären. Es müssen wohl größere Tiere sein, die sie unter Kontrolle halten können."
James schaute seinem Freund gebannt zu, während dieser an einer Idee arbeitete. Gegen Ende hatte Sirius immer langsamer gesprochen, und nun hörte er ganz auf zu sprechen. James kannte ihn gut genug, um den verrückten Plan zu erahnen, den er schmiedete.
"Denkst du auch, was ich gerade denke?" fragte er.
Sirius lächelte verschlagen. "Vermutlich. Es würde bedeuten, dass wir noch mal mit deinem Umhang in die Bibliothek müssten. Die Bücher, die wir suchen, finden wir sicher nur in der verbotenen Abteilung, und es würde wohl kaum ein Lehrer die Erlaubnis unterschreiben, wenn wir ihm nicht sagen, was wir vorhaben. Und das geht nicht."
James grinste.
"Ein typischer à-la-Black-Plan also. Gefällt mir."
---------------------------------------------------------------------------- ----------------------------------
5 - Die Marauder
---------------------------------------------------------------------------- ----------------------------------
Remus stapfte an dem Quälgeist Peeves vorbei, der wieder einmal sang:
"Lusche, Lusche, Lupin."
Er war einfach zu müde, um sich von dem Poltergeist und seinen dummen Beleidigungen stören zu lassen. Er erreichte das Porträt an der Wand und murmelte das Weihnachtspasswort:
"Weihnachtswitze."
"Du siehst nicht aus, als ob du dafür in Stimmung wärst", gab die Dame im Porträt mitleidig zu bedenken und schwang sich beiseite.
Remus kletterte durch das Loch und stieg mit schweren Schritten die Treppe zum Schlafraum hinauf. Er hatte letzte Nacht starke Schmerzen gehabt, und die Tatsache, dass er schon wieder seine Freunde belogen hatte, und der sanfte Vorwurf seiner Mutter, dass er seinen Freunden immer noch nicht die Wahrheit gesagt hatte, schien seine Schultern noch schwerer zu machen. Er fuhr sich mit der Hand durch die Haare und über das Gesicht. Es kam ihm vor, als wäre zwischen seinen Augen eine weitere Sorgenfalte entstanden. Mit Mühe drückte er die Klinke runter und ging hinein. Dann blieb er wie festgefroren stehen.
Drei Gesichter waren ihm zugewandt. Links saß Peter, dessen kleine Augen zwischen James und Sirius hin- und herhuschten, Remus aber auswichen. Rechts saß Sirius wachsam im Schneidersitz auf dem Ende von James' Bett. Seine Augen waren - anders als die von Peter - starr auf Remus' Gesicht gerichtet und er sah ungewohnt ernst aus. In der Mitte thronte James wie ein König am Fußende von Sirius' Bett.
"Hallo", sagte Remus vorsichtig. "Was ist denn hier los?"
"Wir dachten nur, wir empfangen dich mal gebührend", erwiderte Sirius. "Wie geht es deiner armen Mutter? Oder war dieses Mal dein Vater krank? Ich hoffe, du hast nicht so lange am Krankenbett gesessen, dass du nicht zu einem schönen Vollmondspaziergang um Mitternacht gekommen bist."
Remus' Wangen wurden heiß. Oh nein. Das konnte er gerade wirklich nicht gebrauchen. Er war zu erschöpft.
"Du gehst doch sicher gerne bei Vollmond spazieren, oder?" setzte Sirius fort. "Ich nämlich schon, das ist so ..."
"Sirius", unterbrach ihn James, der in Remus' hageres Gesicht blickte. "Lass das."
Remus sah vom einen zum anderen und schließlich ruhten seine Augen auf James. Trotz der ungewohnten Kühle seiner Stimme sah er so freundlich und verständnisvoll aus wie immer. Remus hatte das Gefühl, als würde jemand sein Herz gewaltsam in seiner Brust herumdrehen. Dies waren die einzigen Freunde, die er je gehabt hatte. Wenn er sie verlieren sollte ...
"James, ich ...." fing er an, doch James hob die Hand und stand auf.
Er kam auf Remus zu und schaute ihn eine Weile an. Dann sah er sich kurz zu Sirius um und die beiden tauschten einen Blick. James drehte sich wieder Remus zu und lächelte, und Remus war froh, dass es dasselbe offene Lächeln war wie sonst auch. Und dann tat James etwas, was er noch nie zuvor getan hatte. Er umarmte Remus wie einen Bruder, und führte ihn fürsorglich zu seinem Bett.
"Setz dich", riet er. "Du siehst schrecklich aus, und wir wollen nicht, dass du uns gleich wegkippst. Wir haben dir nämlich erst noch etwas zu sagen."
Er setzte sich auf den Rand von Remus'. Peter und Sirius taten es ihm nach.
"Also", begann James sachlich, "wie du dir denken kannst, sind wir endlich darauf gekommen, dass du ein Werwolf bist. Keine Angst, Dumbledore hat nichts verraten, wir haben es selbst herausgefunden."
"Na ja, eigentlich war James das alleine", warf Sirius ein.
"Jedenfalls", setzte James fort, "als wir es herausfanden, haben wir mal angenommen, dass du deine Gründe hattest, uns nichts davon zu erzählen."
Remus nickte.
"Ich - ich dachte, ihr würdet nichts mehr von mir wissen wollen", sagte er. Er wollte seinem Glück noch immer nicht ganz trauen.
"Tja, ausnahmsweise hast du dich mal geirrt, wie du siehst," sagte Sirius lächelnd.
Sirius' typisches, freundschaftliches Necken brachte endlich auch Remus zum Schmunzeln.
"Ausnahmsweise bin ich sogar froh darüber", antwortete er.
Er hörte erstaunt, ungläubig, aber zufrieden zu, während James erklärte, wie er sein Geheimnis gelüftet hatte, und als James und Sirius ihm ihren Plan erläuterten - heimlich Animagi zu werden, um ihm nach seiner Verwandlung Gesellschaft leisten zu können - war er so überglücklich und dankbar, dass ihm die Worte fehlten. Es war, als steckte ihm ein riesiger Kloß im Hals, und seine Augen brannten wie wild. Die anderen sahen taktvoll weg, während er sich erholte. Sirius kramte ihre Karte von Hogwarts hervor.
"Also, Mr. Moony", sagte er fröhlich, "dann zeig uns doch mal, wo du dich in letzter Zeit rumgetrieben hast."
Er reichte Remus eine Feder und ein Tintenfass.
Aber Remus, der grinste, obwohl er noch müde aussah, wenn auch gesünder und weniger erschöpft, schob die Karte beiseite und holte stattdessen ein leeres Pergamentstück, eine Feder und eine andere Tinte hervor.
"Ich habe eine bessere Idee", sagte er. "Dieses Pergament und Tintenfässchen habe ich von meinen Eltern zu Weihnachten bekommen - es war das beste Geschenk, abgesehen von dem, das ihr drei mir gerade gemacht habt." Er strahlte.
Er zeigte mit dem Zauberstab auf die Karte und sagte:
"Als erstes brauchen wir ein Passwort. Einen originellen Spruch am besten, den nur wir vier kennen und den man aufsagen muss, um den Inhalt des Pergaments lesen zu können. Und dann noch einen Zauber, um es wieder zu schließen."
Sie dachten kurz nach. Dann streckte Sirius die Hand aus.
"Ich hab einen. Wie wäre es mit 'Ich schwöre feierlich, dass ich ein Tunichtgut bin'?"
Sie lachten.
"Ausgezeichnet", sagte Remus.
Er wiederholte die Worte und schwenkte dabei den Zauberstab über das Pergament. Dann fing er an, alle Striche von der alten Karte auf die neue zu übertragen. Er fügte noch einen Punkt hinzu, den er mit 'Peitschende Weide' beschriftete, und die andern sahen erstaunt zu, als er einen langen Tunnel einzeichnete, der vom Baum zum Rand der Karte führte.
"Unter der peitschenden Weide liegt ein Tunnel, der für mich gegraben wurde. Die Weide selbst wurde nur deswegen gepflanzt, um den Eingang zu verbergen. Es gibt einen Punkt an der Seite des Stammes, den man berühren muss, damit die Weide still steht. Der Tunnel führt zu einem leer stehenden Haus in Hogsmeade", erklärte er. "Der Heulenden Hütte. Und dort ... verwandle ich mich."
Eine Weile saßen sie alle schweigend da, dann nahm Sirius Feder und Karte von Remus und sagte:
"Hey, Pete ..."
Peter war von der ganzen Aufregung völlig abgelenkt und erschrak, als er angesprochen wurde.
"Ja?"
"Schaust du mal in meiner Truhe nach? Da ist irgendwo ein Buch, 'Die Kunst magischer Kartographie'. Mach das mal am Lesezeichen auf."
Peter tat es und reichte Sirius das dicke Buch. Sirius las schnell etwas nach und schaute dann zufrieden auf.
"Seht mal", flüsterte er, "das ist ein praktischer kleiner Trick, den wir mal im Heim angewendet haben, als wir eine Karte des Erzieherflügels angefertigt haben."
Er zeigte wieder mit dem Zauberstab auf die Karte und sagte:
"Omnis demonstratio."
Sofort begannen kleine Punkte, sich auf der Karte zu bewegen. Peter lehnte sich vor und sah sich die im Gryffindor-Turm genauer an. Sie waren mit 'James Potter', 'Remus Lupin', 'Peter Pettigrew' und 'Sirius Black' beschriftet.
"Das ist brillant", sagte er bewundernd.
"Darf ich?" fragte James und nahm die Karte und die Feder von Sirius.
Er dachte einen Moment lang nach, dann beugte er sich über das Pergamentstück und schrieb etwas am oberen Rand. Endlich lehnte er sich zufrieden zurück.
"Die Karte des Rumtreibers", las Sirius laut vor. "Sehr gut."
Er nahm seinen eigenen Zauberstab wieder zur Hand, schwenkte ihn über die Karte, wie Remus es zuvor getan hatte, und sagte:
"Unheil angerichtet."
Das Pergament war wieder leer.
