Vorgeschichte, Teil 12: In der Höhle des Werwolfs

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1 - Das Geheimnis der Peitschenden Weide

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Später am Nachmittag desselben Tages lief Severus Snape einen Flur im vierten Stock des Schlosses entlang und ging dabei in Gedanken die Ereignisse des Tages durch. Allein bei dem Gedanken daran, wie James Potter und Sirius Black ihn gedemütigt hatten, würde er wütend. Und was Peter Pettigrew anging - Severus schnaubte. Er war nichts als ein Wurm. Ein Kriecher, der sich bei anderen einschmeichelte, die stärker waren als er und von denen er sich Schutz erhoffte.

Dieser Narr. Ein gemeines Lächeln spielte um Severus' Lippen. Sie waren alle Narren. Aber bald würden sie eines besseren belehrt. Bald würden sie erkennen, dass es gegen manche Dinge keinen Schutz gab. Mächte, die jenseits jeder Kontrolle standen. Bald würden sie sich wünschen, sie hätten ihn nie verärgert, auf den Knien würden sie vor ihm kriechen und ihn um Vergebung bitten. Aber Severus würde keine Gnade zeigen. "Es gibt kein Gut und Böse, es gibt nur die Macht, und jene, die zu schwach sind, um nach ihr zu streben."

Diese Worte hatte sein Meister zu seinen Anhängern gesprochen und Severus war stolz gewesen, nicht nur, weil er einer der Jüngsten war, die sie hörten, sondern weil er sie verstand und sich in dem Wissen sicher fühlte, dass er die Seite gewählt hatte, der die Macht gehörte. Er würde es ihnen allen zeigen. Diesem unerträglich selbstsicheren Sirius Black, der sich aufführte, als würde ihm die Welt gehören; dem Feigling Peter Pettigrew, der sich vor seinem eigenen Schatten fürchtete; Remus Lupin, dem kränkelnden, verweichlichten Bücherwurm; Lily Evans, dem grünäugigen Schlammblut; und James Potter.

Wie eine brennende Woge überkam Severus beim Gedanken an Potter die Wut. Er konnte keinen wirklichen Grund für seinen Hass gegen James Potter nennen, aber dieser Hass war echt und kam von Herzen. Eines Tages würde er diesen Hass freisetzen und Potter würde den Tag verfluchen, an dem er geboren wurde.

Severus lächelte grimmig und blieb vor einem Fenster stehen. Er sah zum Wald und ließ seine geballte Faust auf der Fensterbank ruhen. Eines Tages würde er von dieser Schule und dem törichten, alten, muggelfreundlichen Schulleiter frei sein. Was waren schon sieben Jahre? Wenn diese vorbei waren ... Einige mochten ja zweifeln, ob der Schwarze Lord die Macht besaß, Dumbledore zu stürzen. Aber nicht Severus. Er war sich sicher, dass der alte Zauberer sich am Ende vor seinem Meister beugen würde, so wie alle anderen auch.

Er blickte auf den Rasen hinab, und plötzlich wurden seine Gedanken unterbrochen. Zwei Gestalten bewegten sich langsam dort unten, vom Schloss auf den abscheulichen und gemeingefährlichen Baum zu, der in demselben Jahr gepflanzt worden war, als Severus nach Hogwarts gekommen war. Eine der Personen erkannte er als die Schulschwester Madam Pomfrey. Die andere ... Severus spürte wachsende Aufregung. War das nicht Remus Lupin?

Severus schaute sich eilig um. Niemand zu sehen. Umso besser. Er lehnte sich weiter vor und reckte den Hals, um besser sehen zu können. Überrascht stellte er fest, dass der Baum sich nicht mehr bewegte und Madam Pomfrey beiseite getreten war, während Lupin ... Severus hielt die Luft an. Remus Lupin war fort. Er schien zwischen den Wurzeln der peitschenden Weide verschwunden zu sein. Madam Pomfrey wandte sich vom Baum ab und kehrte zum Schloss zurück.

Severus richtete sich wieder auf. Seine Gedanken rasten. Hier ging etwas entschieden Merkwürdiges vor sich, und er würde der Sache auf den Grund gehen, und wenn es das Letzte war, was er tat. Entschlossenen Schrittes ging er den Korridor entlang in Richtung der Treppe.

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James sah auf dem Weg zum Hof auf seine Armbanduhr. Es war genau fünf Minuten vor fünf. Gut. Damit sollte er genug Zeit haben, Lily zu erzählen, was ihn beschäftigte, sich einen Happen zu essen zu schnappen, zum Schlafraum zu gehen, seine Hausaufgaben zu machen und früh ins Bett zu gehen. Dann würden er, Tatze und Wurmschwanz ein paar Stunden schlafen, nachdem sie Sirius' lautlosen Wecker auf zehn Uhr eingestellt hatten. Frank Longbottom würde bis dahin fest schlafen - er musste ein Kopfkissen meist nur ansehen, da fielen ihm schon die Augen zu. James beneidete ihn manchmal deswegen. Er wünschte, er hätte auch so einen Schlaf. Dann würden sie die Karte und seinen Tarnumhang nehmen und sich zur peitschenden Weide schleichen. Wurmschwanz würde unter ihre peitschenden Ästen hindurch kriechen und sie zum Erstarren bringen, dann würden sie reingehen und Moony holen. Er lächelte. Heute Nacht wollten sie den Wald erkunden. Es würde Spaß machen und sicher sehr gefährlich sein.

James wurde langsamer, als er um die Ecke kam. Er entdeckte Lily, die auf einer niedrigen Mauer auf ihn wartete. Sie lächelte und winkte ihm zu. James erwiderte ihr Lächeln und ging zu ihr.

"Hallo", sagte er und setzte sich neben sie.

"Hallo, James."

"Ähm ... wie geht's deiner Freundin?" fragte er, obwohl er es eigentlich schon von Sirius wusste.

"Ganz gut", sagte Lily fröhlich. "Madam Pomfrey hat ein scheußliches Gelee auf ihre Augen geschmiert, und morgen wird sie wieder in Ordnung sein. Und - erklärst du mir jetzt, was die Geheimnistuerei soll?"

James schaute Lily an. Ihre Augen leuchteten eifrig und erwartungsvoll. James konnte das verstehen. Er selbst liebte nichts so sehr wie Rätsel und Spannung. Doch leider fand er das, was er zu sagen hatte, weniger spannend. Wenn er ehrlich war fand er es einfach nur furchterregend.

"Ich schätze, angefangen hat alles mit Professor Trelawneys Prophezeiung", fing er an. Dann erzählte er Lily alles, was er wusste.

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2 - Ein Knubbel am Baumstamm

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Sirius Black schloss die Tür des Krankenzimmers hinter sich, grub die Hände in die Taschen und schlenderte munter pfeifend zur Haupttreppe. Er überlegte, was er mit dem restlichen Abend anfangen sollte. Moony war inzwischen in der Heulenden Hütte, Krone traf sich auf dem Hof mit Lily Evans. Er überlegte, Wurmschwanz zu suchen und mit ihm eine Runde Schach zu spielen, hatte aber irgendwie keine große Lust dazu.

Er ging in den großen Saal und fand dort Frank Longbottom, der mit Damian Diggle und Bertha Jorkins am Hufflepuff-Tisch saß. Als er hereinkam, blickten sie auf.

"Hallo Sirius", rief Bertha eifrig und winkte ihm mit einem Kartenstapel zu. "Wir wollten gerade eine Runde Karten spielen. Willst du mitmachen?"

Sie rutschte überflüssigerweise ein Stück nach rechts, um ihm auf der langen Bank Platz zu machen. Sirius schüttelte den Kopf.

"Nein. Hab keine Lust. Ich glaube, ich gehe mal eine Runde spazieren", fügte er spontan hinzu, drehte sich um und ging geradewegs wieder raus.

Bertha seufzte und sah zu, wie sich die Tür hinter ihm schloss.

"Teilst du jetzt die Karten aus, Bertha? Oder sind wir dir nicht gut genug?" fragte Damian und spielte verletzt.

Bertha ignorierte ihn und begann, die Karten zu mischen, wobei sie sehr enttäuscht dreinschaute.

"Ooh, findest also unseren Sirius ziemlich attraktiv, hm?" neckte Frank.

"Halt die Klappe", murmelte Bertha und lief sehr rot an.

"Tut mir Leid, Bertie", meinte Damian. "Die Meinung scheinen viele Mädchen zu teilen. Ich fürchte, gegen die schöne Aurora kommst du nicht an."

"Was sollte jemand wie Sirius mit einer wie ihr wollen?" entgegnete Bertha hitzig. "Wenn sie nicht zufällig seine Gedanken lesen könnte, so dass sie immer weiß, was er gerade hören will, dann würde er ihr keine Beachtung schenken."

"Da wäre ich mir nicht so sicher", sagte Frank.

"Wieso denn?" fragte Bertha.

Frank betrachtete seine Hände.

"Och, nur so. Ich meine ... na ja ... du musst zugeben, sie ist ziemlich hübsch", gab er mit roten Ohren zu.

Damian lachte munter.

"Könnt ihr zwei es mal gut sein lassen? Spielen wir jetzt Karten oder nicht?"

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Sirius schob die schwere Vordertür auf und trat unter die letzten Strahlen der untergehenden Sonne. Sein Fuß stieß gegen etwas Weiches. Es war Mrs. Norris, die magere Tigerkatze des Hausmeister. Sie zischte ihn wütend an.

"Solltest dich mir eben nicht in den Weg stellen", sagte Sirius.

Er Schritt die Stufen herab, ging um die Ecke des Schlosses und folgte dem Verlauf der Mauer. Dann wurde er langsamer. Nur wenige Schritte entfernt stand ein schwarzhaariger Junge im Slytherin-Gewand mit dem Rücken zu Sirius und blickte über den Rasen hinaus. Sirius sagte nichts, bis er direkt hinter dem anderen stand.

"Beobachtest du die Vögel, Severus?" fragte er. "Auf diese Art wirst du sie nicht finden."

Severus Snape drehte sich abrupt um und starrte ihn an.

"Du solltest mir lieber aus dem Weg gehen", entgegnete er gefährlich leise.

Sirius tat erschrocken und wich einen halben Schritt zurück.

"Das sind tapfere Worte von einem, der gerade mal den Mumm besitzt, Mädchen zu verhexen, die keinen Zauberstab in der Hand haben."

Severus ballte die Fäuste, um seinen Zorn im Griff zu behalten. Sirius lächelte mit übertriebener Freundlichkeit.

"Und, was treibst du so?" fragte er.

Severus dachte daran, ihm zu sagen, es gehe ihn nichts an, doch dann änderte er die Meinung. Stattdessen erwiderte er das Lächeln auf gleiche Weise.

"Es ist schon merkwürdig", setzte er langsam an. "Stell dir vor, ich habe vorhin aus dem Fenster geschaut und zwei Leute gesehen, die sich der Peitschenden Weide näherten."

"Ach ja?"

Sirius versuchte, höflich interessiert zu wirken. Severus fuhr fort.

"Ja. Eine dieser Personen war eindeutig Madam Pomfrey, aber sie kehrte kurz darauf zum Schloss zurück. Ich könnte allerdings schwören, dass die zweite Person dein Freund Lupin war. Er scheint jedoch verschwunden zu sein ... im Baum."

Sirius, der sich schnell von dem Schrecken erholte, was Severus da entdeckt hatte, setzte wieder sein falsches Lächeln auf.

"Tatsächlich? Wie faszinierend."

"In der Tat."

Sirius spürte den kalten Blick seines Gegenübers.

"Wie wir alle wissen", sagte Severus weiter, "ist es strengstens verboten, sich der Peitschenden Weide zu nähern. Bisher konnte ich mir auch nie vorstellen, dass jemand so etwas gerne tun würde, es sei denn, um irgendeine lächerliche Mutprobe zu absolvieren. Schließlich ist es allen bekannt, dass dieser Baum aggressiv ist. Und doch konnte Lupin ganz nah heran und scheinbar zwischen seinen Wurzeln verschwinden, ohne dass die Äste auch nur gezuckt hätten. Ist das nicht merkwürdig?"

"Nein", antwortete Sirius einfach.

Ein irrsinniger Plan nahm in seinem Kopf Gestalt an. Er fragte sich kurz, ob er nicht doch ein bisschen zu übertrieben sei, doch dann blickte er in Severus' selbstzufriedenes Gesicht und jeder Zweifel schwand dahin. Er würde Snape den größten Schrecken seines Lebens einjagen. Das würde ihm nur recht geschehen.

"Eigentlich ist alles ganz einfach, wenn man weiß, wie es geht", erklärte er. "Denn siehst du, es gibt da ein kleines Geheimnis bezüglich der Peitschenden Weide ..."

Er machte eine Pause, sowohl um die Wirkung seiner Worte zu steigern und um es so richtig zu genießen, wie Snape an seinen Lippen hing.

"Ein kleiner Handgriff und der Baum erstarrt, so dass man in das Loch kann."

"Ein Zauberspruch?" riet Severus fälschlicherweise.

Sirius lachte.

"Es ist längst nicht so kompliziert", sagte er. "Man braucht nicht mehr als einen langen Stock. Es befindet sich eine Art Knoten an der Seite des Stamms. Wenn man dagegen drückt, bewegt sich der Baum nicht mehr und man kann rein."

Er schaute sich um und fügte dann verschwörerisch hinzu:

"Ich würde an deiner Stelle aber warten, bis es richtig dunkel wird. Es wäre nicht gut, wenn dich ein Lehrer erwischt, wie du am Baum rumspielst."

Mit diesen Worten machte Sirius kehrt und marschierte schnellen Schrittes zum Schloss zurück. Er lächelte. Er fühlte sich jetzt gar nicht mehr so lustlos. Vielleicht sollte er doch eine Runde mit den anderen Karten spielen.

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3 - Am Ende des Tunnels

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James stand vor dem Spiegel und versuchte, seine Haare zu glätten, die sich jedoch dagegen sträubten. Er runzelte die Stirn und betrachtete nachdenklich seine Gesichtszüge. Zum ersten Mal in seinem Leben fragte er sich, ob er eigentlich gut aussah. Eigentlich war es doch ein ganz normales Gesicht, das ihn da aus dem Spiegel anschaute. Er dachte über seine Freunde nach. Also Sirius - Sirius war attraktiv, soviel stand fest. Sogar Remus schien eine gewisse Anziehungskraft auf Mädchen auszuüben, trotz oder vielleicht gerade wegen seiner müden Augen und silberdurchzogenen Haare. James nahm an, dass Remus wohl diese sogenannten "mütterlichen Instinkte" ansprach, von denen man so oft hörte.

Aber James selber hatte ein Mädchen vor dem Sturz von einem Besen bewahren müssen, ehe ihn jemand beachtete. Dann, natürlich, waren die Mädchen alle wie versessen nach ihm gewesen. Auch das hatte ihm nicht gepasst. Er wollte nur ... James brach mitten im Gedanken ab. Was wollte er eigentlich? Er musste an Lily denken. Wie sie dagesessen hatte, wie geduldig sie zugehört hatte, als er mit ihr sprach. Sie war verständnisvoll gewesen, beruhigend und ... einfach nett. Wieder sah er in den Spiegel und fragte sich dieses Mal, ob Lily wohl fände, das er gut aussah.

Hinter ihm wurde die Tür des Schlafraums weit aufgerissen und Sirius trat ein.

"Tatze!" rief James. "Wo hast du gesteckt?"

"Ich hab ein bisschen mit Severus Snape geplaudert und dann mit Frank, Damian und Bertha Karten gespielt", erwiderte Sirius, der sich auf sein Bett fallen ließ und faul die Arme hinter dem Kopf verschränkte.

"Du hast mit Snape geplaudert?" wiederholte James misstrauisch. "Worüber denn?"

"Ach, er hatte nur gesehen, wie Moony unter der Peitschenden Weide verschwunden ist." Sirius lachte. "Das hat ihn neugierig gemacht. Er wollte wissen, wie das geht, also hab ich's ihm gesagt."

James starrte seinen Freund entsetzt an.

"Nicht wirklich, oder?!"

"Doch, klar. Haha, ich kann's kaum erwarten, seinen Gesichtsausdruck zu sehen, wenn er sein kleines Abenteuer hinter sich hat. Das wird ein Brüller."

James fuhr sich mit beiden Händen durch die Haare, die er eben noch hatte glätten wollen.

"Ich glaub das einfach nicht!" rief er.

"Was hast du denn?" fragte Sirius. Sien Lächeln verblasste. "Findest du nicht auch, dass Severus eine kleine Strafe für das verdient, was er angestellt hat?"

James ging auf und ab und schüttelte dabei den Kopf.

"Du hast ihm gesagt, wie er unter die Weide kommt? Ausgerechnet heute Nacht? Bist du völlig verrückt geworden?"

"Hey, immer mit der Ruhe!" protestierte Sirius und richtete sich auf. "Es ist doch nur ein Spaß, sonst nichts."

Aber James starrte ihn trotzdem ungläubig an.

"Ein Spaß?" wiederholte er. Sein Gesicht war leichenblass. "Sirius, du hast Moonys Verwandlungen gesehen. Das ist kein Spaß. In dem Zustand hat er keine Kontrolle über sich, er weiß nicht, was tut, er ... er ist gefährlich. Er könnte Snape umbringen."

"Der läuft um sein Leben, lange bevor es so weit kommt."

"Und was, wenn nicht? Was ist, wenn er dort nicht weg kommt? Das war ein verdammt blöde Idee von dir, Sirius. Verdammt blöd!"

James griff nach seinem Zauberstab und der Karte des Rumtreibers und warf sich einen Umhang über die Schultern.

"Krone, warte!" rief Sirius und sprang auf.

Aber James ignorierte ihn. Er rannte aus dem Zimmer und knallte die Tür hinter sich zu.

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Draußen war es stockfinster geworden. Severus Snape schaute zum tintenschwarzen Himmel auf. Der silbrige Vollmond war mit Wolken verhangen, doch aus irgendeinem unerklärlichen Grund bereitete ihm allein das Wissen, dass er dort war, Unbehagen. Sein Instinkt sagte ihm, dass das, was er vorhatte, keine gute Idee war, doch er konnte jetzt nicht zurück. Er zog den Kragen seines Umhangs hoch und schlich weiter über den Rasen.

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James flog praktisch die Treppe runter und betete insgeheim, dass er niemandem über den Weg laufen würde, denn für Erklärungen oder Versteckspiele fehlte ihm jetzt die Zeit. Er warf einen Blick auf die Karte des Rumtreibers. Der Punkt mit dem Namen 'Severus Snape' war schon erschreckend nah an den herangerückt, der mit 'Peitschende Weide' gekennzeichnet war. James stopfte die Karte in die Tasche und sprang über etliche Stufen hinweg.

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Remus sah durch einen Spalt zwischen zweien der Holbretter, die die Fenster der Heulenden Hütte versperrten, nach draußen. Der Mond war noch hinter einer Wolke versteckt und noch hatte er sich nicht verwandeln müssen, aber bald würde es geschehen. Remus seufzte und versuchte, an etwas Erfreuliches zu denken. Er konzentrierte sich darauf, dass seine Freunde bald kommen würden und sie dann den Wald zusammen erkunden konnten. Seine Gedanken schweiften ab und landeten bei seinem Treffen mit dem jungen Mädchen aus Ravenclaw, Heather Woodcock. Er fand sie nett und freute sich schon ernsthaft darauf, ihr bei Verteidigung gegen die Dunklen Künste zu helfen. Ein Geräusch im Tunnel hinter ihm erweckte seine Aufmerksamkeit. Es musste doch noch viel zu früh sein, als dass Tatze, Krone oder Wurmschwanz hier wären. Der Mond glitt langsam hinter der Wolke hervor ...

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Sirius ging unruhig im Turmzimmer auf und ab. Er wusste nicht, was er von der Sache halten sollte. Einerseits konnte er nicht verstehen, was der ganze Wirbel eigentlich sollte. Selbst Snape würde doch nicht so blöd sein, lange im Tunnel rumzuhängen, wenn er mitbekommen hatte, was los war. Andererseits ... andererseits war nun auch James da runtergegangen, und zwar gewiss als Mensch - Sirius war sich sicher, dass James nie riskieren würde, dass Snape herausfand, dass er ein Animagus war. Das bedeutet natürlich auch, dass Snape nicht mehr der Einzige war, dem Gefahr drohte, wenn Sirius' Plan schief gehen sollte. Er blieb mitten im Zimmer stehen und sah sich um. Schweißtropfen perlten auf seiner Stirn. Er sah sich selbst im Spiegel und schüttelte frustriert den Kopf.

"Idiot!" murmelte er wütend und wusste nicht recht, ob er damit sich selbst oder James meinte.

Endlich fasste er einen Entschluss. Er vergewisserte sich, dass sein Zauberstab in seiner Tasche war und eilte die Treppe runter.

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James drückte mit der Hand gegen einen Seitenstich und hetzte über das Gelände. Er fand einen besonders langen Stock, der auf der Erde herumlag. Dieser reichte aus, um ihn zu überzeugen, dass Severus bereits im Tunnel war. Dafür brauchte er die Karte nicht. James hob den Stock auf und drückte damit gegen den Baum. Die Weide erstarrte und er eilte durch das Loch. Auf dem düsteren Boden des Tunnels klangen seine Schritte merkwürdig gedämpft. Er lief so schnell er konnte, ohne sich dabei den Kopf an der niedrigen Decke zu stoßen. Als das jenseitige Ende näher kam, erkannte er die Umrisse eines Jungen in einem langen Gewand im grünen Licht eines Zauberstabs.

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Severus richtete das Licht seines Zauberstabes auf die Tür vor ihm und griff nach der Türklinke. Hinter der Tür konnte er ein merkwürdiges Kratzen und Schlurfen hören. Seine Hand drückte die Klinke herab, und dann geschah alles auf einmal.

"Severus, nicht!" schrie James.

Er packte den anderen Jungen am Kragen und zerrte ihn genau in dem Moment von der Tür weg, als diese sich weit öffnete. Einen Moment lang lagen sie am Boden, während das durch die Risse in der Holztäfelung schimmerte Mondlicht die zottige Gestalt des Werwolfs offenbarte, der stark und bedrohlich vor ihnen lauerte. Severus lag einfach nur da, wie gelähmt vor Entsetzen. James zog ihm am Arm auf die Beine und schubste ihn vor sich her den Tunnel entlang, immer von der Tür weg.

"Lauf!" rief er und gab Severus noch einen Schub. Ängstlich sah er über die Schulter nach hinten. "Um Himmels Willen, beeil dich!"

Die Peitschende Weide hatte bereits aufgehört, sich zu bewegen, als sie das andere Tunnelende erreichten und Severus ins Freie kletterte. In dem Moment, als er hinter sich das laute Schnappen eines Kiefers hörte, spürte James, wie zwei Hände seine Arme ergriffen und ihn hochzogen, und dann blickte er in Sirius' blasses Gesicht.

"James", sagte dieser atemlos, während er seinen Freund unter den Ästen des Baums wegzog, damit das Loch sich wieder schloss. "Ist alles in Ordnung?"

James nickte wortlos. Es kam ihm der Gedanke, Sirius noch einmal Vorwürfe zu machen, aber dessen zutiefst erschrockener Gesichtsausdruck genügte, um ihm klarzumachen, dass das völlig überflüssig war. Allerdings wusste er sehr gut, dass Sirius' Sorge nur ihm gegolten hatte und nicht Snape.

Severus Snape stand zittrig auf und bürstete die Erde von seinen Knien. Seine Lippen waren sehr dünn und bleich, und unter der panischen Angst, die ihm immer noch im Gesicht stand, zeigte sich eine tosende Wut.

"I-ihr!" stammelte er wutschnaubend.

"Severus, es sollte nur ein Streich sein", fing Sirius wenig überzeugend an. "Komm schon, du hättest dasselbe getan."

"Ein Streich?! Das wirst du bereuen, Black. Und du auch, Potter. Der Direktor wird alles hierüber erfahren!"

"Das wird er allerdings", sagte eine Stimme direkt neben ihnen.

Alle drei zuckten zusammen und drehten sich um. Nicht mehr als vier Schritte entfernt stand Albus Dumbledore, und heute Nacht war in seinen blauen Augen kein Hauch eines Funkelns zu sehen. Streng betrachtete er James und Sirius über den Rand seiner Halbmondbrille.

"Professor Dumbledore, ich ...", fing Sirius an, doch ein Blick des Schulleiters reichte aus, um ihn zum Schweigen zu bringen.

"Ich finde", sagte Dumbledore mit gefährlich ruhiger Stimme, "dass wir diese Angelegenheit in meinem Arbeitszimmer besprechen sollten. Wenn ihr bitte mitkommen würdet."

Er trat beiseite, und mit hängenden Schultern gingen James und Sirius vor. Severus Snape folgte Dumbledore, inzwischen wieder mit einem Lächeln auf dem Gesicht.

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4 - Die Entscheidung des Schuldirektors

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James und Sirius standen Seite an Seite im runden Büro von Professor Dumbledore. Hier war es sehr dunkel, denn nur eine einzige Kerze leuchtete in ihrem Ständer neben dem Schreibtisch. Die ehemaligen Schulleiter und -leiterinnen in den Gemälden an den Wänden nickten entweder oder blickten ernst drein, während der Phoenix Fawkes auf seiner Stange so heruntergekommen aussah, dass durch ihn die Stimmung noch drückender wirkte.

Albus Dumbledore nahm sich viel zeit, während er den Raum betrat und zu seinem Schreibtisch ging. Ganz langsam setzte er sich, lehnte sich in seinem Stuhl zurück und faltete die Hände. Seine hellen blauen Augen studierten die Gesichter der beiden Jungen, die ihm gegenüber standen. Severus Snape stand etwas abseits und wirkte höchst zufrieden.

Nach einer langen Stille sagte Dumbledore:

"Nun, vielleicht hätte einer von euch die Güte, mir zu erzählen, wie es dazu kam, dass ich heute Nacht aus meinem Fenster blickte und zwei Gryffindors und einen Slytherin-Schüler im fünften Jahr scheinbar unter einem Baum hervorkriechen sah, von dem ihr alle lange genug wisst, dass sich ihm niemand nähern sollte - diese Warnung war stets unmissverständlich, würde ich meinen."

Er schaute sie alle drei der Reihe nach an.

"Severus", sagte er dann, "du wirkst, als hättest du etwas zu sagen. Willst du vielleicht den Anfang machen?"

"Gern, Professor", sagte Severus. "Zufällig habe ich heute jemanden unter der Weide verschwinden, obwohl es, wie Sie gerade sagten, verboten ist, sich ihr zu nähern. Aufgrund der Entfernung konnte ich die Person nicht genau erkennen, aber ich war mir sicher ..."

"Es war Remus Lupin", endete Dumbledore für ihn und winkte damit diese Information beiseite. "Und weiter?"

Severus wirkte etwas verdutzt, dass einer der für ihn wichtigsten Punkte der ganzen Geschichte so einfach übergangen worden war, doch er fuhr fort.

"Natürlich wunderte ich mich darüber. Ich habe mich gefragt, weshalb und wie Lupin unter der Weide verschwand. Dann kam Black und erzählte mir, wie man es macht."

Dumbledore warf Sirius einen Blick zu. Dieser sah schuldbewusst weg.

"Ganz offensichtlich hatte diese kleine Bande einen Plan," sagte Severus weiter. "Sie wussten, dass ich mir das aus der Nähe ansehen würde. Es war mein Glück, dass ich nicht den Kopf verloren habe, sonst wäre ich wohl kaum mit dem Leben davon..."

Sirius konnte ein verächtliches Schnaufen nicht unterdrücken.

"Siehst das immer so auf, wenn du den Kopf behältst?" fragte er spöttisch. "Ist ja erstaunlich! Auf mich wirkte es eher so, als würdest du dir gleich in die Hose machen. Wäre James dir nicht gefolgt und hätte er dich nicht praktisch rausgetragen ..."

"Das hat er nicht!" protestierte Severus. "Ihr habt beide versucht, mich umzubringen!"

"Das ist nicht wahr. Wenn überhaupt hat James dir das Leben gerettet!" schrie Sirius.

Severus machte einen Schritt auf ihn zu und sah dabei aus, als wolle er ihm den Hals umdrehen. Sirius hob die Hand, aber James packte ihn am Handgelenk.

"Ruhe!" befahl Dumbledore.

Severus und Sirius entspannten sich beide, doch beide ließen die Hände zu Fäusten geballt und wandten sich voneinander ab.

"Tut mir Leid, Sir", entschuldigte sich Sirius, kämpfte dabei aber sichtlich darum, seine Stimme ruhig und seinen Zorn im Zaum zu halten.

Er erwiderte den Blick des Direktors.

"Ich weiß, was ich angestellt habe, war dumm und ... gefährlich. Ich bin durchaus bereit, jede Strafe auf mich zu nehmen, die Sie für angemessen halten, so lange Sie James da rauslassen. Es war nämlich nicht seine Schuld."

"Sirius ..."

James wollte etwas sagen, aber Sirius ließ ihn nicht zu Wort kommen.

"Nein, James. Es wäre nicht gerecht, wenn du oder sogar Remus für diese Sache bestraft würdet."

Wieder sah er zu Dumbledore.

"Sir, es stimmt, dass ich Snape gesagt habe, wie man unter die Peitschende Weide kommt, obwohl ich wusste, wie gefährlich das ist. Er hat zwei Freundinnen von uns beleidigt und ich fand, es würde ihm ganz recht geschehen. Aber Sie müssen mir glauben, dass es allein meine Idee war und sonst niemand eine Ahnung davon hatte."

"Lügner!" zischte Severus. "Gib es doch zu, Black. Du willst deine Freunde beschützen, aber du weißt doch genau, dass dir das niemand abnimmt. Potter und Lupin, und vermutlich auch Pettigrew, wussten genau Bescheid."

"Das stimmt nicht", entgegnete Sirius. "Ehrlich, Professor", sagte er zu Dumbledore, und seine Worte überschlugen sich fast vor Dringlichkeit, "es war wirklich nur meine Idee, weder James noch Remus noch Peter wussten davon. Ich schwöre Ihnen, dass ich es James erst gesagt habe, als es schon zu spät war, um Snape zu warnen. Er hat es aber trotzdem versucht. James ist ihm gefolgt und hat ihn da rausgeholt."

Dumbledore betrachtete sein ernstes Gesicht. Endlich wandte er sich an James.

"Ist das die Wahrheit?" fragte er leise.

James nickte.

"Ja, Sir. Aber Sirius wollte nicht wirklich, dass Severus etwas zustößt, er hat nur ..."

Dumbledore brachte ihn zum Schweigen, indem er die Hand hob. Eine Weile saß er still da und dachte nach. Dann sprach er wieder Severus an.

"Ich verstehe, dass du das Opfer eines törichten und äußerst gefährlichen Streiches gewesen bist", sagte er. "Und doch muss ich dich dazu ermahnen, nie wieder auch nur ein Wort über diesen Vorfall zu verlieren. "

"Aber ..." stammelte Severus.

"Du darfst es niemandem sagen", insistierte Dumbledore. "Du wirst mir dein Wort geben, dass du niemandem jemals von Sirius' 'Streich', Remus Lupin, der Peitschenden Weide oder dem, was du dort unten gesehen hast, erzählen wirst. Gib mir dein Wort, Severus."

Severus Snape sah aus, als würde er gleich platzen. Einen Augenblick lang befürchteten James und Sirius, dass er sich weigern würde. Aber endlich senkte er den Kopf und sagte leise:

"Ich gebe Ihnen mein Wort, Professor."

Dumbledore nickte zufrieden und wandte sich erneut an James.

"James, ich stimme zu, dass dich in diesem Fall keine Schuld trifft. Du hast dich vorbildlich verhalten. Du hast großen Mut bewiesen und unter gewöhnlichen Umständen würde ich deinem Haus für eine derartige Heldentat fünfzig Punkte geben. Doch leider musst auch du mir versprechen, nie davon zu reden."

"Das verspreche ich", sagte James ohne zu zögern.

"Und nun zu dir, Sirius", fuhr Dumbledore mit ungewohnt harter Stimme fort. "Mir fällt kaum etwas ein, was für eine derartige Dummheit eine angemessene Bestrafung wäre. Es wird wohl nicht nötig sein, dass du mir versprichst, dass so etwas nie wieder vorkommen wird. Den nächsten Monat lang wirst du im Schloss helfen, wo es nötig ist. Ich bin sicher, Mr. Filch wird eine Menge Arbeit für dich finden. Ich muss dir außerdem sagen, dass ich persönlich sehr von dir enttäuscht bin. Und jetzt lasst mich allein."