Vorgeschichte, Teil 11: Das Fünfte Schuljahr
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1 - Zurück zur Schule
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Endlich waren die Ferien zu Ende. Rückblickend wunderte James sich, warum er sich überhaupt so sehr darauf gefreut hatte. Jetzt wollte er nur noch nach Hogwarts zurück, denn irgendwie hatte er das Gefühl, dass er nur dort das Rätsel lösen konnte. Es war der Morgen des 30. August, und James sah durch den vom Sonnenlicht erhellten Raum zum Klappbett an der gegenüberliegenden Wand. Als ob er die Augen seines Freundes spüren könnte, drehte Sirius Black sich um, blinzelte gegen das grelle Licht, schlug die Augen auf und räkelte sich.
"Morgen, James", gähnte er. "Bist du schon lange wach?"
James wandte den Kopf und sah auf die Uhr auf seinem Nachttisch.
"Ungefähr eine Stunde", sagte er.
"Oh Mann", rief Sirius. "Und da bist du noch nicht aufgestanden?"
"Mir war nicht danach", erwiderte James. "Ich hab nachgedacht."
"Geht's wieder mal um Professor Trelawney und die sogenannte Prophezeiung, oder was?"
James nahm ein Pergamentstück vom Nachttisch. Es war ein Brief, geschrieben in einer sehr ordentliche Handschrift.
"Moony schreibt, dass auf jeden Fall irgendwas Merkwürdiges vor sich geht, aber er will uns das nicht in einem Brief erzählen. Und über Gryffindor und seine Nachkommen hat er auch nichts rausgefunden. Man sollte doch meinen, dass es über einen so berühmten Mann ein Buch geben würde."
Sirius zuckte faul mit den Schultern.
"Ich würde mir deswegen nicht den Kopf zerbrechen", meinte er nicht zum ersten Mal. "Ich bin immer noch der Meinung, dass unser durchgeknallter Schmetterling sich das alles nur ausgedacht hat."
James sah immer noch zweifelnd aus. Es klopfte an der Tür und seine Mutter kam herein.
"Guten Morgen, ihr zwei", sagte sie fröhlich. "Wollt ihr schon Frühstück?"
"Und ob!" rief Sirius begeistert und sprang aus dem Bett.
Bridget Potter zog sich zurück, damit die beiden sich waschen und anziehen konnten, und ging in die Küche. Sie machte das Fenster auf, um frische Luft hereinzulassen, und machte sich daran, Tee und Butterbrote vorzubereiten. Sie hörte hinter sich etwas flattern und drehte sich um. Eine große Schleiereule hockte am Rand der Spüle. Jemand hatte ihr ein gefaltetes Pergament ans linke Bein gebunden. Besorgt, dass die Nachbarn etwas bemerken könnten, nahm Bridget dem Vogel schnell seine Last ab und ließ ihn fortfliegen. Sie betete, dass niemand eine Eule am helllichten Tag mitten in London bemerken würde.
Sie faltete das Pergament auf, und dabei fiel ihr ein Zeitungsausschnitt herunter. Sie hob ihn auf. Ihr Herz schlug schneller. Das Blut wich ihr aus dem Gesicht und sie wandte ihre Aufmerksamkeit dem Brief zu.
James hörte das Fiepen des Wasserkessels und wunderte sich, dass seine Mutter ihn nicht vom Herd nahm. Er eilte in die Küche, griff sich ein Tuch, stellte das kochende Wasser schnell beiseite und drehte das Gas ab. Als er sich umdrehte sah er, dass seine Mutter auf einem der Küchenstühle hockte und auf ein Stück Pergament in ihrer Hand starrte. Ihr Gesicht war blass.
"Mum!" rief er. "Was ist los?"
Es wurde sehr still im Raum. Das einzige Geräusch war das des fließenden Wassers im Badezimmer, wo Sirius sich gerade duschte.
"Setz dich", sagte James' Mutter schließlich, stand auf und schloss die Tür.
Sie kam zurück und setzte sich auf den Stuhl neben seinem.
"Dieser Brief", setzte sie an, "ist von Professor Dumbledore."
James' Gedanken rasten. Er dachte sofort an Remus und daran, dass er selbst vor den Ferien den Spitznamen seines Freundes ausgeplappert hatte. Dumbledore hatte doch nichts von ihrer Rumtreiberei herausgefunden? Doch dann fiel ihm auf, dass seine Mutter noch etwas anderes in der Hand hielt - einen Zeitungsartikel. Bridget Potter hielt ihn hoch und fuhr fort:
"Er hat mir das hier geschickt und ich glaube, er will, dass du es auch siehst. Er hat wohl Recht, wenn er meint, dass ich dich in deinem Alter nicht mehr vor allem schützen kann."
James nahm den Artikel, den sie ihm hinhielt, und sah ihn sich an. Dort war ein Bild, das sich bewegte. Es zeigte einen Mann, der von Zauberern in düsteren schwarzen Gewändern abgeführt wurde. Der Titel des Ausschnitts lautete "Zauberer wegen Muggel-Quälerei verhaftet".
James las den Artikel durch. Es ging um einen Mann namens Vindictus Lothian, einen Mitarbeiter des Zaubereiministeriums, der dabei erwischt worden war, wie er eine junge Muggelfrau und ihr Kind mit einem Fluch gequält hatte, von dem James nie gehört hatte - der Prophet nannte ihn den 'Cruciatus'-Fluch - und das offenbar einzig und allein zum Spaß. Sie sollten nun ins Krankenhaus St. Mungo gebracht werden, wo man sie hoffentlich heilen konnte.
James sah seine Mutter an.
"Das ist ... ja schrecklich", war das einzige, was ihm einfiel.
Bridget nickte angespannt.
"Hast ... Kennst du die Frau?" riet James.
Doch dieses Mal schüttelte seine Mutter den Kopf.
"Nein, ich kenne sie nicht. Aber ich kenne den Mann auf diesem Foto."
James sah sich das Bild noch einmal an. Der Zauberer, der abgeführt wurde, schien Ende vierzig zu sein. Er war groß, sah gut aus und hatte wirres schwarzes Haar.
Bridget stand auf und ging zum Fenster. Als sie sich nach längerer Zeit wieder James zuwandte bemerkte er, dass ihre Augen gerötet waren und ihre Stirn sich vor Sorge kräuselte - sie wirkte irgendwie älter als sonst.
"Diesen Mann", sagte sie flüsternd, "habe ich geheiratet als ich noch zu jung war, um zu wissen, was ich wirklich wollte - oder ihn als das zu erkennen, was er war. Mein Vater hat mich damals vor ihm gewarnt, aber natürlich dachte ich, ich wüsste es besser als er mit all seiner Erfahrung. Ich bin mit Vindictus Lothian durchgebrannt und habe ihn geheiratet. Ich war jung und sehr, sehr dumm.
Ich habe meinen Fehler schnell erkannt. Seine Freunde waren eine gefährliche Bande, die damals schon Verbrechen gegen die Leute plante, die ihrer Meinung nach 'schlechtes Blut' hatten. Er war auch nicht besser als sie. Als ich feststellte, dass ich schwanger war, wusste ich, dass es nur einen Weg gab, wie ich dich vor ihn und seinen Freunden schützen konnte. Ich habe gewartet, bis er das Haus verlassen hatte, dann hab ich meine Taschen gepackt und ihn verlassen. Ich wusste nicht, wohin ich gehen oder was ich tun sollte, nur, dass ich von ihm weg musste, bevor er von dir erfuhr. Wenn er es gewusst hätte ... Du hättest keine Chance gehabt. Er und seine Freunde hätten dich schon zu ihrer Meinung 'bekehrt', und das konnte ich nicht zulassen.
Ich bin ganz zufällig hierher gekommen. Ich hatte Angst und es gab niemanden, an den ich mich wenden konnte. Wenn Mrs. Hammersmith nicht gewesen wäre, wären wir beide in einer regnerischen Nacht irgendwo an einer Londoner Straßenecke gestorben. Aber sie hatte Mitleid mit mir und half mir, die ersten Jahre allein durchzustehen. Ich habe meinen Namen geändert und alles hinter mir gelassen, was ich je hatte, um ein neues Leben anzufangen und dich zu beschützen. Aber mir ist schon seit einiger Zeit klar, dass ein dunkler Zauberer hier und im Ausland immer mehr Einfluss gewinnt. Ich habe schon lange einen Verdacht, wer er ist, und dass Vindictus ihn immer noch unterstützt. Das hier ist der Beweis."
James starrte noch immer auf das Bild in seiner Hand. Schließlich fragte er schüchtern:
"Dann ist dieser Mann also mein Vater?"
"Ja", gab Bridget traurig zu. "Leider ist er das. Und ich fürchte, dass es noch viele schlechte Nachrichten geben wird, bevor das hier vorbei ist. Es ist etwas Böses im Gange und ich bin mir sicher, dass der Mann, der dahinter steckt, es nicht bei einem bisschen Quälerei bewenden lassen wird. Er ist zu viel schlimmeren Dingen fähig."
James dachte lange nach, ehe er die nächste Frage stellte, die ihn schon die ganze Zeit beschäftigte.
"Wer ist er? Wer steckt dahinter?"
Bridget betrachtete ihn besorgt.
"Er ging mit Vindictus - deinem Vater - zur Schule und dein Vater bewunderte ihn. Seine Freunde nannten ihn Lord Voldemort. Aber so viel ich weiß war das nicht sein richtiger Name. Dein Vater hat ihn einmal anders genannt als er dachte, sie wären allein. Ich kann mich aber nicht daran erinnern."
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2 - Zurück auf Gleis 9 ¾
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Lily strich sich die langen roten Haare über die Schulter und atmete tief ein. Sie stand vor der Schranke, die die Bahnsteige 9 und 10 am King's- Cross-Bahnhof trennte. With Nervös sah sich um, um sicher zu gehen, dass auch kein Muggel-Gepäckträger sie beobachtete, dann ging sie auf die Schranke zu - und verschwand.
Sie erschien wieder auf Bahnsteig 9 ¾, wo die große rote Dampflok des Hogwarts Express schon wartete. Der Bahnsteig war überfüllt mit Schülern und ihren Eltern. Lily seufzte. Ihre Eltern hatten heute nicht kommen können. An der Schule ihrer Schwester Petunia gab es heute irgendeine besondere Vorstellung. Obwohl ihre Eltern sie lieber zum Bahnhof hatten bringen wollen, hatte Lily sie mit Petunia losgeschickt, die ohnehin schon immer eifersüchtig auf Lily war. Lily sah sich um und erblickte viele vertraute Gesichter.
Am vorderen Ende des Zuges stieg ein mürrischer Junge mit fettigen Haaren in ein Abteil. Er wirkte, als halte er alle anderen dort für unwürdig, dieselbe Luft zu atmen wie er. Seine Augen trafen kurz Lilys, als er sich umdrehte, um sich von seinen Eltern zu verabschieden, und sie sah schnell weg.
Ein paar Abteile von dem Jungen - der wie Lily wusste Severus Snape von Slytherin war - entfernt entdeckte sie Frank Longbottom, der ihr winkend zulächelte. Lily winkte zurück. Frank war nicht nur klug, sondern auch immer gut gelaunt und freundlich, weshalb er sehr beliebt war. Sein bester Freund, Damian Diggle aus Hufflepuff, war bei ihm.
Ein Stück weiter links sah Lily noch einen Jungen aus ihrem Jahrgang: einen dünnen, müde wirkenden Jungen mit einigen silbrigen Strähnen im hellbraunen Haar. Als sie Remus Lupin erkannte, schob Lily ihren Wagen schnell in die entgegengesetzte Richtung, zum Ende des Zuges, wobei sie auf die eigenen Füße starrte und hoffte, dass er sie nicht bemerken würde. Denn wenn er sie sah, musste sie ihn grüßen, und dann würden seine Freunde bald dazustoßen, und darunter wäre dann ... Sie stieß plötzlich gegen ein Hindernis. Als sie aufschaute, stellte sie fest, dass sie mit einem anderen Gepäckwagen zusammengestoßen war - dem Wagen der Person, der sie aus dem Weg gehen wollte.
James Potter lächelte, aber Lily fiel sofort auf, dass er irgendwie anders war als das letzte Mal, das sie ihn gesehen hatte. Er wirkte angespannt und seine Haare waren - falls das überhaupt möglich war - unordentlicher denn je, während die braunen Augen hinter seiner Brille müde schienen. Lily spürte förmlich, wie ihre Wangen rot wurden, murmelte eine hastige Entschuldigung und ging weiter, wobei sie sich zwingen musste, nicht über die Schulter zu sehen. Sie hatte fast das Gefühl, als könne sie James' Augen auf ihrem Rücken spüren, aber sie ging trotzdem weiter, auch wenn sie die anderen Schüler um sich herum kaum noch bemerkte.
"Lily! Lily, hier drüben!"
Sie drehte den Kopf und stellte fest, dass sie soeben an ihrer Freundin Aurora Borealis aus Ravenclaw vorbeigelaufen war.
"Rory!" rief sie und umarmte das Mädchen.
Aurora drückte sie fest.
"Einen Sickel für deine Gedanken", scherzte sie.
Lily starrte sie abwesend an.
"Ach, komm schon", lachte Aurora, deren Augen funkelten. "Denk ja nicht, ich hätte nicht gesehen, wie du James wieder angestarrt hast."
Lily lief rot an.
"Ich hab ihn nicht angestarrt!" protestierte sie heftig.
Aurora grinste nur und schüttelte ihren rotbraunen Schopf.
"Komm", sagte sie, "lass uns einsteigen, ja?"
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3 - Komplikationen
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James wartete bis nach dem Abendessen. Erst als er mit seinen Freunden in einer stillen Ecke des Gemeinschaftsraum saß erzählte er Remus und Peter, was er Sirius gestern schon berichtet hatte: alles, was seine Mutter über seinen Vater und dessen Freunde gesagt hatte. Als er fertig war, nickte Remus langsam.
"Ich habe den Sommer über auch einiges gehört", meinte er. "Offenbar gab es im Ministerium ein paar ziemlich merkwürdige Vorfälle. Ich hab meinen Vater gefragt. Er wollte mir erst nichts sagen, aber am Ende hat er zugegeben, dass schon seit einigen Jahren gewisse Dinge vertuscht werden.
Es hat wohl damit begonnen, dass einige Mitarbeiter im Ministerium es sich auf einmal in den Kopf gesetzt haben, dass sie irgendwie besser wären als andere, weil sie 'reines Blut' haben. Es fing alles noch ziemlich harmlos an, aber es wird immer schlimmer, und inzwischen sind auch die höheren Etagen betroffen. Inzwischen sind einige Minister fest davon überzeugt, dass bestimmte Positionen nur mit reinblütigen Anwärtern gefüllt werden sollten. Sie wollen keine Leute aus Muggel-Familien oder Halbblütige einstellen.
Dieser Fall da in der Zeitung war auch nicht das erste Mal, dass Muggel gequält wurden. Wie es aussieht haben die Vernünftigen unter uns ein ziemlich großes Problem zu bekämpfen."
"Aber w-wie konnte so was passieren?" fragte Peter.
"Wer weiß", erwiderte Sirius, der sich endlich hatte überzeugen lassen, dass hinter Professor Trelawneys Prophezeiung vielleicht doch mehr als Wahnsinn steckte. "Aber die vorherrschende Meinung scheint zu sein, dass hinter allem ein und dieselbe Macht steckt. Ein Zauberer, der den reinblütigen Zauberern einreden will, dass sie allen anderen überlegen sind."
Langsam nickte Peter. Er sagte:
"Wie gesagt, meine Schwester Polly hat diesen Sommer geheiratet, und ... na ja, sie und ihr Mann, Leonard Lestrange, scheinen auch so was Ähnliches zu glauben. A-aber warum hören die Leute auf so einen Blödsinn?"
"Manche Leute glauben alles, wenn sie sich dadurch besser fühlen", sagte Remus. "Sieh dir Severus Snape an, oder die anderen Slytherins. Sie halten sich doch ohnehin schon für etwas Besseres als alle anderen. Wenn jetzt jemand käme, der ihrer Arroganz schmeichelt und ihnen vorschlägt, uns alle rauszuwerfen und die Schule zu übernehmen, glaube ich kaum, dass sie ablehnen würden. Sie wären sofort auf seiner Seite."
"Dann lass uns doch einfach schneller sein und alle Slytherins rausschmeißen", schlug Sirius vor.
"Das sollte nur ein Beispiel sein, Sirius", erklärte Remus. "Nicht nur Slytherins stehen hinter diesem Mann. Die Frage ist nur, wer er wirklich ist - und wie wir ihn aufhalten können?"
Instinktiv sahen sie alle zu James, der seit einiger Zeit gar nichts mehr gesagt, sondern nachdenklich in seiner Ecke geschwiegen hatte.
"Ich glaube, wir können es gar nicht", sagte er schließlich. "Was ich erfahren hab und was du uns erzählt hast, Moony, hat mich absolut überzeugt, dass Professor Trelawney Recht hatte. Etwas Böses wird immer mächtiger, dafür haben wir genug Beweise gefunden. Das einzige, was wir über diesen Mann wissen, ist dass meine Mutter sagt, dass seine Freunde ihn damals Lord Voldemort nannten. Aber es ist unwahrscheinlich, dass das sein richtiger Name ist. Sie hat gesagt, mein Vater und er waren Freunde, als sie hier zur Schule gingen. Der Sprechende Hut hat auch so was angedeutet, als ich ihn vor vier Jahren aufhatte."
"Also es muss doch irgendwo ein Buch oder ein Verzeichnis geben, wo alle Schüler aufgeführt sind, die über die Jahre nach Hogwarts gingen", meinte Remus. "Jetzt, wo wir wissen, wie dein Vater hieß, müssten wir doch herausfinden können, in welchem Jahr er hier war, und dann müssen wir nur noch rauskriegen, wer seine Freunde waren. Wenn du willst, geh ich gleich mal in der Bibliothek nachsehen."
"Danke, Moony", sagte James. "Aber lass nur. Ich glaube, ich gehe lieber selbst, wenn es dir nichts ausmacht. Ich brauch ein bisschen Zeit für mich."
Sein Herz fühlte sich sehr schwer an, als er den Gemeinschaftsraum verließ. Das Portrait der Dicken Dame schwang wieder an seinen Platz zurück. Doch Augenblicke später öffnete sich das Loch wieder, und noch jemand kletterte hindurch.
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James ging ziellos zwischen den Bücherregalen der Bibliothek auf und ab. Er hatte etwas suchen wollen, das ihm helfen würde, mehr über den mysteriösen Lord Voldemort herauszufinden, aber er hatte einfach zu viel im Kopf. Er konnte nicht klar denken, und außerdem hatte er keine Ahnung, wo er nach der Art Buch suchen sollte, das er brauchte. Er könnte natürlich die Bibliothekarin fragen, aber er wollte nicht, dass mehr Leute als nötig erfuhren, was er im Schilde führte.
James ließ sich seufzend auf einen Stuhl fallen. Er stützte die Ellenbogen auf den Tisch, schloss die Augen, vergrub sein Gesicht in den Händen und zog an seinem ohnehin schon zerzausten Haar. Er hörte nicht die leise nahenden Schritte und bemerkte nicht, dass jemand auf ihn herabblickte. Erst als er hörte, wie der Stuhl gegenüber knarrte, schaute er auf und starrte.
Ihm gegenüber saß niemand geringeres als Lily Evans. Sie hatte ihr langes rotes Haar zu einem Zopf gebunden und ihre grünen Augen bemaßen ihn nachdenklich. James fühlte sich unwohl. Er wusste gar nicht recht, wie er mit ihr reden sollte. Eine Zeit lang waren sie fast so etwas wie Freunde gewesen - sie hatte ihn angelächelt, wenn sie ihn sah, und er hatte zurückgelächelt. Doch heute am Bahnhof war es ihm vorgekommen, als wollte sie ihn gar nicht sehen. Sie war regelrecht davon gestürmt. Auch vor den Ferien hatte sie ihn längere Zeit kaum angesehen.
Wenn er genauer nachdachte, konnte er sich nicht erinnern, seit dem Quidditch-Spiel Ravenclaw gegen Gryffindor im letzten Jahr auch nur ein Wort mit ihr gewechselt zu haben. Während die meisten anderen Mädchen der Schule ihn seit diesem Spiel wie einen Helden beinahe vergöttert hatten, schien Lily seitdem kälter geworden zu sein, obwohl James sich nicht vorstellen konnte, weshalb. Aber jetzt sprach Lily.
"Hallo", sagte sie etwas unbeholfen.
Ihre Stimme klang sanft. James antwortete mit einem schwachen Lächeln.
"Suchst du ... irgendwas bestimmtes?" fragte sie.
"Nichts, wobei ich deine Hilfe gebrauchen kann", entgegnete er ein wenig schroff.
"Na, das kannst du doch nicht wirklich wissen, wenn du nicht fragst", meinte Lily leise.
"Ich brauche deine Hilfe nicht", schnappte James. "Ich brauch nur meine Ruhe."
Lilys Ausdruck wurde verdrießlich.
"Verstehe", sagte sie hochmütig. "Verzeih, dass ich den Mund aufgemacht habe. Dann werde ich mal wieder gehen. Ich dachte, du sähest aus, als würde dich etwas bedrücken, aber wenn du so launisch bist - lass dich nicht stören."
Sie stand auf und marschierte hinaus. James blieb einen Moment lang sitzen und dachte rein gar nichts. Erst in dem Moment, als er hörte, wie die Tür ins Schloss fiel, wurde ihm seine Unhöflichkeit bewusst. Schließlich hatte sie doch nur nett sein wollen. Er erhob sich und ging ihr nach, doch als er die Tür erreichte, war Lily längst verschwunden.
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4 - Verteidigung gegen die Dunklen Künste
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In der ersten Stunde am nächsten Tag hatten sie Verteidigung gegen die Dunklen Künste zusammen mit den Ravenclaws. Lily setzte sich neben Aurora in die letzte Reihe. Sie war dabei, ihrer Freundin von der Begegnung mit James in der Bibliothek zu erzählen.
"Komm schon, Lily", flüsterte Aurora während sie dabei waren, ihre Bücher auszupacken. "Du hast doch selbst gesagt, dass ihn etwas bedrückt. Sicher wollte er gar nicht so unfreundlich sein."
Lily runzelte müde die Stirn. Sie hatte die letzte Nacht über kaum geschlafen, und das war ihr anzusehen.
"Er ist in letzter Zeit so anders geworden. Ich wüsste nur gerne warum ..."
"Das stimm nicht, Lily", widersprach Aurora ehrlich. "Er hat sich genauso verhalten wie sonst auch, finde ich. Wenn dann bist du diejenige, die sich verändert hat. Es hat alles mit diesem Quidditch-Spiel letztes Jahr angefangen. Davor warst du völlig vernarrt in ihn, hast ihm ständig schöne Augen gemacht ..."
"Hab ich nicht!" protestierte Lily.
Sie hielt sich schnell die Hand vor den Mund. Professor Darkhardt hatte eben den Raum betreten und sah zu ihr rüber. Aurora wartete bis er in eine andere Richtung sah, bevor sie antwortete.
"Doch, hast du, nur war dir sicher nicht klar, dass es so offensichtlich war. Aber denk nicht, ich hätte nicht bemerkt, wie du ihn ständig angestarrt hast. Und dann rettet er Mary von ihrem Besen - was übrigens nichts Besonderes war; das hätte jeder andere an seiner Stelle auch getan - und die ganze Schule ist auf einmal in ihn verknallt, nur du bist plötzlich böse auf ihn, weil er über Nacht zum Helden der Nation geworden ist.
All die anderen Mädchen, die ihm sonst keine Sekunde lang ihre Aufmerksamkeit geschenkt haben, schwirren auf einmal wie die Bienen um ihn rum - wusstest du, dass eine der Hufflepuffs ihn gebeten hat, ihr Lieblings- Quidditch-Buch zu signieren? - aber du musst natürlich warten, bis du glaubst, dass alle schlafen, ehe du dich ins Krankenzimmer schleichst."
Lily wurde rot.
"Woher weißt du das jetzt schon wieder?" zischte sie.
Aurora lächelte viel sagend und tippte sich mit dem rechten Zeigefinger gegen die Stirn. Lily seufzte.
"Ich weiß doch nicht mal, ob er mich überhaupt leiden kann."
"So was könnte ich leicht rausfinden", bot ihre Freundin an.
Lily schien entsetzt.
"Du meinst, du würdest tatsächlich, na ja ... seine Gedanken lesen?"
Aurora zuckte die Schultern.
"Wenn ich es nur so hinbekomme, dass du endlich einsiehst, was für dich das beste ist."
Lily schüttelte heftig den Kopf.
"Ich will nicht, dass du in seinem Kopf rumstocherst."
"Doch nicht rumstochern! Er würde nicht einmal bemerken, dass ich da bin. Aber wenn du nicht willst, na schön, dann nimm die altmodische Methode. Gib ihm noch eine Chance, Lily."
"Miss Borealis, Miss Evans!" unterbrach sie Professor Darkhardt. "Mir scheint, dass Sie beide ein höchst faszinierendes Thema gefunden haben. Möchten Sie uns nicht alle an Ihrer Diskussion teilhaben lassen?"
Die beiden Mädchen verstummten beschämt. Der Professor sah von der einen zur anderen.
"Nein?" meinte er endlich. "Wenn das so ist, vielleicht wären Sie dann so gut, Ihre Aufmerksamkeit wieder dem Unterricht zuzuwenden. Mr. Black erwähnte eben den Verlockungszauber, mit dem der Dunkle Zauberer von Hameln seine Flöte belegte. Kann eine von Ihnen beiden mir mehr darüber sagen?"
Aurora blätterte hastig. Lily schaute sie unglücklich an. Sie hatte vielleicht gut reden. Ihr bedeutet James nicht so viel wie Lily.
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James, Sirius, Remus und Peter verließen als letzte den Klassenraum. James grübelte immer noch nach und seine Freunde machten sich allmählich Sorgen.
"Ach komm, Kopf hoch, Krone", flüsterte Sirius. "Wir werden schon bald genug alles erfahren, was wir wissen müssen. In der Zwischenzeit bin ich dafür, dass wir Spaß haben. Weißt du, ich hab nicht einfach nur so mein ganzes Geld für dieses Sonderangebot mit den fünfzig Stinkbomben und die explodierenden Zauberstäbe ausgegeben. Und wir können uns doch auch auf heute Nacht freuen. Heute ist Vollmond. Und mir ist noch was eingefallen, was wir mit unserer Karte machen können."
James wirkte ermuntert. Sirius steckte immer voller Ideen, wenn es darum ging, gegen die Regeln zu verstoßen.
"Was denn? Einen Anti-Peeves-Zauber?"
"Nicht ganz." Sirius grinste. "Eigentlich ist es nur ein Spaß. Ich hab mir gedacht, wir könnten die Karte so verzaubern, dass wenn ein Lehrer sie lesen will ... autsch!"
Der scharfe Stoß in die Rippen, den Remus ihm verpasst hatte, unterbrach ihn. Sirius drehte sich um und stellte fest, dass Professor Darkhardt sie eingeholt hatte. Einen Augenblick lang bemaß er sie alle mit einem kühlen Blick, dann wandte er sich Remus zu.
"Lupin, kann ich Sie einen Augenblick sprechen?"
Remus tauschte ein paar nervöse Blicke mit seinen Freunden und nickte dann.
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Lily und Aurora gingen einen Korridor links des Klassenraums für Verteidigung gegen die Dunklen Künste entlang.
"Da haben wir ja noch mal Glück gehabt", freute sich Aurora. "Wir haben den Anfang der Stunde völlig verquasselt, aber Darkhardt hat uns nicht einmal nachsitzen lassen. Ich wusste doch, dass er gar nicht so gemein ist, wie alle immer denken."
Lily antwortete nicht. Aurora drehte sich zu ihr um. Sie hatte die Stirn zusammengezogen und kaufte auf ihrer Unterlippe, so dass sie den Gang vor sich nicht sah und mit jemandem zusammenstieß, der ihr entgegenkam.
"Oh, Verzeihung", murmelte sie und blickte zu Severus Snape auf.
Er starrte sie kalt von oben herab an und hob die Hand, um sich durch das ölige, dünne schwarze Haar zu fahren. Lily erschauderte unwillkürlich.
"Geh mir aus dem Weg", zischte er.
"Hey", protestierte Aurora und hielt ihn am Ärmel zurück. "Sie hat sich entschuldigt, also sei bitte nicht so unverschämt."
Severus zog eine Augenbraue hoch.
"Wenn ich dir einen Rat geben darf", sagte er mit seiner üblichen überlegenen Art. "Ich finde, du solltest dir deine Freunde etwas sorgfältiger aussuchen. Wir leben in einer Zeit, in der es sehr unvernünftig ist, sich als anständige Hexe mit ..."
Er betrachtete Lily kritisch und schien nach einem passenden Wort zu suchen.
"Personen wie ihr abzugeben", schloss er dann und schaffte es dabei, dass es klang, als würde er über etwas Schleimiges und Abscheuliches reden.
"Und was hast du gegen Personen wie mich?" wollte Lily wissen.
Severus Snape grinste höhnisch.
"Geh mir aus dem Weg - Schlammblut", flüsterte er bedrohlich.
"Nimm das zurück!" rief Aurora und griff nach ihrem Zauberstab.
Im selben Moment tat Severus Snape das Gleiche.
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Professor Darkhardt setzte sich hinter seinen Schreibtisch und fuhr mit dem Finger über die Narbe auf seiner linken Wange, während er Remus nachdenklich bemaß. Schließlich lehnte er sich vor und gab dem Jungen zu verstehen, dass er sich setzen solle. Das tat Remus auch, obwohl er sehr nervös war. Wie immer, wenn ein Lehrer mit ihm sprechen wollte, fürchtete er, dass seine nächtlichen Eskapaden mit seinen Freunden aufgeflogen waren und dass man ihn von der Schule weisen würde. Doch die nächsten Worte von Professor Darkhardt überraschten ihn.
"Ich hab mich gefragt", setzte der graue alte Mann mit seiner rauen Stimme an, "was du wohl nach der Schulzeit so vorhast."
"Ich ... habe bisher nie so richtig darüber nachgedacht", antwortete Remus ehrlich. "Ich meine, ein paar Jahre hab ich ja noch vor mir."
"Meinst du, du hättest vielleicht Lust, Lehrer zu werden?" fragte der Professor.
"Kann schon sein", meinte Remus. "Aber ... Ich glaube nicht, dass mich jemand einstellen würde."
Der Professor wirkte nachdenklich.
"Du bist nicht auf den Kopf gefallen", sagte er endlich und überraschte Remus mit seinem offenen Lob. "Ich glaube, du hast ein seltenes Talent zur Verteidigung gegen die Dunklen Künste, das noch sehr nützlich werden könnte, wenn man den Lauf der Dinge zurzeit betrachtet."
"Ehm, danke, Sir", murmelte Remus.
Professor Darkhardt lächelte. Es war das erste Mal, dass Remus ihn lächeln sah, und es war ein merkwürdiges, schiefes Lächeln. Sein linker Mundwinkel zuckte kurz nach oben und traf sich dort mit seiner Narbe, so dass sein Gesicht furchtbar schief wirkte.
"Ich habe in einer Klasse jemanden, der sich auf diesem Gebiet weniger gut schlägt", setzte er fort. "Jemanden, der seine Fähigkeiten sicher deutlich verbessern könnte, wenn er nur etwas Hilfe dabei bekäme. Wärst du dazu bereit, Nachhilfestunden zu geben?"
"Liebend gern", hörte Remus sich selbst sagen.
"Ausgezeichnet", sagte der Professor zufrieden. "Warte mal."
Und damit ließ er Remus allein in seinem Büro zurück.
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5 - Lösungen
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Während Severus und Aurora die Zauberstäbe zogen, vergaß Lily für den Moment, dass sie eine Hexe war, und verfiel in die viel früher entwickelten Instinkte ihrer Kindheit unter Muggeln. Sie schwang den rechten Arm, und ihre Tasche donnerte dem Slytherin-Schüler kräftig gegen die Rippen. Severus Snape taumelte, hatte aber noch Zeit, atemlos einen Spruch zwischen den Lippen herauszupressen.
Aurora schrie auf und hielt beide Hände vors Gesicht, wobei ihr der Zauberstab hinfiel. Lily drehte sich um, um zu sehen, was los war, und wurde von einem Zauber getroffen, der sie am Rücken erwischte und vorwärts schleuderte. Sie kam schwer auf dem Boden auf. Sie richtete sich schnell auf und sah aus dem Augenwinkel Severus Snape, der immer noch lächelte, wie er wieder den Arm hob, um sie erneut zu verhexen. Sie wusste, dass sie nie rechtzeitig den Zauberstab aus der Tasche holen konnte, und wollte sich kaum ausmalen, was er vorhatte. Doch er tat ihr gar nichts.
"Expelliarmus!" rief eine Stimme hinter ihr.
Severus' flog der Zauberstab aus der Hand. Einen Moment lang stand er einfach nur benommen da. Lily drehte den Kopf und fühlte, wie ihr Herz einen Satz machte. Nur wenige Schritte entfernt stand James Potter mit dem Zauberstab in der Hand und starrte den höher gewachsenen Slytherin-Schüler böse an.
"Potter!" zischte Severus.
"Hallo", erwiderte James mit kühler Höflichkeit.
Severus Snape sah aus, als wolle er seinen Zauberstab wieder aufheben, aber dann sprach noch jemand.
"Lass das!" sagte Sirius Black und trat hinter der Wand hervor. "Hast dir einen schlechten Zeitpunkt ausgesucht, um uns zu nerven, du Schleimbeutel. Wir sind nicht in Stimmung."
Er nickte kurz, und Peter Pettigrew erschien. Langsam und vorsichtig näherte er sich Severus Snape, hob seinen Zauberstab auf und steckte ihn ihm in die Tasche.
"Und da hat er auch zu bleiben", warnte Sirius. "Sonst kriechst du gleich auf allen Vieren zur Hausmutter - und glaub ja nicht, dass dir einer helfen wird."
Severus Snape schien etwas antworten zu wollen, doch da drei junge Zauberer und zwei Hexen gegen ihn waren, entschied er sich dagegen. Er schnaubte einmal kurz und marschierte an ihnen vorbei, wobei sein Umhang hinter ihm den Boden fegte.
James und Sirius beobachteten ihn, bis er verschwunden war, und wandten dann ihre Aufmerksamkeit den Mädchen zu. James half Lily auf die Beine, während Sirius zu Aurora ging, die immer noch ihr Gesicht versteckte.
"Was hast du denn?" fragte er, während er den Zauberstab wegsteckte.
"Meine ... Augen", brachte Aurora hervor.
"Lass mal sehen."
Aurora wehrte sich, aber am Ende konnte Sirius ihre Hände beiseite zwängen. Er atmete tief ein und James, Lily und Peter eilten herbei. Aurora hatte ihr Gesicht schon wieder verdeckt.
"Ein Verwirrungsfluch", erklärte Sirius. "Ihre Augen rollen in alle Richtungen und hören nicht auf. Ich bring sie zu Madam Pomfrey", fügte er hinzu, und nahm Aurora beim Arm.
"Komm", sagte er beruhigend, "das kriegen wir schon wieder hin."
"Ich komme mit", sagte Lily, aber Sirius schüttelte den Kopf.
"Das schaffen wir schon, ich pass auf sie auf. Bis nachher."
Er zwinkerte Peter kurz zu und führte dann Aurora in Richtung Krankenstation davon.
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Remus tippte nervös mit den Fingerspitzen gegen die Rückenlehne des Stuhls, von dem er aufgestanden war. Dann fing er an, seine Umgebung zu studieren. Das Büro des Lehrers für Verteidigung gegen die Dunklen Künste war recht klein und roch verstaubt, aber es war voll mit faszinierenden Geräten. Auf der Fensterbank stand etwas, das wie ein kleiner Kreisel aussah und sich unaufhörlich drehte - das musste ein Spickoskop sein. Auf den Regalen standen reihenweise Bücher über die Dunklen Künste, Dunkle Zauberer in der Geschichte, Flüche und Gegenflüche.
Allmählich wurde Remus etwas selbstsicherer und entfernte sich von seinem Stuhl. Er sah aus dem Fenster und wagte sogar, die Lehne vom Lehrerstuhl zu berühren. Irgendwie gefiel ihm dieser Raum. Hier konnte man sich wohlfühlen, fand er. Als es an der Tür klopfte, war seine Nervosität fast völlig verschwunden.
Er rief "Herein!" und sah sich das Spickoskop noch mal genauer an.
Langsam öffnete sich die Tür, und jemand trat zögerlich ins Büro. Remus drehte sich um und reagierte sofort überrascht. Er betrachtete das zierliche Mädchen vor ihm, mit ihren geflochtenen braunen Locken und den hellblauen Augen, die auf den Boden fixiert waren.
"Hallo", nuschelte sie.
"Hallo", sagte auch Remus. "Du bist Heather Woodcock, stimmt's?"
Das Mädchen starrte ihn an.
"D-du kennst meinen Namen?"
Remus nickte kurz. Heathers Gesicht erhellte sich und ihre Wangen liefen rosa an.
"Tja", setzte Remus lächelnd fort. "Und du brauchst also Hilfe bei Verteidigung gegen die Dunklen Künste?"
Jetzt nickte sie eifrig.
"Ich bin so eine Art hoffnungsloser Fall, glaube ich. Professor Darkhardt hat mich letzte Stunde zurückbehalten und ich hab schon gedacht, er wird jetzt richtig böse auf mich, aber dann war er doch ganz freundlich und hat gesagt, dass er jemanden kennt, der sehr gut in dem Fach ist und mir sicher helfen würde. Ich ... bin dir sehr dankbar, dass du dir die Zeit nehmen willst", schloss sie etwas atemlos ab.
"Das tu ich gern", versicherte Remus.
Heather strahlte.
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"Ähh ... ich ... ähm. Entschuldigt", stammelte Peter, nachdem Sirius gegangen war. "Ich muss zurück zum Schlafraum. Ich will noch einen Brief an meine Schwester zu Ende schreiben. Bis nachher, James."
Er lächelte die beiden an und verschwand in die falsche Richtung, hätte er wirklich zum Schlafraum gewollt. Lily sah ihm nach und wandte sich dann verlegen James zu.
"Danke, dass ihr uns eben geholfen habt", setzte sie an. "Wenn ihr nicht aufgetaucht wärt ..."
"Keine Ursache", meinte James etwas unbeholfen.
Lily lächelte.
"Es war nett von Sirius, wie er sich um Aurora gekümmert hat. Ich muss zugeben, ich habe bisher immer gedacht, er wäre nur ein ... na ja ..."
"Was denn?"
"Ein Spitzbube", schloss Lily entschuldigend.
"Das bin ich dann wohl auch."
James zuckte die Achseln auf eine Weise, die Lily insgeheim sehr amüsierte, denn sie hatte schon oft beobachtet, wie Sirius die Achseln genauso zuckte. Sie ging einen Schritt zurück und betrachtete ihn.
"Könnte schon sein", sagte sie fröhlich.
James erwiderter den Blick ihrer leuchtend grünen Augen einen Moment lang, dann sah er weg.
"Hör mal, wegen gestern", sagte er. "Ich weiß, ich war ziemlich gemein zu dir. Das tut mir Leid."
"Ist schon vergessen", versicherte sie, und war selbst überrascht, dass die Ereignisse des letzten Tages ihr jetzt so unwichtig erschienen. "Das hast du heute mehr als wettgemacht. Außerdem warst du offensichtlich nicht bei Laune. Ich hätte nicht einfach so hereinplatzen sollen."
James schüttelte den Kopf.
"Ich hätte aber nicht so mit dir reden dürfen. Verzeihst du mir?"
Lily strahlte ihn an. Er sah wieder in ihre Augen, und auf einmal erinnerte er sich an den Traum. Er auf seinem Besen. Er war einem Besen nachgejagt, den er für den von Mary Crimple gehalten hatte, und dann hatte er ein paar leuchtend grüne Augen gesehen. Jetzt wusste er, wem sie gehörten. Doch mit diesem Wissen setzte eine unerklärliche Angst ein und er erinnerte sich an ein weiteres Detail desselben Traums. Die Stimme einer Frau, die seinen Namen schrie.
"James, ist alles in Ordnung?"
James zuckte zusammen. Er war bei der Erinnerung an seinen Traum blass geworden und wirkte nun wieder besorgt. Er sah zu Lily herab und merkte, dass ihre grünen Augen sorgenvoll zu ihm hochblickten. Er lächelte.
"Tut mir Leid", sagte er. "Ich hab nur über etwas nachgedacht."
"Weißt du, mein Angebot von gestern ist noch offen", meinte Lily sanft. "Wenn ich dir irgendwie helfen kann ..."
James war kurz davor, ihr zu sagen, dass er sich ihr nicht anvertrauen wollte. Dann stellte er fest, dass es eine Lüge wäre.
"Nicht jetzt", sagte er stattdessen und sah auf die Uhr. "Wir müssen beide zum Unterricht. Ich erzähl es dir später, ja? Wollen wir uns nach der Schule auf dem Hof treffen? So gegen fünf?"
Lily zögerte nur kurz, ehe sie nickte.
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"Also wirklich", klagte Madam Pomfrey. "Es wird Zeit, dass die Lehrer etwas unternehmen, um diese ständigen Verfluchungen und Verwünschungen außerhalb des Unterrichts zu unterbinden. Mr. Filchs Verbot gegen Zauberei auf den Fluren scheint ja überhaupt keine Wirkung zu zeigen. Armes Kind", murmelte sie und kratzte eine sehr unappetitliche graue Paste auf einen Verband, den sie über Auroras verbundene Augen legte.
Aurora zuckte, als der kalte Schleim sie berührte. Madam Pomfrey befestigte den verband und führte Aurora zu einem Bett.
"Hier, bleiben sie einfach eine Weile liegen. Den Verband werden Sie leider bis morgen früh tragen müssen, aber dann wird es Ihnen wieder blendend gehen. Rufen Sie mich, wenn Sie etwas brauchen."
Damit ging sie zurück in ihr Büro am Ende des Saals. Sirius näherte sich dem Bett.
"Wie sehe ich aus?" versuchte Aurora tapfer, ihr Missgeschick abzutun.
Sirius musste grinsen, obwohl er wusste, dass sie es nicht sehen konnte.
"Steht dir gut", neckte er.
Aurora lächelte.
"Was ist das für ein Zeug, das sie mir auf die Augen geschmiert hat?"
"Glaub mir", wisperte Sirius, "das willst du gar nicht wissen. Es sah ekelhaft aus. Wie ... Rattengelee."
"Igitt." Aurora verzog das Gesicht. "Du hattest Recht, das wollte ich wirklich nicht wissen."
Sirius lachte.
"Hör mal", sagte er, "ich muss wieder runter zum Unterricht. Ich sehe später noch mal nach dir, in Ordnung?"
"In Ordnung."
Aurora lehnte sich zurück und lauschte, während seine schnellen Schritte sich von ihr entfernten.
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1 - Zurück zur Schule
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Endlich waren die Ferien zu Ende. Rückblickend wunderte James sich, warum er sich überhaupt so sehr darauf gefreut hatte. Jetzt wollte er nur noch nach Hogwarts zurück, denn irgendwie hatte er das Gefühl, dass er nur dort das Rätsel lösen konnte. Es war der Morgen des 30. August, und James sah durch den vom Sonnenlicht erhellten Raum zum Klappbett an der gegenüberliegenden Wand. Als ob er die Augen seines Freundes spüren könnte, drehte Sirius Black sich um, blinzelte gegen das grelle Licht, schlug die Augen auf und räkelte sich.
"Morgen, James", gähnte er. "Bist du schon lange wach?"
James wandte den Kopf und sah auf die Uhr auf seinem Nachttisch.
"Ungefähr eine Stunde", sagte er.
"Oh Mann", rief Sirius. "Und da bist du noch nicht aufgestanden?"
"Mir war nicht danach", erwiderte James. "Ich hab nachgedacht."
"Geht's wieder mal um Professor Trelawney und die sogenannte Prophezeiung, oder was?"
James nahm ein Pergamentstück vom Nachttisch. Es war ein Brief, geschrieben in einer sehr ordentliche Handschrift.
"Moony schreibt, dass auf jeden Fall irgendwas Merkwürdiges vor sich geht, aber er will uns das nicht in einem Brief erzählen. Und über Gryffindor und seine Nachkommen hat er auch nichts rausgefunden. Man sollte doch meinen, dass es über einen so berühmten Mann ein Buch geben würde."
Sirius zuckte faul mit den Schultern.
"Ich würde mir deswegen nicht den Kopf zerbrechen", meinte er nicht zum ersten Mal. "Ich bin immer noch der Meinung, dass unser durchgeknallter Schmetterling sich das alles nur ausgedacht hat."
James sah immer noch zweifelnd aus. Es klopfte an der Tür und seine Mutter kam herein.
"Guten Morgen, ihr zwei", sagte sie fröhlich. "Wollt ihr schon Frühstück?"
"Und ob!" rief Sirius begeistert und sprang aus dem Bett.
Bridget Potter zog sich zurück, damit die beiden sich waschen und anziehen konnten, und ging in die Küche. Sie machte das Fenster auf, um frische Luft hereinzulassen, und machte sich daran, Tee und Butterbrote vorzubereiten. Sie hörte hinter sich etwas flattern und drehte sich um. Eine große Schleiereule hockte am Rand der Spüle. Jemand hatte ihr ein gefaltetes Pergament ans linke Bein gebunden. Besorgt, dass die Nachbarn etwas bemerken könnten, nahm Bridget dem Vogel schnell seine Last ab und ließ ihn fortfliegen. Sie betete, dass niemand eine Eule am helllichten Tag mitten in London bemerken würde.
Sie faltete das Pergament auf, und dabei fiel ihr ein Zeitungsausschnitt herunter. Sie hob ihn auf. Ihr Herz schlug schneller. Das Blut wich ihr aus dem Gesicht und sie wandte ihre Aufmerksamkeit dem Brief zu.
James hörte das Fiepen des Wasserkessels und wunderte sich, dass seine Mutter ihn nicht vom Herd nahm. Er eilte in die Küche, griff sich ein Tuch, stellte das kochende Wasser schnell beiseite und drehte das Gas ab. Als er sich umdrehte sah er, dass seine Mutter auf einem der Küchenstühle hockte und auf ein Stück Pergament in ihrer Hand starrte. Ihr Gesicht war blass.
"Mum!" rief er. "Was ist los?"
Es wurde sehr still im Raum. Das einzige Geräusch war das des fließenden Wassers im Badezimmer, wo Sirius sich gerade duschte.
"Setz dich", sagte James' Mutter schließlich, stand auf und schloss die Tür.
Sie kam zurück und setzte sich auf den Stuhl neben seinem.
"Dieser Brief", setzte sie an, "ist von Professor Dumbledore."
James' Gedanken rasten. Er dachte sofort an Remus und daran, dass er selbst vor den Ferien den Spitznamen seines Freundes ausgeplappert hatte. Dumbledore hatte doch nichts von ihrer Rumtreiberei herausgefunden? Doch dann fiel ihm auf, dass seine Mutter noch etwas anderes in der Hand hielt - einen Zeitungsartikel. Bridget Potter hielt ihn hoch und fuhr fort:
"Er hat mir das hier geschickt und ich glaube, er will, dass du es auch siehst. Er hat wohl Recht, wenn er meint, dass ich dich in deinem Alter nicht mehr vor allem schützen kann."
James nahm den Artikel, den sie ihm hinhielt, und sah ihn sich an. Dort war ein Bild, das sich bewegte. Es zeigte einen Mann, der von Zauberern in düsteren schwarzen Gewändern abgeführt wurde. Der Titel des Ausschnitts lautete "Zauberer wegen Muggel-Quälerei verhaftet".
James las den Artikel durch. Es ging um einen Mann namens Vindictus Lothian, einen Mitarbeiter des Zaubereiministeriums, der dabei erwischt worden war, wie er eine junge Muggelfrau und ihr Kind mit einem Fluch gequält hatte, von dem James nie gehört hatte - der Prophet nannte ihn den 'Cruciatus'-Fluch - und das offenbar einzig und allein zum Spaß. Sie sollten nun ins Krankenhaus St. Mungo gebracht werden, wo man sie hoffentlich heilen konnte.
James sah seine Mutter an.
"Das ist ... ja schrecklich", war das einzige, was ihm einfiel.
Bridget nickte angespannt.
"Hast ... Kennst du die Frau?" riet James.
Doch dieses Mal schüttelte seine Mutter den Kopf.
"Nein, ich kenne sie nicht. Aber ich kenne den Mann auf diesem Foto."
James sah sich das Bild noch einmal an. Der Zauberer, der abgeführt wurde, schien Ende vierzig zu sein. Er war groß, sah gut aus und hatte wirres schwarzes Haar.
Bridget stand auf und ging zum Fenster. Als sie sich nach längerer Zeit wieder James zuwandte bemerkte er, dass ihre Augen gerötet waren und ihre Stirn sich vor Sorge kräuselte - sie wirkte irgendwie älter als sonst.
"Diesen Mann", sagte sie flüsternd, "habe ich geheiratet als ich noch zu jung war, um zu wissen, was ich wirklich wollte - oder ihn als das zu erkennen, was er war. Mein Vater hat mich damals vor ihm gewarnt, aber natürlich dachte ich, ich wüsste es besser als er mit all seiner Erfahrung. Ich bin mit Vindictus Lothian durchgebrannt und habe ihn geheiratet. Ich war jung und sehr, sehr dumm.
Ich habe meinen Fehler schnell erkannt. Seine Freunde waren eine gefährliche Bande, die damals schon Verbrechen gegen die Leute plante, die ihrer Meinung nach 'schlechtes Blut' hatten. Er war auch nicht besser als sie. Als ich feststellte, dass ich schwanger war, wusste ich, dass es nur einen Weg gab, wie ich dich vor ihn und seinen Freunden schützen konnte. Ich habe gewartet, bis er das Haus verlassen hatte, dann hab ich meine Taschen gepackt und ihn verlassen. Ich wusste nicht, wohin ich gehen oder was ich tun sollte, nur, dass ich von ihm weg musste, bevor er von dir erfuhr. Wenn er es gewusst hätte ... Du hättest keine Chance gehabt. Er und seine Freunde hätten dich schon zu ihrer Meinung 'bekehrt', und das konnte ich nicht zulassen.
Ich bin ganz zufällig hierher gekommen. Ich hatte Angst und es gab niemanden, an den ich mich wenden konnte. Wenn Mrs. Hammersmith nicht gewesen wäre, wären wir beide in einer regnerischen Nacht irgendwo an einer Londoner Straßenecke gestorben. Aber sie hatte Mitleid mit mir und half mir, die ersten Jahre allein durchzustehen. Ich habe meinen Namen geändert und alles hinter mir gelassen, was ich je hatte, um ein neues Leben anzufangen und dich zu beschützen. Aber mir ist schon seit einiger Zeit klar, dass ein dunkler Zauberer hier und im Ausland immer mehr Einfluss gewinnt. Ich habe schon lange einen Verdacht, wer er ist, und dass Vindictus ihn immer noch unterstützt. Das hier ist der Beweis."
James starrte noch immer auf das Bild in seiner Hand. Schließlich fragte er schüchtern:
"Dann ist dieser Mann also mein Vater?"
"Ja", gab Bridget traurig zu. "Leider ist er das. Und ich fürchte, dass es noch viele schlechte Nachrichten geben wird, bevor das hier vorbei ist. Es ist etwas Böses im Gange und ich bin mir sicher, dass der Mann, der dahinter steckt, es nicht bei einem bisschen Quälerei bewenden lassen wird. Er ist zu viel schlimmeren Dingen fähig."
James dachte lange nach, ehe er die nächste Frage stellte, die ihn schon die ganze Zeit beschäftigte.
"Wer ist er? Wer steckt dahinter?"
Bridget betrachtete ihn besorgt.
"Er ging mit Vindictus - deinem Vater - zur Schule und dein Vater bewunderte ihn. Seine Freunde nannten ihn Lord Voldemort. Aber so viel ich weiß war das nicht sein richtiger Name. Dein Vater hat ihn einmal anders genannt als er dachte, sie wären allein. Ich kann mich aber nicht daran erinnern."
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2 - Zurück auf Gleis 9 ¾
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Lily strich sich die langen roten Haare über die Schulter und atmete tief ein. Sie stand vor der Schranke, die die Bahnsteige 9 und 10 am King's- Cross-Bahnhof trennte. With Nervös sah sich um, um sicher zu gehen, dass auch kein Muggel-Gepäckträger sie beobachtete, dann ging sie auf die Schranke zu - und verschwand.
Sie erschien wieder auf Bahnsteig 9 ¾, wo die große rote Dampflok des Hogwarts Express schon wartete. Der Bahnsteig war überfüllt mit Schülern und ihren Eltern. Lily seufzte. Ihre Eltern hatten heute nicht kommen können. An der Schule ihrer Schwester Petunia gab es heute irgendeine besondere Vorstellung. Obwohl ihre Eltern sie lieber zum Bahnhof hatten bringen wollen, hatte Lily sie mit Petunia losgeschickt, die ohnehin schon immer eifersüchtig auf Lily war. Lily sah sich um und erblickte viele vertraute Gesichter.
Am vorderen Ende des Zuges stieg ein mürrischer Junge mit fettigen Haaren in ein Abteil. Er wirkte, als halte er alle anderen dort für unwürdig, dieselbe Luft zu atmen wie er. Seine Augen trafen kurz Lilys, als er sich umdrehte, um sich von seinen Eltern zu verabschieden, und sie sah schnell weg.
Ein paar Abteile von dem Jungen - der wie Lily wusste Severus Snape von Slytherin war - entfernt entdeckte sie Frank Longbottom, der ihr winkend zulächelte. Lily winkte zurück. Frank war nicht nur klug, sondern auch immer gut gelaunt und freundlich, weshalb er sehr beliebt war. Sein bester Freund, Damian Diggle aus Hufflepuff, war bei ihm.
Ein Stück weiter links sah Lily noch einen Jungen aus ihrem Jahrgang: einen dünnen, müde wirkenden Jungen mit einigen silbrigen Strähnen im hellbraunen Haar. Als sie Remus Lupin erkannte, schob Lily ihren Wagen schnell in die entgegengesetzte Richtung, zum Ende des Zuges, wobei sie auf die eigenen Füße starrte und hoffte, dass er sie nicht bemerken würde. Denn wenn er sie sah, musste sie ihn grüßen, und dann würden seine Freunde bald dazustoßen, und darunter wäre dann ... Sie stieß plötzlich gegen ein Hindernis. Als sie aufschaute, stellte sie fest, dass sie mit einem anderen Gepäckwagen zusammengestoßen war - dem Wagen der Person, der sie aus dem Weg gehen wollte.
James Potter lächelte, aber Lily fiel sofort auf, dass er irgendwie anders war als das letzte Mal, das sie ihn gesehen hatte. Er wirkte angespannt und seine Haare waren - falls das überhaupt möglich war - unordentlicher denn je, während die braunen Augen hinter seiner Brille müde schienen. Lily spürte förmlich, wie ihre Wangen rot wurden, murmelte eine hastige Entschuldigung und ging weiter, wobei sie sich zwingen musste, nicht über die Schulter zu sehen. Sie hatte fast das Gefühl, als könne sie James' Augen auf ihrem Rücken spüren, aber sie ging trotzdem weiter, auch wenn sie die anderen Schüler um sich herum kaum noch bemerkte.
"Lily! Lily, hier drüben!"
Sie drehte den Kopf und stellte fest, dass sie soeben an ihrer Freundin Aurora Borealis aus Ravenclaw vorbeigelaufen war.
"Rory!" rief sie und umarmte das Mädchen.
Aurora drückte sie fest.
"Einen Sickel für deine Gedanken", scherzte sie.
Lily starrte sie abwesend an.
"Ach, komm schon", lachte Aurora, deren Augen funkelten. "Denk ja nicht, ich hätte nicht gesehen, wie du James wieder angestarrt hast."
Lily lief rot an.
"Ich hab ihn nicht angestarrt!" protestierte sie heftig.
Aurora grinste nur und schüttelte ihren rotbraunen Schopf.
"Komm", sagte sie, "lass uns einsteigen, ja?"
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3 - Komplikationen
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James wartete bis nach dem Abendessen. Erst als er mit seinen Freunden in einer stillen Ecke des Gemeinschaftsraum saß erzählte er Remus und Peter, was er Sirius gestern schon berichtet hatte: alles, was seine Mutter über seinen Vater und dessen Freunde gesagt hatte. Als er fertig war, nickte Remus langsam.
"Ich habe den Sommer über auch einiges gehört", meinte er. "Offenbar gab es im Ministerium ein paar ziemlich merkwürdige Vorfälle. Ich hab meinen Vater gefragt. Er wollte mir erst nichts sagen, aber am Ende hat er zugegeben, dass schon seit einigen Jahren gewisse Dinge vertuscht werden.
Es hat wohl damit begonnen, dass einige Mitarbeiter im Ministerium es sich auf einmal in den Kopf gesetzt haben, dass sie irgendwie besser wären als andere, weil sie 'reines Blut' haben. Es fing alles noch ziemlich harmlos an, aber es wird immer schlimmer, und inzwischen sind auch die höheren Etagen betroffen. Inzwischen sind einige Minister fest davon überzeugt, dass bestimmte Positionen nur mit reinblütigen Anwärtern gefüllt werden sollten. Sie wollen keine Leute aus Muggel-Familien oder Halbblütige einstellen.
Dieser Fall da in der Zeitung war auch nicht das erste Mal, dass Muggel gequält wurden. Wie es aussieht haben die Vernünftigen unter uns ein ziemlich großes Problem zu bekämpfen."
"Aber w-wie konnte so was passieren?" fragte Peter.
"Wer weiß", erwiderte Sirius, der sich endlich hatte überzeugen lassen, dass hinter Professor Trelawneys Prophezeiung vielleicht doch mehr als Wahnsinn steckte. "Aber die vorherrschende Meinung scheint zu sein, dass hinter allem ein und dieselbe Macht steckt. Ein Zauberer, der den reinblütigen Zauberern einreden will, dass sie allen anderen überlegen sind."
Langsam nickte Peter. Er sagte:
"Wie gesagt, meine Schwester Polly hat diesen Sommer geheiratet, und ... na ja, sie und ihr Mann, Leonard Lestrange, scheinen auch so was Ähnliches zu glauben. A-aber warum hören die Leute auf so einen Blödsinn?"
"Manche Leute glauben alles, wenn sie sich dadurch besser fühlen", sagte Remus. "Sieh dir Severus Snape an, oder die anderen Slytherins. Sie halten sich doch ohnehin schon für etwas Besseres als alle anderen. Wenn jetzt jemand käme, der ihrer Arroganz schmeichelt und ihnen vorschlägt, uns alle rauszuwerfen und die Schule zu übernehmen, glaube ich kaum, dass sie ablehnen würden. Sie wären sofort auf seiner Seite."
"Dann lass uns doch einfach schneller sein und alle Slytherins rausschmeißen", schlug Sirius vor.
"Das sollte nur ein Beispiel sein, Sirius", erklärte Remus. "Nicht nur Slytherins stehen hinter diesem Mann. Die Frage ist nur, wer er wirklich ist - und wie wir ihn aufhalten können?"
Instinktiv sahen sie alle zu James, der seit einiger Zeit gar nichts mehr gesagt, sondern nachdenklich in seiner Ecke geschwiegen hatte.
"Ich glaube, wir können es gar nicht", sagte er schließlich. "Was ich erfahren hab und was du uns erzählt hast, Moony, hat mich absolut überzeugt, dass Professor Trelawney Recht hatte. Etwas Böses wird immer mächtiger, dafür haben wir genug Beweise gefunden. Das einzige, was wir über diesen Mann wissen, ist dass meine Mutter sagt, dass seine Freunde ihn damals Lord Voldemort nannten. Aber es ist unwahrscheinlich, dass das sein richtiger Name ist. Sie hat gesagt, mein Vater und er waren Freunde, als sie hier zur Schule gingen. Der Sprechende Hut hat auch so was angedeutet, als ich ihn vor vier Jahren aufhatte."
"Also es muss doch irgendwo ein Buch oder ein Verzeichnis geben, wo alle Schüler aufgeführt sind, die über die Jahre nach Hogwarts gingen", meinte Remus. "Jetzt, wo wir wissen, wie dein Vater hieß, müssten wir doch herausfinden können, in welchem Jahr er hier war, und dann müssen wir nur noch rauskriegen, wer seine Freunde waren. Wenn du willst, geh ich gleich mal in der Bibliothek nachsehen."
"Danke, Moony", sagte James. "Aber lass nur. Ich glaube, ich gehe lieber selbst, wenn es dir nichts ausmacht. Ich brauch ein bisschen Zeit für mich."
Sein Herz fühlte sich sehr schwer an, als er den Gemeinschaftsraum verließ. Das Portrait der Dicken Dame schwang wieder an seinen Platz zurück. Doch Augenblicke später öffnete sich das Loch wieder, und noch jemand kletterte hindurch.
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James ging ziellos zwischen den Bücherregalen der Bibliothek auf und ab. Er hatte etwas suchen wollen, das ihm helfen würde, mehr über den mysteriösen Lord Voldemort herauszufinden, aber er hatte einfach zu viel im Kopf. Er konnte nicht klar denken, und außerdem hatte er keine Ahnung, wo er nach der Art Buch suchen sollte, das er brauchte. Er könnte natürlich die Bibliothekarin fragen, aber er wollte nicht, dass mehr Leute als nötig erfuhren, was er im Schilde führte.
James ließ sich seufzend auf einen Stuhl fallen. Er stützte die Ellenbogen auf den Tisch, schloss die Augen, vergrub sein Gesicht in den Händen und zog an seinem ohnehin schon zerzausten Haar. Er hörte nicht die leise nahenden Schritte und bemerkte nicht, dass jemand auf ihn herabblickte. Erst als er hörte, wie der Stuhl gegenüber knarrte, schaute er auf und starrte.
Ihm gegenüber saß niemand geringeres als Lily Evans. Sie hatte ihr langes rotes Haar zu einem Zopf gebunden und ihre grünen Augen bemaßen ihn nachdenklich. James fühlte sich unwohl. Er wusste gar nicht recht, wie er mit ihr reden sollte. Eine Zeit lang waren sie fast so etwas wie Freunde gewesen - sie hatte ihn angelächelt, wenn sie ihn sah, und er hatte zurückgelächelt. Doch heute am Bahnhof war es ihm vorgekommen, als wollte sie ihn gar nicht sehen. Sie war regelrecht davon gestürmt. Auch vor den Ferien hatte sie ihn längere Zeit kaum angesehen.
Wenn er genauer nachdachte, konnte er sich nicht erinnern, seit dem Quidditch-Spiel Ravenclaw gegen Gryffindor im letzten Jahr auch nur ein Wort mit ihr gewechselt zu haben. Während die meisten anderen Mädchen der Schule ihn seit diesem Spiel wie einen Helden beinahe vergöttert hatten, schien Lily seitdem kälter geworden zu sein, obwohl James sich nicht vorstellen konnte, weshalb. Aber jetzt sprach Lily.
"Hallo", sagte sie etwas unbeholfen.
Ihre Stimme klang sanft. James antwortete mit einem schwachen Lächeln.
"Suchst du ... irgendwas bestimmtes?" fragte sie.
"Nichts, wobei ich deine Hilfe gebrauchen kann", entgegnete er ein wenig schroff.
"Na, das kannst du doch nicht wirklich wissen, wenn du nicht fragst", meinte Lily leise.
"Ich brauche deine Hilfe nicht", schnappte James. "Ich brauch nur meine Ruhe."
Lilys Ausdruck wurde verdrießlich.
"Verstehe", sagte sie hochmütig. "Verzeih, dass ich den Mund aufgemacht habe. Dann werde ich mal wieder gehen. Ich dachte, du sähest aus, als würde dich etwas bedrücken, aber wenn du so launisch bist - lass dich nicht stören."
Sie stand auf und marschierte hinaus. James blieb einen Moment lang sitzen und dachte rein gar nichts. Erst in dem Moment, als er hörte, wie die Tür ins Schloss fiel, wurde ihm seine Unhöflichkeit bewusst. Schließlich hatte sie doch nur nett sein wollen. Er erhob sich und ging ihr nach, doch als er die Tür erreichte, war Lily längst verschwunden.
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4 - Verteidigung gegen die Dunklen Künste
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In der ersten Stunde am nächsten Tag hatten sie Verteidigung gegen die Dunklen Künste zusammen mit den Ravenclaws. Lily setzte sich neben Aurora in die letzte Reihe. Sie war dabei, ihrer Freundin von der Begegnung mit James in der Bibliothek zu erzählen.
"Komm schon, Lily", flüsterte Aurora während sie dabei waren, ihre Bücher auszupacken. "Du hast doch selbst gesagt, dass ihn etwas bedrückt. Sicher wollte er gar nicht so unfreundlich sein."
Lily runzelte müde die Stirn. Sie hatte die letzte Nacht über kaum geschlafen, und das war ihr anzusehen.
"Er ist in letzter Zeit so anders geworden. Ich wüsste nur gerne warum ..."
"Das stimm nicht, Lily", widersprach Aurora ehrlich. "Er hat sich genauso verhalten wie sonst auch, finde ich. Wenn dann bist du diejenige, die sich verändert hat. Es hat alles mit diesem Quidditch-Spiel letztes Jahr angefangen. Davor warst du völlig vernarrt in ihn, hast ihm ständig schöne Augen gemacht ..."
"Hab ich nicht!" protestierte Lily.
Sie hielt sich schnell die Hand vor den Mund. Professor Darkhardt hatte eben den Raum betreten und sah zu ihr rüber. Aurora wartete bis er in eine andere Richtung sah, bevor sie antwortete.
"Doch, hast du, nur war dir sicher nicht klar, dass es so offensichtlich war. Aber denk nicht, ich hätte nicht bemerkt, wie du ihn ständig angestarrt hast. Und dann rettet er Mary von ihrem Besen - was übrigens nichts Besonderes war; das hätte jeder andere an seiner Stelle auch getan - und die ganze Schule ist auf einmal in ihn verknallt, nur du bist plötzlich böse auf ihn, weil er über Nacht zum Helden der Nation geworden ist.
All die anderen Mädchen, die ihm sonst keine Sekunde lang ihre Aufmerksamkeit geschenkt haben, schwirren auf einmal wie die Bienen um ihn rum - wusstest du, dass eine der Hufflepuffs ihn gebeten hat, ihr Lieblings- Quidditch-Buch zu signieren? - aber du musst natürlich warten, bis du glaubst, dass alle schlafen, ehe du dich ins Krankenzimmer schleichst."
Lily wurde rot.
"Woher weißt du das jetzt schon wieder?" zischte sie.
Aurora lächelte viel sagend und tippte sich mit dem rechten Zeigefinger gegen die Stirn. Lily seufzte.
"Ich weiß doch nicht mal, ob er mich überhaupt leiden kann."
"So was könnte ich leicht rausfinden", bot ihre Freundin an.
Lily schien entsetzt.
"Du meinst, du würdest tatsächlich, na ja ... seine Gedanken lesen?"
Aurora zuckte die Schultern.
"Wenn ich es nur so hinbekomme, dass du endlich einsiehst, was für dich das beste ist."
Lily schüttelte heftig den Kopf.
"Ich will nicht, dass du in seinem Kopf rumstocherst."
"Doch nicht rumstochern! Er würde nicht einmal bemerken, dass ich da bin. Aber wenn du nicht willst, na schön, dann nimm die altmodische Methode. Gib ihm noch eine Chance, Lily."
"Miss Borealis, Miss Evans!" unterbrach sie Professor Darkhardt. "Mir scheint, dass Sie beide ein höchst faszinierendes Thema gefunden haben. Möchten Sie uns nicht alle an Ihrer Diskussion teilhaben lassen?"
Die beiden Mädchen verstummten beschämt. Der Professor sah von der einen zur anderen.
"Nein?" meinte er endlich. "Wenn das so ist, vielleicht wären Sie dann so gut, Ihre Aufmerksamkeit wieder dem Unterricht zuzuwenden. Mr. Black erwähnte eben den Verlockungszauber, mit dem der Dunkle Zauberer von Hameln seine Flöte belegte. Kann eine von Ihnen beiden mir mehr darüber sagen?"
Aurora blätterte hastig. Lily schaute sie unglücklich an. Sie hatte vielleicht gut reden. Ihr bedeutet James nicht so viel wie Lily.
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James, Sirius, Remus und Peter verließen als letzte den Klassenraum. James grübelte immer noch nach und seine Freunde machten sich allmählich Sorgen.
"Ach komm, Kopf hoch, Krone", flüsterte Sirius. "Wir werden schon bald genug alles erfahren, was wir wissen müssen. In der Zwischenzeit bin ich dafür, dass wir Spaß haben. Weißt du, ich hab nicht einfach nur so mein ganzes Geld für dieses Sonderangebot mit den fünfzig Stinkbomben und die explodierenden Zauberstäbe ausgegeben. Und wir können uns doch auch auf heute Nacht freuen. Heute ist Vollmond. Und mir ist noch was eingefallen, was wir mit unserer Karte machen können."
James wirkte ermuntert. Sirius steckte immer voller Ideen, wenn es darum ging, gegen die Regeln zu verstoßen.
"Was denn? Einen Anti-Peeves-Zauber?"
"Nicht ganz." Sirius grinste. "Eigentlich ist es nur ein Spaß. Ich hab mir gedacht, wir könnten die Karte so verzaubern, dass wenn ein Lehrer sie lesen will ... autsch!"
Der scharfe Stoß in die Rippen, den Remus ihm verpasst hatte, unterbrach ihn. Sirius drehte sich um und stellte fest, dass Professor Darkhardt sie eingeholt hatte. Einen Augenblick lang bemaß er sie alle mit einem kühlen Blick, dann wandte er sich Remus zu.
"Lupin, kann ich Sie einen Augenblick sprechen?"
Remus tauschte ein paar nervöse Blicke mit seinen Freunden und nickte dann.
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Lily und Aurora gingen einen Korridor links des Klassenraums für Verteidigung gegen die Dunklen Künste entlang.
"Da haben wir ja noch mal Glück gehabt", freute sich Aurora. "Wir haben den Anfang der Stunde völlig verquasselt, aber Darkhardt hat uns nicht einmal nachsitzen lassen. Ich wusste doch, dass er gar nicht so gemein ist, wie alle immer denken."
Lily antwortete nicht. Aurora drehte sich zu ihr um. Sie hatte die Stirn zusammengezogen und kaufte auf ihrer Unterlippe, so dass sie den Gang vor sich nicht sah und mit jemandem zusammenstieß, der ihr entgegenkam.
"Oh, Verzeihung", murmelte sie und blickte zu Severus Snape auf.
Er starrte sie kalt von oben herab an und hob die Hand, um sich durch das ölige, dünne schwarze Haar zu fahren. Lily erschauderte unwillkürlich.
"Geh mir aus dem Weg", zischte er.
"Hey", protestierte Aurora und hielt ihn am Ärmel zurück. "Sie hat sich entschuldigt, also sei bitte nicht so unverschämt."
Severus zog eine Augenbraue hoch.
"Wenn ich dir einen Rat geben darf", sagte er mit seiner üblichen überlegenen Art. "Ich finde, du solltest dir deine Freunde etwas sorgfältiger aussuchen. Wir leben in einer Zeit, in der es sehr unvernünftig ist, sich als anständige Hexe mit ..."
Er betrachtete Lily kritisch und schien nach einem passenden Wort zu suchen.
"Personen wie ihr abzugeben", schloss er dann und schaffte es dabei, dass es klang, als würde er über etwas Schleimiges und Abscheuliches reden.
"Und was hast du gegen Personen wie mich?" wollte Lily wissen.
Severus Snape grinste höhnisch.
"Geh mir aus dem Weg - Schlammblut", flüsterte er bedrohlich.
"Nimm das zurück!" rief Aurora und griff nach ihrem Zauberstab.
Im selben Moment tat Severus Snape das Gleiche.
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Professor Darkhardt setzte sich hinter seinen Schreibtisch und fuhr mit dem Finger über die Narbe auf seiner linken Wange, während er Remus nachdenklich bemaß. Schließlich lehnte er sich vor und gab dem Jungen zu verstehen, dass er sich setzen solle. Das tat Remus auch, obwohl er sehr nervös war. Wie immer, wenn ein Lehrer mit ihm sprechen wollte, fürchtete er, dass seine nächtlichen Eskapaden mit seinen Freunden aufgeflogen waren und dass man ihn von der Schule weisen würde. Doch die nächsten Worte von Professor Darkhardt überraschten ihn.
"Ich hab mich gefragt", setzte der graue alte Mann mit seiner rauen Stimme an, "was du wohl nach der Schulzeit so vorhast."
"Ich ... habe bisher nie so richtig darüber nachgedacht", antwortete Remus ehrlich. "Ich meine, ein paar Jahre hab ich ja noch vor mir."
"Meinst du, du hättest vielleicht Lust, Lehrer zu werden?" fragte der Professor.
"Kann schon sein", meinte Remus. "Aber ... Ich glaube nicht, dass mich jemand einstellen würde."
Der Professor wirkte nachdenklich.
"Du bist nicht auf den Kopf gefallen", sagte er endlich und überraschte Remus mit seinem offenen Lob. "Ich glaube, du hast ein seltenes Talent zur Verteidigung gegen die Dunklen Künste, das noch sehr nützlich werden könnte, wenn man den Lauf der Dinge zurzeit betrachtet."
"Ehm, danke, Sir", murmelte Remus.
Professor Darkhardt lächelte. Es war das erste Mal, dass Remus ihn lächeln sah, und es war ein merkwürdiges, schiefes Lächeln. Sein linker Mundwinkel zuckte kurz nach oben und traf sich dort mit seiner Narbe, so dass sein Gesicht furchtbar schief wirkte.
"Ich habe in einer Klasse jemanden, der sich auf diesem Gebiet weniger gut schlägt", setzte er fort. "Jemanden, der seine Fähigkeiten sicher deutlich verbessern könnte, wenn er nur etwas Hilfe dabei bekäme. Wärst du dazu bereit, Nachhilfestunden zu geben?"
"Liebend gern", hörte Remus sich selbst sagen.
"Ausgezeichnet", sagte der Professor zufrieden. "Warte mal."
Und damit ließ er Remus allein in seinem Büro zurück.
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5 - Lösungen
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Während Severus und Aurora die Zauberstäbe zogen, vergaß Lily für den Moment, dass sie eine Hexe war, und verfiel in die viel früher entwickelten Instinkte ihrer Kindheit unter Muggeln. Sie schwang den rechten Arm, und ihre Tasche donnerte dem Slytherin-Schüler kräftig gegen die Rippen. Severus Snape taumelte, hatte aber noch Zeit, atemlos einen Spruch zwischen den Lippen herauszupressen.
Aurora schrie auf und hielt beide Hände vors Gesicht, wobei ihr der Zauberstab hinfiel. Lily drehte sich um, um zu sehen, was los war, und wurde von einem Zauber getroffen, der sie am Rücken erwischte und vorwärts schleuderte. Sie kam schwer auf dem Boden auf. Sie richtete sich schnell auf und sah aus dem Augenwinkel Severus Snape, der immer noch lächelte, wie er wieder den Arm hob, um sie erneut zu verhexen. Sie wusste, dass sie nie rechtzeitig den Zauberstab aus der Tasche holen konnte, und wollte sich kaum ausmalen, was er vorhatte. Doch er tat ihr gar nichts.
"Expelliarmus!" rief eine Stimme hinter ihr.
Severus' flog der Zauberstab aus der Hand. Einen Moment lang stand er einfach nur benommen da. Lily drehte den Kopf und fühlte, wie ihr Herz einen Satz machte. Nur wenige Schritte entfernt stand James Potter mit dem Zauberstab in der Hand und starrte den höher gewachsenen Slytherin-Schüler böse an.
"Potter!" zischte Severus.
"Hallo", erwiderte James mit kühler Höflichkeit.
Severus Snape sah aus, als wolle er seinen Zauberstab wieder aufheben, aber dann sprach noch jemand.
"Lass das!" sagte Sirius Black und trat hinter der Wand hervor. "Hast dir einen schlechten Zeitpunkt ausgesucht, um uns zu nerven, du Schleimbeutel. Wir sind nicht in Stimmung."
Er nickte kurz, und Peter Pettigrew erschien. Langsam und vorsichtig näherte er sich Severus Snape, hob seinen Zauberstab auf und steckte ihn ihm in die Tasche.
"Und da hat er auch zu bleiben", warnte Sirius. "Sonst kriechst du gleich auf allen Vieren zur Hausmutter - und glaub ja nicht, dass dir einer helfen wird."
Severus Snape schien etwas antworten zu wollen, doch da drei junge Zauberer und zwei Hexen gegen ihn waren, entschied er sich dagegen. Er schnaubte einmal kurz und marschierte an ihnen vorbei, wobei sein Umhang hinter ihm den Boden fegte.
James und Sirius beobachteten ihn, bis er verschwunden war, und wandten dann ihre Aufmerksamkeit den Mädchen zu. James half Lily auf die Beine, während Sirius zu Aurora ging, die immer noch ihr Gesicht versteckte.
"Was hast du denn?" fragte er, während er den Zauberstab wegsteckte.
"Meine ... Augen", brachte Aurora hervor.
"Lass mal sehen."
Aurora wehrte sich, aber am Ende konnte Sirius ihre Hände beiseite zwängen. Er atmete tief ein und James, Lily und Peter eilten herbei. Aurora hatte ihr Gesicht schon wieder verdeckt.
"Ein Verwirrungsfluch", erklärte Sirius. "Ihre Augen rollen in alle Richtungen und hören nicht auf. Ich bring sie zu Madam Pomfrey", fügte er hinzu, und nahm Aurora beim Arm.
"Komm", sagte er beruhigend, "das kriegen wir schon wieder hin."
"Ich komme mit", sagte Lily, aber Sirius schüttelte den Kopf.
"Das schaffen wir schon, ich pass auf sie auf. Bis nachher."
Er zwinkerte Peter kurz zu und führte dann Aurora in Richtung Krankenstation davon.
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Remus tippte nervös mit den Fingerspitzen gegen die Rückenlehne des Stuhls, von dem er aufgestanden war. Dann fing er an, seine Umgebung zu studieren. Das Büro des Lehrers für Verteidigung gegen die Dunklen Künste war recht klein und roch verstaubt, aber es war voll mit faszinierenden Geräten. Auf der Fensterbank stand etwas, das wie ein kleiner Kreisel aussah und sich unaufhörlich drehte - das musste ein Spickoskop sein. Auf den Regalen standen reihenweise Bücher über die Dunklen Künste, Dunkle Zauberer in der Geschichte, Flüche und Gegenflüche.
Allmählich wurde Remus etwas selbstsicherer und entfernte sich von seinem Stuhl. Er sah aus dem Fenster und wagte sogar, die Lehne vom Lehrerstuhl zu berühren. Irgendwie gefiel ihm dieser Raum. Hier konnte man sich wohlfühlen, fand er. Als es an der Tür klopfte, war seine Nervosität fast völlig verschwunden.
Er rief "Herein!" und sah sich das Spickoskop noch mal genauer an.
Langsam öffnete sich die Tür, und jemand trat zögerlich ins Büro. Remus drehte sich um und reagierte sofort überrascht. Er betrachtete das zierliche Mädchen vor ihm, mit ihren geflochtenen braunen Locken und den hellblauen Augen, die auf den Boden fixiert waren.
"Hallo", nuschelte sie.
"Hallo", sagte auch Remus. "Du bist Heather Woodcock, stimmt's?"
Das Mädchen starrte ihn an.
"D-du kennst meinen Namen?"
Remus nickte kurz. Heathers Gesicht erhellte sich und ihre Wangen liefen rosa an.
"Tja", setzte Remus lächelnd fort. "Und du brauchst also Hilfe bei Verteidigung gegen die Dunklen Künste?"
Jetzt nickte sie eifrig.
"Ich bin so eine Art hoffnungsloser Fall, glaube ich. Professor Darkhardt hat mich letzte Stunde zurückbehalten und ich hab schon gedacht, er wird jetzt richtig böse auf mich, aber dann war er doch ganz freundlich und hat gesagt, dass er jemanden kennt, der sehr gut in dem Fach ist und mir sicher helfen würde. Ich ... bin dir sehr dankbar, dass du dir die Zeit nehmen willst", schloss sie etwas atemlos ab.
"Das tu ich gern", versicherte Remus.
Heather strahlte.
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"Ähh ... ich ... ähm. Entschuldigt", stammelte Peter, nachdem Sirius gegangen war. "Ich muss zurück zum Schlafraum. Ich will noch einen Brief an meine Schwester zu Ende schreiben. Bis nachher, James."
Er lächelte die beiden an und verschwand in die falsche Richtung, hätte er wirklich zum Schlafraum gewollt. Lily sah ihm nach und wandte sich dann verlegen James zu.
"Danke, dass ihr uns eben geholfen habt", setzte sie an. "Wenn ihr nicht aufgetaucht wärt ..."
"Keine Ursache", meinte James etwas unbeholfen.
Lily lächelte.
"Es war nett von Sirius, wie er sich um Aurora gekümmert hat. Ich muss zugeben, ich habe bisher immer gedacht, er wäre nur ein ... na ja ..."
"Was denn?"
"Ein Spitzbube", schloss Lily entschuldigend.
"Das bin ich dann wohl auch."
James zuckte die Achseln auf eine Weise, die Lily insgeheim sehr amüsierte, denn sie hatte schon oft beobachtet, wie Sirius die Achseln genauso zuckte. Sie ging einen Schritt zurück und betrachtete ihn.
"Könnte schon sein", sagte sie fröhlich.
James erwiderter den Blick ihrer leuchtend grünen Augen einen Moment lang, dann sah er weg.
"Hör mal, wegen gestern", sagte er. "Ich weiß, ich war ziemlich gemein zu dir. Das tut mir Leid."
"Ist schon vergessen", versicherte sie, und war selbst überrascht, dass die Ereignisse des letzten Tages ihr jetzt so unwichtig erschienen. "Das hast du heute mehr als wettgemacht. Außerdem warst du offensichtlich nicht bei Laune. Ich hätte nicht einfach so hereinplatzen sollen."
James schüttelte den Kopf.
"Ich hätte aber nicht so mit dir reden dürfen. Verzeihst du mir?"
Lily strahlte ihn an. Er sah wieder in ihre Augen, und auf einmal erinnerte er sich an den Traum. Er auf seinem Besen. Er war einem Besen nachgejagt, den er für den von Mary Crimple gehalten hatte, und dann hatte er ein paar leuchtend grüne Augen gesehen. Jetzt wusste er, wem sie gehörten. Doch mit diesem Wissen setzte eine unerklärliche Angst ein und er erinnerte sich an ein weiteres Detail desselben Traums. Die Stimme einer Frau, die seinen Namen schrie.
"James, ist alles in Ordnung?"
James zuckte zusammen. Er war bei der Erinnerung an seinen Traum blass geworden und wirkte nun wieder besorgt. Er sah zu Lily herab und merkte, dass ihre grünen Augen sorgenvoll zu ihm hochblickten. Er lächelte.
"Tut mir Leid", sagte er. "Ich hab nur über etwas nachgedacht."
"Weißt du, mein Angebot von gestern ist noch offen", meinte Lily sanft. "Wenn ich dir irgendwie helfen kann ..."
James war kurz davor, ihr zu sagen, dass er sich ihr nicht anvertrauen wollte. Dann stellte er fest, dass es eine Lüge wäre.
"Nicht jetzt", sagte er stattdessen und sah auf die Uhr. "Wir müssen beide zum Unterricht. Ich erzähl es dir später, ja? Wollen wir uns nach der Schule auf dem Hof treffen? So gegen fünf?"
Lily zögerte nur kurz, ehe sie nickte.
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"Also wirklich", klagte Madam Pomfrey. "Es wird Zeit, dass die Lehrer etwas unternehmen, um diese ständigen Verfluchungen und Verwünschungen außerhalb des Unterrichts zu unterbinden. Mr. Filchs Verbot gegen Zauberei auf den Fluren scheint ja überhaupt keine Wirkung zu zeigen. Armes Kind", murmelte sie und kratzte eine sehr unappetitliche graue Paste auf einen Verband, den sie über Auroras verbundene Augen legte.
Aurora zuckte, als der kalte Schleim sie berührte. Madam Pomfrey befestigte den verband und führte Aurora zu einem Bett.
"Hier, bleiben sie einfach eine Weile liegen. Den Verband werden Sie leider bis morgen früh tragen müssen, aber dann wird es Ihnen wieder blendend gehen. Rufen Sie mich, wenn Sie etwas brauchen."
Damit ging sie zurück in ihr Büro am Ende des Saals. Sirius näherte sich dem Bett.
"Wie sehe ich aus?" versuchte Aurora tapfer, ihr Missgeschick abzutun.
Sirius musste grinsen, obwohl er wusste, dass sie es nicht sehen konnte.
"Steht dir gut", neckte er.
Aurora lächelte.
"Was ist das für ein Zeug, das sie mir auf die Augen geschmiert hat?"
"Glaub mir", wisperte Sirius, "das willst du gar nicht wissen. Es sah ekelhaft aus. Wie ... Rattengelee."
"Igitt." Aurora verzog das Gesicht. "Du hattest Recht, das wollte ich wirklich nicht wissen."
Sirius lachte.
"Hör mal", sagte er, "ich muss wieder runter zum Unterricht. Ich sehe später noch mal nach dir, in Ordnung?"
"In Ordnung."
Aurora lehnte sich zurück und lauschte, während seine schnellen Schritte sich von ihr entfernten.
