Vorgeschichte, Teil 13: Enthüllungen

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1 - Das dunkle Mal

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In derselben Nacht geschahen andernorts die merkwürdigsten Dinge. Tom, der Wirt des Tropfenden Kessels, einer schmuddeligen kleinen Kneipe zwischen einer großen Buchhandlung und einem Plattenladen auf einer Londoner Einkaufsstraße, erwachte, als er den Treppenabsatz vor seiner Schlafzimmertür knarren hörte. Er lauschte und glaubte, leise Stimmen zu hören. Er stand auf, da er dachte, einer seiner Gäste habe vielleicht einen Wunsch. Er nahm den grünen Bademantel vom Haken an der Tür und war eben dabei, den Gürtel zuzubinden und sich die wenigen Haare zu glätten, als er ein paar Worte dessen aufschnappte, was draußen geredet wurde.

"Sind Sie wirklich sicher, dass es heute Nacht passiert?" fragte eine Stimme mit einem ausländischen Akzent.

"Ganz sicher", erwiderte eine Frauenstimme.

Sie sprach nicht so leise wie der erste Sprecher und Tom vermutete, dass es sich um die Frau handelte, die gestern eingetroffen war. Er hatte Paula Lestrange und ihren Ehemann in Zimmer Sechs einquartiert.

"In dem Brief stand, der Dunkle Lord werde sich in der nächsten Vollmondnacht der Welt offenbaren, und das ist heute", bestätigte eine feste Männerstimme - wohl die von Leonard Lestrange.

"Dann hat das Verstecken endlich ein Ende", sagte der Ausländer.

Tom dachte sich, dass es sich um Karkaroff handeln musste, den jungen Bulgaren, der seit zwei Nächten im Kessel wohnte.

"Ja. Endlich können wir uns offen zeigen und die Welt von allen Muggeln und Schlammbluten befreien", sagte die Frau kaltblütig.

Tom hielt den Atem an. Er hörte Schritte, die sich in Richtung der Treppe entfernten, und dachte angestrengt nach, was er jetzt tun solle. Sollte er ihnen folgen, um herauszubekommen, was sie im Schilde führten? Er dachte weiter nach und kam zu dem Entschluss, dass ihre Absichten kaum unter Zweifel standen. Er musste etwas unternehmen. Wenigstens musste er jemanden warnen. Aber wen nur? Zuerst dachte er an das Ministerium, doch er wusste ja, dass auch dieses immer mehr von den Anhängern des Mannes infiltriert wurde, dessen Name auch den vernünftigsten Hexen und Zauberern Angst einjagte.

Tom setzte sich an das Fußende seines Bettes und grübelte. Er verzweifelte fast an seiner eigenen Trägheit. Professor Dumbledore? Ihm Bescheid zu sagen schien doch die beste Lösung zu sein, aber bis Tom ihn erreichen könnte ... Er dachte an seine anderen Gäste. Nur was wäre, wenn sie auch auf der falschen Seite standen?

"Mach dich nicht selbst zum Narren, Tom, das können sie gar nicht", sagte er zu sich selbst. "Wer jetzt noch im Haus ist, muss gegen diese Leute sein, sonst wäre er selbst dort draußen."

Endlich hatte er seinen Entschluss gefasst. Er verließ sein Zimmer - aber vorher verstaute er zur Sicherheit den Zauberstab in seiner Tasche.

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John Lupin öffnete die Augen und blinzelte im Halbdunkel. Er drehte sich um und betrachtete seine Frau. Ihr Mund war leicht geöffnet, ihr Gesicht entspannt und friedlich. John seufzte. Er war sich nicht sicher gewesen, ob er Malcolms Rat befolgen sollte, als dieser vorgeschlagen hatte, dass die beiden ihn in London besuchen sollten. Malcolms Wohnung war nicht besonders groß, also hatten sie sich natürlich ein Zimmer im Tropfenden Kessel gemietet. Einerseits hatte John seinem Schwager zugestimmt, dass sie beide einen Urlaub gebrauchen konnten und es schön wäre, mal etwas anderes als immer nur den Wald um ihr Haus herum zu sehen, der um diese Jahreszeit sehr trostlos wirkte.

Andererseits hatte er Angst gehabt, Faith von der Geborgenheit ihres Zuhauses fortzubringen. Er sah ihr beim Schlafen zu und spürte erneut diese schreckliche Furcht, die sein Herz erfüllte. Die Zeiten waren schlecht, das ließ sich nicht leugnen. Besonders schlecht waren sie für Leute wie Faith und Malcolm, deren Eltern beide Muggel gewesen waren. In der letzten Zeit hatten sich die Berichte von Zauberern und Hexen, die andere terrorisierten, die nicht reinen Blutes waren, gehäuft. John bangte zunehmend um die Sicherheit seiner Frau, und er wusste nicht, was er tun würde, wenn ihr etwas zustoßen sollte.

Ihre Hand ruhte neben ihm auf dem Kopfkissen. John streichelte sie sanft, blieb wach liegen und schaute Faith einfach nur zu. Er hörte Schritte draußen im Flur, die an der Tür vorbei gingen und dann wieder verstummten. Ein paar Minuten später hörte er noch mehr Schritte, doch dieses Mal schienen sie vor der Tür Halt zu machen. Jemand klopfte - zwar leise, aber plötzlich genug, dass John zusammenzuckte. Er atmete flach und horchte. Wieder klopfte es. Er wartete weiter, ließ aber Faiths Hand los und griff dafür nach seinem Zauberstab auf dem Nachttisch.

Noch mehr Schritte, und dieses Mal entschlossener. Eine Stimme sprach.

"Was machen Sie da?" fragte sie.

"Sie scheinen fest zu schlafen", entgegnete eine leisere Stimme.

Wieder klopfte es gedämpft an der Tür, dann gab der zweite Mann draußen ein ungeduldiges Geräusch von sich, worauf dann ein lautes Klopfen folgte. John schob die Bettdecke beiseite und ging zur Tür. Als er aufstand, bewegte Faith sich leicht und öffnete die Augen.

"John?" murmelte sie verschlafen.

Er presste den Finger gegen die Lippen und öffnete die Tür einen Spalt breit. Draußen standen zwei Männer, die scheinbar gerade die Treppe hinabsteigen wollten.

"Ah, Mr. Lupin", flüsterte der Wirt Tom. "Ich dachte schon, Sie wären gar nicht auf Ihrem Zimmer."

John schaute misstrauisch von Tom zu seinem Begleiter, einem streng dreinblickenden Mann im schwarzen Bademantel, den er gestern Abend unten im Speisesaal gesehen hatte.

"Was ist hier los?" fragte er.

Der strenge Mann antwortete:

"Heute Nacht scheint in der Winkelgasse etwas los zu sein. Tom hat mitgehört, wie ein paar Leute vom Dunklen Lord sprachen. Wir wollten der Sache auf den Grund gehen und Sie bitten, uns zu begleiten."

"Wer sind Sie?" erkundigte John sich.

"Ich heiße Bartemius Crouch."

"Sie sind Barty Crouch?"

Crouch wirkte leicht ungehalten.

"Manche nennen mich so, ja", gab er zu.

John entspannte sich etwas.

"Ich hole nur schnell meinen Umhang."

Er ging zurück ins Zimmer und schloss die Tür. Faith hatte sich aufgesetzt und wirkte besorgt.

"Was ist denn?" fragte sie und stand auf, während John seinen Umhang überzog.

"Wie's aussieht ist unten in der Gasse etwas im Gang. Ich gehe nur schnell mit den anderen runter und sehe nach, was da los ist."

"John ..."

Faith hielt ihn kurz zurück. Er lächelte aufmunternd und küsste sie schnell.

"Keine Angst, Liebling", sagte er. "Ich bin gleich zurück."

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Unten in der Winkelgasse schien der volle Mond auf eine Menschenmasse, die sich vor der Gringotts-Bank versammelt hatte. Sie waren alle in Schwarz gekleidet und ihre Gesichter wurden von dunklen Kapuzen verborgen. John Lupin folgte Mr. Crouch und Tom auf die Straße hinaus und bemerkte etliche Gesichter, die hinter halb geschlossenen Läden aus den Fenstern über den Geschäften schauten.

Plötzlich trat eine lodernde Flamme vor den bronzefarbenen Türen der Bank hervor. Die Versammelten tauschten leises Getuschel aus, während etwas oder jemand vor ihren Augen auf den Stufen Gestalt annahm. John glaubte, dass es ein Mann war, der in diesen langen schwarzen Umhang gehüllt war, doch er konnte sein Gesicht nicht erkennen. Jedenfalls war es eine männliche Stimme, wenn sie auch unnatürlich hoch und kalt klang, die nun alle anderen übertönte.

"Willkommen, Freunde. Ich danke euch, dass ihr heute Nacht gekommen seid, um dem Beginn eines neuen Zeitalters unserer Art beizuwohnen. Von dieser Stunde an werden wir nicht mehr vor der Welt verbergen müssen, wer oder was wir sind. Heute Nacht lösen wir uns von den Fesseln, die uns die Muggel und die muggelliebenden Narren unter unseren Anführern auferlegten. Wir werden eine neue Ordnung schaffen. Niemand wird es wagen, sich uns zu widersetzen. Die Welt wird lernen, die Macht und den Namen von Lord Voldemort zu fürchten."

Sein letzter Satz wurde mit viel Beifall und Jubel empfangen. John spürte regelrecht, wie er eine Gänsehaut bekam.

"Ihr jedoch, meine treuen Kameraden", fuhr der Mann auf der Treppe fort, "habt nichts zu befürchten. Ihr werdet mehr Macht haben, als ihr euch ausmalen könnt, und die von euch mir am loyalsten ergeben sind, die werde ich in den engsten Kreis meiner Vertrauten aufnehmen, und ich werde sie mit meinem Zeichen versehen."

Er gab zwei Leuten ein Signal, die etwas weiter hinten gestanden hatten. Jetzt brachten sie einen alten Mann nach vorn, der stark gebückt ging. Er zitterte vor Angst.

"Dieser Mann", setzte Lord Voldemort fort, "war einmal ein wichtiger Minister unseres ach-so-großartigen Zaubereiministeriums. Doch als ich ihm einen Besuch abstattete und ihm dezent vorschlug, alle Schlammblute unter seinem Personal zu feuern und nur Mitglieder der alten Familien einzustellen, weigerte er sich. Jetzt soll er lernen, dass es töricht ist, Lord Voldemort eine Bitte abzuschlagen."

Der alte Mann wurde näher zu Voldemort gebracht und die zwei Leute, die ihn festgehalten hatten, entfernten sich wieder. Mit Schrecken erkannte John den Alten als Damocles Dorset, einen ehemaligen Minister, der vor einigen Monaten plötzlich angeblich aus gesundheitlichen Gründen zurückgetreten war. Doch als John ihn das letzte Mal gesehen hatte, hatte ihm nichts gefehlt und er hatte aufrecht und entschlossen vor ihm gestanden. Und doch schien er sich jetzt kaum auf den Beinen halten zu können und bebte beim Anblick von Lord Voldemort, der seinen Zauberstab auf seine Brust richtete.

"Oh mein Gott", sagte John mehr zu sich selbst als zu seinen Begleitern. "Er wird ihn umbringen!"

Er wollte sofort zur Bank laufen, aber Tom erwischte ihn am Arm und hielt ihn mit aller Kraft zurück.

"Nicht doch. Wir können da nichts tun, Lupin", sagte er still.

"Wir können doch nicht einfach so zusehen wie er jemanden ermordet!" rief John.

"Wir haben keine Wahl", entgegnete Bartemius Crouch kalt.

John starrte ihn an und wollte soeben etwas erwidern, als ihm Lord Voldemorts Stimme ins Wort fiel.

"Avada Kedavra!"

Grelles grünes Licht blitzte auf und der alte Minister fiel zu Boden. In Sekundenschnelle war er gestorben, und John hatte nichts tun können, um das zu verhindern. Die Farbe wich aus seinem Gesicht und er sah schweigend zu, während der Dunkle Lord "Morsmordre" rief.

Eine riesengroßes, wolkenartiges Gebilde bildete sich von der Spitze seines Zauberstabs her und stieg zum Himmel auf. John hörte, wie Tom der Wirt neben ihm aufkeuchte. Er blickte nach oben und seine Augen weiteten sich. Über der Stelle, wo Voldemort stand, schwebte ein großer Schädel, aus dessen Mund eine Schlange hervorschlitterte wie eine übergroße Zunge. Dann hörte John das unnatürlich schrille Gelächter von Lord Voldemort.

"Es hat begonnen, meine Freunde. Das dunkle Mal wurde gesehen, und von nun an wird es den dreckigen Schlammbluten und Muggeln Angst einjagen. Kommt, folgt mir, lasst uns auf diese Nacht anstoßen."

Voldemort drehte sich um und ging fort in Richtung der Nokturngasse. Die Menge teilte sich und alle neigten sie ihre Köpfe, als er an ihnen vorbeischritt, dann folgten sie ihm. Als sie fort waren, wandte John seine Aufmerksamkeit wieder den Türen von Gringotts zu, wo die leblose Gestalt noch immer auf den Stufen lag. Bis gerade hatten sich seine Beine noch wie Blei angefühlt, aber jetzt ließen sie sich wieder bewegen und trugen ihn direkt an den Ort, wo Sekunden vorher noch Voldemort gestanden hatte. Die beiden anderen folgten ihm. John ging neben der Leiche des Ministers auf die Knie und untersuchte sie, doch eine Wunde war nicht zu sehen.

"Wie hat er das gemacht?" fragte er verwirrt.

"Mit einem uralten Zauber - einem der unverzeihlichen Flüche", erklärte Crouch.

John sah in das strenge Gesicht des anderen Mannes.

"Sie meinen, es war einer der drei Zauber, die seit Jahrhunderten verboten sind?"

"Ja."

John richtete sich langsam auf und fragte:

"Wie sollen wir gegen jemanden wie ihn ankommen? Gegen einen Mann, der vor nichts Halt macht, egal ob Folterung, Mord, verbotene Zauber ...?"

"Es gibt nur eine Möglichkeit", meinte Crouch. "Wir müssen seine eigenen Waffen gegen ihn verwenden. Wenn er skrupellos ist, dann müssen wir es auch sein, und zwar umso mehr. Wenn er grausam ist, na gut, dann sind wir das eben auch. Und wenn er verbotene Zauber einsetzt, dann tun wir das ebenfalls."

Nach kurzem Überlegen schüttelte John den Kopf.

"Nein. Wenn wir ihn mit seinen eigenen Waffen bekämpfen, dann sind wir auch nicht besser als er und am Ende gewinnt er, selbst wenn er verliert."

"Wir haben keine Wahl", beharrte Crouch.

"Doch. Man hat immer eine Wahl", sagte John entschlossen. "Ich werde mich mit Professor Dumbledore in Verbindung setzen. Auf Leute wie ihn müssen wir uns verlassen, wenn wir das Böse aufhalten wollen."

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John stieg die Treppe im Tropfenden Kessel langsam wieder hinauf und ging in sein Zimmer. Auf dem Ecktischchen brannte eine Öllampe, deren leichtes Flackern sich dem blassen Leuchten des Mondes hinzufügte.

"John!"

Faith eilte zu ihm, bevor er überhaupt Zeit hatte, die Tür zu schließen, und schloss ihn in die Arme. John hielt sie fest und eine Zeit lang sagte keiner von ihnen etwas. Schließlich trat Faith einen Schritt zurück, berührte seine Wange mit ihrer Hand und sah ihm in die Augen.

"Was ist passiert?" fragte sie.

Er führte sie zurück zum Bett und setzte sich neben sie. Dann erzählte er ihr, was er soeben gesehen hatte.

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2 - Ein Freundschaftsangebot

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Remus schleppte sich die Treppe hinauf. Der Mond hatte abgenommen und sämtliche Knochen taten ihm weh. Die anderen waren nachts nicht gekommen, daher war es ihm bei seiner Verwandlung schlechter ergangen als in der letzten Zeit. Wenn seine Freunde bei ihm waren, konnte Remus wenigstens etwas die Kontrolle über sich behalten und fügte sich selbst daher weniger Verletzungen zu. Doch da sie dieses Mal nicht erschienen waren, war es wieder so wie früher gewesen - oder eher noch schlimmer, denn er war es nicht mehr so sehr gewöhnt.

Ihm drehte sich alles, also blieb er einen Moment lang stehen. Er fühlte sich so schwach, dass es ihm Angst machte. Leise Schritte näherten sich und er versuchte, schnell weiter zu gehen. Er schaffte jedoch nur einen Schritt, bevor Frank Longbottom ihm entgegenkam.

"Hallo, Remus", sagte er fröhlich.

Remus rang sich ein Lächeln ab und ging noch einen Schritt, dabei blieb sein Schuh jedoch an der Stufe hängen und er wäre beinahe gestolpert, wenn Frank ihn nicht schnell gestützt hätte.

"Ist alles in Ordnung?" fragte er besorgt.

"Alles bestens", log Remus. "Bis später."

Er schaffte es noch schmerzhaft ein paar Schritte weiter, bevor er wieder stolperte.

"Du solltest lieber zu Madam Pomfrey gehen", riet Frank ihm, während er ihm wieder half, das Gleichgewicht zu finden.

"Nein, nein", protestierte Remus. "Das wird schon. Ich brauche nur eine Pause. Würdest du Professor Flitwick sagen, dass ich heute nicht kommen kann?"

Er konnte sich nur zu gut vorstellen, wie Madam Pomfrey reagieren würde. Natürlich würde sie seine Schnittwunden versorgen, aber bestimmt würde sie sich auch wundern, warum er in der letzten Zeit nicht öfter solche Wunden gehabt hatte. Andererseits würde er es wohl kaum alleine zum Gryffindor-Turm schaffen.

"Brauchst du Hilfe?" fragte Frank.

"Dann kommst du doch zu spät zum Unterricht", meinte Remus.

"Das macht mir nichts aus."

Frank hielt Remus am Arm fest und half ihm die Treppe rauf. So gelangten sie bis zum Gryffindor-Gemeinschaftsraum und in ihren Schlafraum. Dort führt Frank Remus zu seinem Bett. Remus ließ sich dankbar darauf sinken.

"Danke, Frank."

"Keine Ursache", sagte Frank, der immer noch ein besorgtes Gesicht machte. "Aber bist du wirklich sicher, dass ich nicht doch Madam Pomfrey holen soll?"

Remus nickte und kaute auf der Unterlippe. Er bewegte sich leicht und spürte sofort einen stark brennenden Schmerz im Arm, der ihm ein unfreiwilliges Stöhnen entlockte.

"Was hast du?" fragte Frank und kam näher.

"Nichts."

"Lass mal sehen."

Bevor Remus etwas dagegen tun konnte hatte Frank bereits den Umhang, der seinen Arm versteckte, beiseite geschoben. Er pfiff durch die Zähne. Ein großer, klebrig brauner Flecken hatten sich auf Remus' Hemdärmel gebildet.

"Das ist aber eine ziemlich üble Schnittwunde, die du da hast", meinte Frank, als er sich die Sache genauer ansah.

"Die verheilt schon wieder", antwortete Remus.

"Das könnte aber eine böse Narbe geben", sagte Frank. Er hielt einen Moment inne, schien dann einen Entschluss zu fassen und fügte hinzu: "Aber so etwas bist du ja sicher gewohnt."

"Was?"

Remus blickte erschrocken zu ihm auf. Frank Longbottom setzte sich auf die Bettkante und wirkte viel ernster, als Remus je erlebt hatte.

"Ich finde, es wird Zeit, dass wir uns nichts mehr vormachen", sagte er. "Bist du es nicht auch langsam leid, dir ständig dumme Ausreden einfallen lassen zu müssen? Ich hab es jedenfalls satt, so zu tun, als hätte ich einen Kopf voll Stroh."

"Ich hab keine Ahnung, wovon du redest", erwiderte Remus halbherzig.

"Oh doch, das tust du. Ich bin nicht auf den Kopf gefallen", erklärte Frank hitzig. "Ich weiß, was du bist, und ich finde, das solltest du wissen. So brauchst du dir keine Ausreden mehr einfallen zu lassen, weshalb du regelmäßig fehlst, und ich muss nicht mehr so tun, als ob ich blöd wäre. Es macht alles leichter für uns beide."

"D-du weißt, dass ich ein ..." Remus brachte den Satz nicht zu Ende. "Woher?"

Frank zuckte mit den Schultern.

"Durch verschiedene Dinge. Du fehlst regelmäßig im Unterricht, du schläfst nicht in deinem Bett, du bist nicht im Krankenzimmer, wenn die anderen das behaupten. Ich hab außerdem mitbekommen, dass sie dich manchmal 'Moony' nennen, wenn sie denken, dass es keiner mitkriegt. So hab ich's rausbekommen."

"Und - was wirst du deswegen unternehmen?"

"Nichts", antwortete Frank. "Ich wollte dir nur sagen, dass ich Bescheid weiß und dass es für mich in Ordnung ist. Ich hab nichts gegen dich, und ich werd's auch keinem sagen."

Er betrachtete Remus intensiv, wie er mit blassem Gesicht und müden Augen dalag, während das morgendliche Sonnenlicht seine grauen Strähnen glitzern ließ.

"Wenn ich irgendetwas tun kann, lass es mich wissen", fügte Frank sanfter hinzu.

Remus schaute ihn einen Moment lang an und schüttelte dann den Kopf.

"Nein", sagte er leise. "Danke für das Angebot. Und danke, dass du mich nicht wegstößt. Es tut mir Leid, wenn du dich beleidigt fühlst, weil ich es dir nicht anvertraut habe ..."

"Hey", unterbrach Frank ihn. "Ich hab dir doch gesagt, dass es in Ordnung ist. Ich kann schon verstehen, weshalb du es für dich behalten hast und ich bin auch nicht böse auf die anderen, weil sie den Mund gehalten haben. Ihr vier habt eben eure Geheimnisse, genau wie Damian und ich unsere haben. Aber ich kann mir vorstellen, dass es alles andere als leicht ist, so zu leben wie du. Eigentlich will ich damit nur sagen, dass ich für dich da bin, wenn du mich mal brauchen solltest. Das gilt übrigens für euch alle vier. Ich weiß nicht, was sich zurzeit in der Welt da draußen abspielt, aber es braut sich offensichtlich etwas zusammen. Vielleicht werden wir schon bald jeden Freund brauchen, den wir kriegen können. Wenn es so weit ist, will ich meinen Teil beisteuern, und Damian auch."

Plötzlich lächelte Frank.

"So, jetzt sind wir lange genug ernst gewesen. Ich helfe dir noch eben, die Wunde zu reinigen, und dann solltest du eine Runde schlafen. Ich geh mal kurz gucken, ob ich nicht ein bisschen Verbandmaterial aus dem Krankenzimmer stibitzen kann. Bin gleich wieder da."

Remus sah zu, wie die Tür hinter Frank ins Schloss fiel und lehnte sich mit einem merkwürdigen Gefühl der Erleichterung zurück. Er hatte nie das Gefühl gehabt, dass es ihm viel bedeuten würde, etwas vor dem fünften Jungen im Schlafraum zu verheimlichen, doch nun wurde ihm bewusst, dass es ihm doch Unbehagen bereitet hatte. Und schließlich war es immer gut zu wissen, dass ihn noch jemand so akzeptieren konnte, wie er war.