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1 - Heimwärts
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An jenem Tag in Hogsmeade waren neun Menschen gestorben, unter ihnen Professor Darkhardt. Weit mehr waren ernsthaft verletzt worden. Somit setzten die Todesser die Schreckensherrschaft fort, die an dem längst vergangenen Tag in der Winkelgasse begonnen hatte. Voldemort hatte inzwischen den Großteil des Ministeriums, mit Ausnahme der Mysteriumsabteilung und der Auroren, in der Tasche. Die Ministerin für Magie war verschwunden, und an ihre Stelle war eine von Voldemorts Marionetten gerückt.
Bei all diesen besorgniserregenden Nachrichten, der Trauer über den Verlust eines ihrer besten Lehrer und der Erwartungen angesichts ihres Beitritts zum Phönixorden machten die Freunde sich viel weniger Gedanken um ihre Prüfungen, als sie es sonst getan hätten - was waren schon UTZe verglichen mit allem, was in der Welt außerhalb von Hogwarts geschah, der Welt, in die sie bald für immer zurückkehren würden? Die ganze Schule schien das ähnlich zu sehen, denn heutzutage waren selbst die jüngsten Schüler sehr still. Selbst beim Abschlussbankett, wo sonst so lautstark gefeiert wurde, ging es eher melancholisch zu. An den Wänden hängen schwarze Tücher und ein Stuhl am Lehrertisch blieb leer. Professor Dumbledore erhob sich feierlich und wandte sich diesem leeren Platz zu.
"Meine lieben Schüler und Schülerinnen, Kollegen und Freunde", sagte er. "Bevor wir heute unser Festmahl beginnen, möchte ich vorschlagen, dass wir auf jemanden anstoßen, der uns sehr fehlen wird. Auf einen Mann, der sich sein Leben lang für den Kampf gegen die Dunklen Künste und diese Schule einsetzte; der sein Leben seinen Schülern widmete, um sie darauf vorzubereiten, sich gegen die schlimmsten Gefahren zu wehren; und der es bereitwillig und ohne Zweifel, Zögern oder Furcht opferte - für euch, für mich ... für uns alle."
Der Schulleiter hob seinen Kelch und die anderen Lehrer taten es ihm nach. Professor McGonagall trocknete sich mit dem Finger die Augenwinkel ab und Hagrid schniefte so kräftig, dass der ganze Tisch wackelte.
"Auf Narbus Darkhardt - einen mutigen Mann, und einen guten Freund."
Gemurmel erfüllte die Große Halle, als alle Schüler - oder fast alle - auch ihre Kelche hoben und mittranken. Professor Dumbledore betrachtete sie mit einem gütigen Lächeln.
"Und nun ...", sagte er, als alle Kelche wieder neben den Tellern standen. "Wenn Professor Darkhardt jetzt bei uns wäre, dann bin ich sicher, dass er nicht wollen würde, dass wir dieses Schuljahr seinetwegen in Trauer beenden. Er würde wollen, dass wir unsere Köpfe erheben und in die Zukunft blicken - und dass wir den Mut derer ehren, die noch unter uns sind. Wer sich die Stundengläser angesehen hat, bevor ihr zum Essen gekommen seid, wird bemerkt haben, dass diejenigen, die an diesem Schicksalstag in Hogsmeade besondere Geistesgegenwart und Tapferkeit bewiesen haben, dafür mit Punkten belohnt worden sind. Diese Punkte gingen an ... Miss Mary Crimple aus Ravenclaw, dafür, dass sie ihre Mitschüler unverzüglich vor den Dementoren gewarnt hat ..."
Die Halle brach in Jubeln und Applaus aus, so dass Mary einen hochroten Kopf bekam.
".. an Mr. Peter Pettigrew aus Gryffindor, Mr. Damian Diggle aus Hufflepuff und Miss Lily Evans, ebenfalls aus Gryffindor, dafür, dass sie sich um die jüngeren Schüler und Schülerinnen gekümmert und sie sicher zurückgebracht haben ..."
Wieder wurde gejubelt. Peter und Damian tauschten begeisterte Blicke aus - keiner von beiden hatte zuvor jemals einen Punkt geholt.
"... an Mr. James Potter, Mr. Sirius Black und Mr. Frank Longbottom aus Gryffindor, sowie an Miss Aurora Borealis aus Ravenclaw, dafür, dass sie zurück ins Dorf liefen, um ihrem Freund zu helfen, Mr. Remus Lupin ..."
Das Jubeln wurde jetzt ohrenbetäubend, denn jeder versuchte, seine Anerkennung deutlicher als sein Nachbar zu bekunden, um nicht nur den Mut ihrer Mitschüler zu loben, sondern auch ihrem verstorbenen Lehrer ihren Respekt zu bezeugen. Dumbledore sah erneut auf den Gryffindor-Tisch herab und lächelte. Während er darauf wartete, dass es etwas leiser wurde, wandten sich viele Köpfe bereits zu dem Schüler, von dem sie errieten, dass er als nächstes an der Reihe sein würde. Remus rückte vor Unbehagen auf seinem Platz hin und her, bis er James' beruhigende Hand auf seiner Schulter fühlte.
"Und schließlich", fuhr Dumbledore fort, "... an Remus Lupin selber, dafür, dass er sich allein den Dementoren entgegen gestellt hat, um den anderen Zeit zur Flucht zu geben."
Mitten in dem Jubeln drückte James Remus' Schulter und Sirius klopfte ihm kräftig auf den Rücken. Remus zwang sich, zu lächeln, auch wenn die viele Aufmerksamkeit ihm eher peinlich war.
Dumbledore verkündete: "Das bedeutet, dass der Hauspokal dieses Jahr ganz eindeutig Gryffindor gehört."
Es war erstaunlich, aber die Schüler hatten tatsächlich die Kraft, noch lauter zu klatschen als bisher. Es dauerte einige Minuten, ehe Dumbledore weitersprach. Er hob die Hände und der Saal wurde still.
"Und nun wollen wir alle unsere Mägen nur mit dem Besten füllen und Professor Darkhardt und allen, die in seine Fußstapfen treten werden, dankbar sein."
Mit diesen Worten setzte er sich, und im selben Moment erschien das Essen bergeweise auf den Tischen. Doch Remus starrte noch lange auf seinen leeren Teller und dachte an seinen alten Mentor und Freund zurück, an seine schroffe Stimme, die grauen Haare, wie er sich immer die Narbe gerieben hatte, wenn er nachdachte ... Es dauerte fast fünf Minuten, bevor er bemerkte, dass jemand mit ihm sprach.
"Remus? Remus", sagte Lily sanft.
Er blickte überrascht hoch. Sie reichte ihm eine Schüssel Kartoffeln über den Tisch.
"Komm, iss bitte etwas, ja?"
Er nickte und nahm ihr die Kartoffeln ab.
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Aurora eilte Remus auf der großen Treppe nach.
"Warte!" rief sie.
Er blieb stehen und ließ die anderen weitergehen, bis Aurora ihn einholte.
"Ich wollte dir nur gratulieren", sagte sie. "Ich weiß ja nicht, wie viele von den Gryffindor-Punkten deine waren, aber es müssen eine Menge gewesen sein."
"Ich habe nichts Besonderes getan, um sie zu verdienen. Jeder von euch hätte das Gleiche getan, wenn er an meiner Stelle gewesen wäre."
"Vielleicht. Aber der Punkt ist doch, dass du da warst und dass es sehr mutig von dir war, das zu tun. Professor Darkhardt muss sehr stolz auf dich gewesen sein."
"Ja. Ich glaube, das war er wirklich", gab Remus ihr leise Recht.
"Er fehlt dir sehr, nicht wahr?"
Remus nickte bedrückt. Aurora schenkte ihm ein eher trauriges Lächeln und berührte mitfühlend seinen Arm.
"Früher fand ich es immer seltsam, wie sehr er dich zu mögen schien. Es war fast so, als wärst du für ihn wie eine Art Ersatzsohn."
Bei diesen Worten bildete sich eine Falte zwischen Remus' Augenbrauen.
"Was ist?" fragte Aurora.
"Es ist ... was du eben gesagt hast ... ich frage mich, ob ..."
Er wirkte nachdenklich.
"Ob was?"
"Ach nichts." Er zuckte die Achseln. "Ich habe nur gerade an jemanden gedacht, von dem er mir erst neulich erzählt hat, und da kam mir so ein Gedanke ... Aber das ist jetzt auch nicht mehr wichtig."
Aurora beobachtete ihn genau und ohne, dass sie es wollte, fand sie sich plötzlich in Remus' Erinnerungen an Professor Darkhardt wieder, wie er hinter seinem Schreibtisch saß und von dem jungen Werwolf sprach, dem er seine Narbe verdankte.
"Oh. Ich ... verstehe", sagte sie zögerlich.
Sie wurden beide still und gingen schweigend weiter, bis sie an den Flur kamen, der zum Portrait der Dicken Dame führte und Aurora feststellte, dass sie schon zu weit in der falschen Richtung mitgegangen war.
"Also dann", sagte sie. "Ich nehme an, du willst jetzt ins Bett."
"Hm."
"Sehen wir uns morgen im Zug?"
Remus schüttelte den Kopf. "Wir fahren alle mit dem Fahrenden Ritter zu mir nach Hause."
"Oh", sagte Aurora und klang enttäuscht. "Na gut. Dann ..."
"Wir sehen uns ja beim ersten Treffen mit dem Orden."
"Ja. Ja, natürlich."
Einen Moment lang standen sie beide nur da und wussten nicht recht, wie es weitergehen sollte. Dann hielt Remus ihr die Hand hin und sie schüttelte sie lächelnd.
"Bis bald", sagte Remus, dann ging er auf das Portrait zu, sagte das Passwort und verschwand durch das Loch in der Mauer.
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James lehnte sich auf seinem Platz im Fahrenden Ritter zurück und schaute aus dem Fenster, während Hogwarts schnell in der Ferne verschwand.
"Geht's nur mir so oder findet ihr's auch irgendwie seltsam, dass wir das alte Gemäuer nicht wiedersehen werden?" fragte Sirius in die Stille hinein.
Alle anderen nickten.
"Wobei Moony bestimmt schon bald wieder hier ist, um zu unterrichten", meinte Sirius dann. "Oder?"
Remus lächelte. "Wohl kaum. Erst will ich noch eine Weile studieren und ich denke, ich sollte auch etwas praktische Erfahrung haben, bevor ich daran denken kann, Unterricht zu geben. Vielleicht lässt Dumbledore mich ab und an die Bibliothek besuchen. Aber ich glaube kaum, dass er mich so früh als Lehrer einstellen würde. Außerdem ist es eine Sache, wenn ein Schüler einmal im Monat fehlt, aber bei einem Lehrer ..."
"Was hast du dann vor?" fragte Peter. "Willst du Privatunterricht geben?"
"Darauf wird es wohl hinauslaufen. Aber zuerst werde ich mir irgendwo eine Stelle als Teilzeitkraft suchen müssen, um mir die Bücher leisten zu können. Dad hat mit einem Freund im Ministerium gesprochen, der mich als eine Art Sekretär einstellen will. Und wann fängst du in der Familienapotheke an?"
Peter errötete leicht. "Gar nicht."
"Nicht? Aber hast du nicht gesagt ..."
"Schon, aber ich ... ich hab Pippa gesagt, dass ich eigentlich gar nicht so gut in Zaubertränke und Herbologie und so bin, und sie hat mit unseren Eltern geredet. In ungefähr drei Wochen fang ich bei der Apparierprüfstelle an."
"Aber du kannst doch gar nicht apparieren!" meinte Sirius.
"Nein, aber diesen Sommer will ich die Prüfung machen. Habt ihr übrigens gewusst, dass das Ministerium überlegt, die Altersgrenze auf siebzehn herunterzusetzen?"
"Nein", antwortete Sirius und klang dabei so, als interessiere es ihn auch nicht. "Ich mach auch so bald wie möglich meine Apparierprüfung. Und bald fangen Frank, Damian, James und ich ja mit der Ausbildung als Auroren an."
"Hm?"
James schaute sich um, als er seinen Namen hörte, als wäre er aus einem Tagtraum erwacht.
"Die Aurorenausbildung, Krone! Kannst du mal eine Minute lang nicht an die kleine Evans denken, geht das?"
"Nicht sehr gut", gab James zu und wurde so rot wie Peter.
Sirius schnalzte mit der Zunge.
"Oh Mann, wie wirst du die nächsten Jahre bloß überleben, ohne sie jeden Tag im Unterricht anhimmeln zu können? Du hast sie nicht zufällig überreden können, auch Auror zu werden, damit ihr zwei mehr Zeit zum Turteln habt?"
"Nein. Sie will Schutzzauber studieren. Bei den heutigen Verhältnissen müsste sich damit einiges verdienen lassen. Ich glaube, Professor Flitwick hat sie jemandem in der Mysteriumsabteilung vorgestellt, der sich damit auskennt, wie man Wertgegenstände - und Leute - vor Spitzeln verstecken kann."
"Ach, dann sehen wir sie ja bestimmt ganz oft, wenn sie auch beim Ministerium ist."
"Ja. Anscheinend ist die Einzige aus unserer Gruppe, die nicht zum Ministerium geht, wohl Aurora, was?" bemerkte Peter nebenbei.
Sirius verstummte, aber Remus nickte.
"Sie will sich erst eine kurze Auszeit nehmen und dann fängt sie im St.-Mungo-Hospital für Magische Krankheiten und Verletzungen an. Sie wäre natürlich ein ausgezeichneter Auror geworden, aber das wollte sie nicht."
Plötzlich hielt der Bus an, so dass James fast vom Sitz gerutscht wäre. Sie schauten aus dem Fenster und stellten überrascht fest, dass sie schon im Wald waren, wo Remus wohnte. Sie nahmen ihre Truhen und all das andere Gepäck, bedankten sich beim Fahrer und stiegen aus. Kaum standen sie alle auf dem Waldboden, da heulte der Motor des Fahrenden Ritters schon wieder auf und der Bus verschwand. Die Jungen schleiften ihr Gepäck über den verwachsenen Waldweg aufs Haus zu. Die Tür öffnete sich, ohne dass sie klopfen mussten, und Remus' Eltern kamen ihnen entgegen, gefolgt von James' Mutter.
Remus umarmte seine Mutter glücklich und freute sich, dass sie besser aussah als zuletzt auf dem King's-Cross-Bahnhof vor fast einem Jahr. Doch als er seinen Vater sah, erschrak er insgeheim. John Lupins blaue Augen funkelten nicht mehr wie früher und er hatte vor lauter Sorgen Falten bekommen. Remus bemerkte auch, dass sein Vater viele graue Haare bekommen hatte, und obwohl es ihm gut stand, war auch dies ein Beweis dafür, welche Bürde er dieser Tage mit sich herumtrug. Dennoch lächelte er und half, die Truhen ins Haus zu tragen.
Wie immer hatte Faith einen großen Vorrat an Butterbroten und mehrere Krüge Kürbissaft vorbereitet. Sie gab sich offensichtlich Mühe, unbeschwert zu wirken, doch als alle satt waren und sie ins Wohnzimmer gingen, setzte sie sich neben Remus aufs Sofa und fragte die Jungs, was denn genau in Hogsmeade vorgefallen sei.
Remus lieferte ihr eine gekürzte Fassung der Geschichte und reduzierte seinen eigenen Anteil auf so wenig, wie er verraten konnte, so dass es alles noch einen Sinn ergab. Doch seine Freunde unterbrachen ihn häufig, denn sie schienen zu wollen, dass die Erwachsenen alle Einzelheiten erfuhren.
"Es ist dir also tatsächlich gelungen, die Dementoren zurückzuschlagen?" fragte Bridget Remus, als sie zu Ende erzählt hatten.
"So kann man das nicht nennen. Mein Patronus war bloß eine Rauchfahne. Er hat nur gereicht, um einen Einzigen abzuwehren, und das auch nicht sehr lange."
"Trotzdem war es schon eine Leistung. Ich glaube nicht, dass ich das geschafft hätte."
Ein lautes Klopfen an der Tür unterbrach sie. Faith zuckte zusammen und hörte auf, Remus' Ärmel glatt zu streichen - eine Beschäftigung, mit der sie vor zehn Minuten begonnen hatte. John stand auf.
"Keine Sorge, Liebes, das wird Malcolm sein. Er hat gesagt, dass er heute vielleicht vorbeikommen würde."
"Oh, gut. Wenigstens scheint ihr beiden immer zu wissen, was der jeweils andere gerade treibt, auch wenn ihr mich nicht einweiht", murmelte Faith, während ihr Mann zur Tür ging.
Einen Augenblick später hörten sie Malcolms Stimme, und kurz darauf trat er ein. Er sah müde aus, aber er lächelte. Er gab allen die Hand und nahm dann dankbar die paar Butterbrote an, die übrig geblieben waren, und eine Flasche Butterbier.
"Ich nehme an, es ist zwecklos, dich zu fragen, wo du gesteckt hast", bemerkte Faith leicht gereizt.
"Ich hatte in London zu tun", sagte er. "Ein ... Freund von mir hat da ein kleines Theater. Ist nichts Besonderes - keine großen Vorführungen - aber es ist ganz nett da und einige Stücke, die sie da spielen, sind gar nicht mal so übel. Ich hab uns Karten für Samstagabend besorgt", fügte er hinzu und holte sie hervor.
Diese Neuigkeit traf auf überraschten, aber freudigen Lärm, und auch Faith wurde etwas fröhlicher und hörte ausnahmsweise auf, ihren Bruder mit besorgtem Misstrauen zu beäugeln, sondern nahm seine Geschichte einfach so hin.
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2 - Einführungen
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Severus Snape lehnte sich im kleinen Ruderboot zurück, das über die schwarzen Wellen glitt, die Slytherin's Rock vom Festland trennten. Ihm gegenüber hockte im Boot ein Mann, der sich als Rosier vorgestellt hatte, dessen Gesicht Severus aber nicht sehen konnte, da er eine schwarze Maske mit Schlitzen zum Sehen und Sprechen trug. Die Ruder bewegten sich von ganz allein und die felsige Insel Slytherin's Rock mit ihrer Festung türmte immer höher, eine schwarze Silhouette vor dem noch hellen, sommerlichen Abendhimmel.
Sie erreichten das Ufer und Severus kletterte aus dem Boot. Ein Mann mit blassen, langen Haaren und einem spitzen Gesicht glitt die Treppe herunter, während sein schwarzer Umhang hinter ihm flatterte.
"Severus, es ist schön, dich endlich hier zu sehen", sagte Lucius Malfoy. "Der Dunkle Lord erwartet dich schon ungeduldig."
Severus schüttelte ihm wortlos die Hand und folgte ihm die Treppe hinauf. Er zitterte leicht, als er von draußen in die Kälte der schwarzen Festung aus Stein trat. Aus einem Gang zur Linken schallten unheimliche, piepsende Schreie herauf. Lucius Malfoys kalte graue Augen folgten denen von Severus.
"Hauselfen", sagte er kurz. "Unser Meister benötigt sie für einen Trank. Achte nicht auf ihr Gekreische."
Severus nickte und folgte ihm weiter - die Treppe rauf, einen Gang entlang, vorbei an Regalen mit abgetrennten Händen, Schrumpfköpfen und seltsamen Behältern. Lucius hielt vor einer schweren Tür an und klopfte. Sie hörten eine leise Bewegung auf der anderen Seite, dann bat eine merkwürdige Singsangstimme sie einzutreten. Lucius schob die Tür langsam auf und trat ein. Severus blieb ein paar Schritte hinter ihm. Beide verneigten sich, als Voldemort sich ihnen zuwandte.
"Meister, Severus Snape ist hier", verkündete Malfoy.
"Ja, ja, das sehe ich", entgegnete Voldemort ungeduldig. "Geh, verlass uns - und sag Paula, dass wir zum Essen einer mehr sind."
"Ja, mein Lord."
Lucius Malfoy verneigte sich wieder und zog sich zurück. Er ließ Severus mit Voldemort allein, der ihn zu begutachten begann.
"Also", sagte er endlich, "wie ich höre, hast du die Schule abgeschlossen."
"Ja, Meister."
"Das ist auf gewisse Weise bedauerlich. Deine Informationen waren in den vergangenen Jahren sehr wichtig für mich. Doch ich bin sicher, du wirst mir in Zukunft noch größere Dienste erweisen."
"Ich hoffe, Ihren Erwartungen gerecht zu werden, Meister."
"Natürlich hoffst du das. Wir gewinnen immer mehr Unterstützung, Severus. Mehr und mehr Zauberer und Hexen schließen sich uns eifrig an, und anderen fällt es schwer, den ... Überredenskünsten meiner Anhänger zu widerstehen. Die Reihen der Todesser füllen sich beinahe täglich, und jeder strebt danach, ein besonderes Talent zu entwickeln, um seinen Wert für mich zu steigern. Macnair ist ein Experte, wenn es darum geht, mit den dunkelsten aller Kreaturen umzugehen, und außerdem liebt er das Töten. Die Lestranges sind besonders loyal. Mulciber brilliert, wenn es um den Imperius-Fluch geht. Dein Wert lag bisher in den Informationen, die du mir brachtest. Doch ich habe bereits eine neue Quelle in Hogwarts, die sich darum kümmert. Es bleibt also die Frage, was du für mich tun kannst - jetzt, wo du kein Schüler mehr best."
Severus atmete tief und ruhig, damit seine Stimme zugleich zuversichtlich und demütig klang.
"Meister, ich glaube, ein Talent zu haben, das Ihnen von Wert sein wird. Sie suchen einen Weg zur Unsterblichkeit, Meister, die Sie zweifellos verdienen. Aber die Tränke, mit denen Sie dieses Ziel erreichen können, sind komplex, die Zutaten schwer zu bekommen, und der kleinste Fehler könnte eine Katastrophe bedeuten."
"Willst du andeuten, ich würde einen solchen Fehler begehen?"
"Niemals, Meister", sagte Severus und verneigte sich dabei. "Aber es kann nie schaden, wenn ein zweites Paar Augen das Brauen eines derart delikaten Trankes überwachen. Und ich möchte demütigst darauf hinweisen, dass Sie wohl kaum jemanden finden werden, der auf diesem Gebiet besser bewandt ist als ich."
"Sehr gut."
Voldemort neigte den Kopf zur Seite. Seine Stimme klang zustimmend, doch sein Blick war leicht zweifelnd, als traue er Severus noch nicht ganz.
"Du wirst mich nicht im Stich lassen?"
"Nie, Meister", versprach Severus. "Es gibt nichts, was unsere Feinde tun könnten, um meine Treue zu Ihnen zu brechen."
Voldemort schien zufrieden.
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James traute seinen Augen kaum, als seine Mutter und Remus' Vater sie zu den Toren des Gryffindor-Anwesens führten. Bridget konnte sich einen Hauch von Stolz nicht verkneifen, als die Tore sich öffneten und sie begannen, den langen Weg zum Haus zu gehen. Sirius sah sich um und pfiff.
"Ganz schön gewaltig", bemerkte er beeindruckt. "Bist du wirklich hier aufgewachsen, Bridget?"
"Ja. Aber bevor du jetzt zu neidisch bist, solltest du wissen, dass ich es gehasst habe. Oh, als Mutter noch lebte, war es schön hier, aber sie ist schon gestorben, als ich erst im dritten Jahr auf Hogwarts war."
"Wie war sie?" fragte James interessiert, als sie vor der riesigen Eingangstür stehen blieben.
Bridget blickte verträumt in die Ferne.
"Sie war ... lieb. Großzügig und lebhaft. Aber du solltest deinen Großvater nach ihr fragen, er kann sie sicher viel besser beschreiben."
"Hat er sie gern gehabt?"
"Ja, sehr sogar." Bridget setzte nachdenklich hinzu: "Ich glaube, dass das vielleicht mit der Grund war, weshalb wir uns so voneinander entfernt haben. Wir haben sie beide geliebt, aber statt unsere Trauer zu teilen hat sich jeder in eine Art eigenen Panzer zurückgezogen. Ich denke, bei Vater war auch der Schock mit Schuld. Sie war so viel jünger als er. Dass sie vor ihm sterben musste ..."
Bridget brach ab und zog an der Klingelschnur. Beinahe sofort öffneten sich die hölzernen Türen, um sie einzulassen, und einen Augenblick später standen sie in der schummrigen Eingangshalle und blickten zur Galerie auf. Dort standen schon einige Leute, und John ging direkt auf sie zu. Die Jungen erkannten sofort Alastor Moody, der mit einem rothaarigen Zauberer sprach, der sie neugierig anblickte.
Frank war schon da und unterhielt sich mit einem sehr kleinen Zauberer, der einen purpurnen Zylinder trug und sich als Damian Diggles Onkel herausstellte. Bald stieß auch Professor McGonagall zu ihnen, in Begleitung von Hagrid, und nachdem sie sie kurz begrüßt hatte, unterhielt sie sich mit John über die verschärfte Politik des Ministeriums in Bezug auf die Registrierung von Animagi.
Kurze Zeit später trafen Philippa Pettigrew und Aurora ein. Letztere schien sich sehr zu freuen, sie alle zu sehen - obwohl man eine gewisse Kühle zwischen ihr und Sirius bemerkte, dem sie nur die Hand gab, während sie alle anderen warmherzig in die Arme schloss - und fragte bald darauf Remus und Frank darüber aus, was sie seit Beginn der Ferien vor drei Wochen getan hatten. Bridget nahm James beiseite.
"Komm mit", flüsterte sie. "Hier entlang. Ich denke, es wird Zeit, dass du jemanden kennen lernst."
Sie führte ihn zu einer schweren Eichentür, klopfte an und trat ein. Der hochgewachsene Zauberer, den James bei den Lupins gesehen hatte, erhob sich aus einem Sessel, der am leeren Kamin stand.
"Vater", setzte Bridget stolz an und schloss die Tür, "das ist James. James, das ist dein Großvater, Gordon Gryffindor."
Gordon Gryffindor betrachtete James im gelblichen Schimmer der Kerzen, die hier brannten.
"Also, komm näher, Junge, damit ich dich ansehen kann", sagte er schroff.
James gehorchte und fühlte sich dabei unbehaglicher als je zuvor in seinem Leben. Die stahlgrauen Augen seines Großvaters schienen sich in seine hineinzubohren, als wolle der alte Mann ihm direkt in die Seele schauen. Schließlich streckte er James seine raue, runzlige Hand entgegen, und James schüttelte sie.
"Willkommen im Haus deiner Familie", sagte Gordon steif.
"Danke, Sir", erwiderte James höflich.
Sein Großvater gab eine Art Grunzen von sich, nickte Bridget zu und schritt an ihnen beiden vorbei in den Flur. James fühlte sich durch sein seltsames Verhalten verwirrt, doch Bridget legte ihm die Hand auf die Schulter und lächelte.
"Ist schon gut", meinte sie leise. "Ich bin sicher, er mag dich. Aber es wird eine Weile dauern, bis er dir das zeigt."
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Dumbledore erwartete sie im kleinen, schmalen Raum, wo sich der Orden für gewöhnlich versammelte. Der Phönix Fawkes saß auf seiner Stuhllehne. Sie waren überrascht, als Oliver McKinnon und Gideon Prewett eintraten, die beide zwei Jahre über ihnen in Hogwarts gewesen waren. Alle nahmen um den Tisch herum Platz, doch es blieben einige Stühle leer. Wie immer kam Malcolm als Letzter dazu. Er lächelte in die Runde und setzte sich zwischen John und James.
"Hab ich was verpasst?" flüsterte er.
John schüttelte den Kopf. "Ich glaube, es geht jetzt los."
In der Tat erhob sich Professor Dumbledore jetzt von seinem Stuhl und hob die Hände, um Stille zu erbitten. Sämtliche Gesichter wandten sich ihm erwartungsvoll zu.
"Meine lieben Freunde", fing er an. "Ich bin heute erfüllt von gemischten Gefühlen, wie es sicher viele von euch sind. Zunächst freue ich mich, unsere jüngsten Mitglieder im Orden des Phönix willkommen zu heißen: Sirius Black, Aurora Borealis, Frank Longbottom, Remus Lupin, Peter Pettigrew und James Potter. Ich fürchte, Miss Lily Evans kann heute nicht bei uns sein. Ich glaube, sie befindet sich im Urlaub."
"Sie ist in Spanien", sagten James und Aurora gleichzeitig.
Dumbledore lächelte.
"Ja. Nun, ich zweifle nicht daran, dass ihr ihr alles berichten werdet, wenn sie zurückkommt. Doch nun möchte ich gern, dass wir alle einen Moment lang eines Mitglieds dieses Ordens gedenken, das nicht mehr unter uns weilt. Narbus Darkhardt, der ein mutiger, loyaler Mann und ein guter Freund war."
Die Personen, die um den Tisch herum saßen, senkten die Köpfe, und John schaute besorgt zu seinem Sohn. Remus tat, als würde er es nicht bemerken. Nach einer kurzen Pause betonte Dumbledore die Bedeutung des Ereignisses, zu welchem sie sich zusammengefunden hatten: Es war das erste Mal, dass alle noch lebenden Erben Gryffindors unter einem Dach versammelt waren, um sich gegen die Dunkelheit zu vereinen. James, der zwischen Sirius und Malcolm saß, erwiderte das Lächeln seiner Mutter und schaute dann heimlich seinen Großvater an, der ihm groß, kalt und eindrucksvoll erschien. Gordon schien dies nicht zu bemerken.
Dumbledore fuhr fort und sprach davon, dass sie viele Leute unterstützen würden - wenn auch einige Mitglieder des Ordens heute Abend nicht hatten kommen können - und dass sie bisher schon einiges erreicht hätten. Doch er verbarg vor den neuen Mitgliedern auch nicht die Tatsache, dass Voldemort immer stärker wurde und täglich mehr Anhänger gewann.
"Und was unternehmen wir deswegen?" wollte Sirius ungeduldig wissen. Er konnte sich nicht länger das ganze Gerede anhören, das zu nichts zu führen schien. Bridget legte ihm besänftigend eine Hand auf den Arm und flüsterte ihm zu, dass er warten solle, aber Dumbledore lächelte nur wieder.
"Eine sehr gute Frage, Sirius", meinte er. "Was unternehmen wir? Nun, wir behalten die Leute, von denen wir wissen, dass sie auf Voldemorts Seite stehen, im Auge. Leider ist das nicht einfach, da sie schneller an der Zahl zunehmen als wir. Wir haben versucht, Verschwundene zu finden, und wir haben mit der schwierigen und in manchen Fällen unmöglichen Aufgabe begonnen, einige der Menschen zu heilen, deren Namen auf dieser Liste stehen." Er holte ein Pergament hervor. "Ich habe hier die Namen derjenigen Hexen und Zauberer notiert, von denen ich glaube, dass sie dem Imperius-Fluch zum Opfer gefallen sind. Dieser Fluch hat uns schon viele Probleme bereitet und ich fürchte, dass es so weitergehen wird. Wie ihr alle wisst, ist er schwer abzuwehren, wenn man nicht besonders viel Charakter- und Geistesstärke besitzt."
Er schaute bedeutsam zu Aurora, die ihren Blick auf ihre gefalteten Hände auf dem Tisch konzentrierte.
"Des Weiteren", fuhr Dumbledore fort, "versuchen wir auch, schneller zu sein als die Todesser und schon im voraus festzustellen, wo sie zuschlagen werden, um dort sein und das Schlimmste verhindern zu können. Es ist eine schwierige Aufgabe, aber Malcolm macht große Fortschritte, was den Aufbau eines Netzwerks von Informanten betrifft."
Malcolm nickte. "Ja. Es ist schon erstaunlich, wie viele Menschen in und um London sich plötzlich erinnern, etwas Nützliches gehört zu haben, wenn man ihnen einen Beutel Galleonen in die Hand drückt. Natürlich sind viele der Meldungen völlig unbrauchbar. Manche Leute sind nur auf das Geld aus oder sind bloß sensationsgierig, sie wollen sich nur wichtig tun. Aber ich habe einige Beziehungen im Ministerium und beim Tagespropheten, und die kennen sich damit aus, wie man die Wahrheit unter den vielen Lügen und Phantastereien herausfindet. Es wäre natürlich ideal, wenn wir jemanden in Voldemorts engstem Vertrauenskreis hätten, der für uns spioniert, oder wenn wir einen von uns unter die Todesser schleusen könnten. Ich arbeite daran, aber es wird nicht leicht sein ..."
"Und während wir damit beschäftigt sind, einen Spion auf seiner Seite zu suchen, wird er nicht auch jemanden auf unserer haben wollen?" warf Pippa ein und schaute zu Malcolm. Er stimmte ihr mit einem Nicken zu.
"In jedem Krieg gibt es Spione auf beiden Seiten", sagte Professor McGonagall und klang dabei auf einmal sehr traurig. Sie sah von Pippa zu Malcolm. "Es ist eine der wichtigsten und gefährlichsten Beschäftigungen im Krieg. Das war im Zweiten Weltkrieg der Muggel so, und es wird auch dieses Mal nicht anders sein ... nur gefährlicher. Der Macht eines Muggel-Diktators sind Grenzen gesetzt. Doch bei Sie-wissen-schon-wem vermag keiner zu sagen, wozu er fähig ist."
Sie verstummte und eine Zeit lang sagte niemand etwas. Endlich sprach Dumbledore wieder und es wurden für lange Zeit Wege besprochen, wie jemand sich bei Voldemorts Todessern einschleusen könnte. Sie sprachen darüber, inwieweit der Dunkle Lord seine Macht schon ausgeweitet hatte und beredeten die Gefahren durch seine kürzlich geschlossenen Bündnisse mit dunklen Kreaturen und das Verhalten von fünf Dementoren, die in Hogsmeade erschienen waren. Nach zwei Stunden schickte Dumbledore sie alle nach Hause, nachdem abgemacht worden war, dass sie sich schon bald wieder versammeln würden.
James zögerte noch an der Tür, während die anderen hinausgingen, denn er hoffte, seinen Großvater noch einmal sprechen zu können, um ihn besser kennen zu lernen. Doch der alte Mann blieb an seinem Platz und hatte offensichtlich vor, noch mit Dumbledore zu sprechen, nachdem die anderen gegangen waren. Bridget nahm James beim Arm.
"Komm", sagte sie. "Du wirst noch oft genug Gelegenheit haben, mit ihm zu sprechen."
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In dieser Nacht konnte Remus einfach nicht schlafen. Stundenlang drehte und wand er sich, dann stand er endlich auf, schlich sich auf Zehenspitzen an den Matratzen seiner schlafenden Freunde vorbei, die auf dem Boden lagen, und ging dann vorsichtig die Treppe herunter, wobei er die knarrende Stufe mied. Er ging leise zur Küche, doch dort bemerkte er, dass bereits ein Licht unter der Tür flackerte. Remus öffnete die Tür und trat ein. Sein Vater schaute erschrocken auf. Neben ihm auf dem Tisch stand ein Glas Feuerwhisky und rote Flecken auf seinen Wangen verrieten, dass er bis jetzt das Gesicht auf die Hände gestützt hatte.
"Remus!" sagte er erstaunt.
"Hallo", sagte Remus und nahm ihm gegenüber Platz.
"Kannst du nicht schlafen?"
"Nein. Und du?"
John schüttelte den Kopf. Es war einen Moment lang sehr still, dann fragte er:
"Möchtest du ein Butterbier?"
Remus nickte. Sein Vater winkte mit dem Zauberstab und eine Flasche flog herüber und ließ sich auf dem Tisch nieder. Remus nahm einen großen Schluck, während John ihn die ganze Zeit beobachtete.
"Warum kannst du nicht schlafen?" fragte er.
Remus zuckte die Schultern. "Ich weiß es nicht. Mir geht wohl zu viel durch den Kopf. Dinge, die im letzten Jahr passiert sind. Es hat sich so viel verändert, als wir in Hogwarts waren. Dinge, von denen ich gedacht hatte, dass sie immer gleich bleiben würden. Und dann passierte das mit Professor Darkhardt ..."
"Du mochtest ihn, oder?"
"Ja. Ich weiß, dass viele ihn schroff und kalt fanden. Manche hatten sogar ein bisschen Angst vor ihm", fügte er leise hinzu und dachte für einen kurzen, schmerzhaften Moment an Heather. "Aber er konnte freundlich und großzügig sein. Zu mir war er das immer."
John spielte mit seinem halbleeren Glas.
"Du ... Hast du gewusst, wer er ist? Was er einmal war?"
Remus nickte. "Er hat es mir gesagt. Aber dadurch hat sich nichts geändert. Er hat wirklich bereut, was er früher getan hat, Dad, und er war im Grunde ein guter Mensch. Dass er sterben musste, war ungerecht und - grausam. Aber das ist der Tod wohl immer."
John schüttelte nachdenklich den Kopf.
"Nein, Remus. Der Tod ist nicht immer ungerecht oder grausam. Manchmal ist er befreiend. Er befreit uns von Schmerzen, von Schuld, Sorgen, Bedauern ... und von Angst. Was du als grausam empfindest, ist nicht der Tod, sondern das Gefühl, das du hast, wenn du jemanden verlierst. Es ist die Trauer, die grausam ist, Remus. Nicht der Tod an sich. Ich weiß es, denn ich habe es erlebt. Als ich meinen Vater verlor, habe ich gelernt, was es heißt zu trauern. Doch sein Tod war weder grausam noch ungerecht. Er war krank, er litt fürchterlich. Die Heiler können viel tun, aber manche Krankheiten bleiben unheilbar. Der Tod war das Beste, was ihm passieren konnte, aber trotzdem war die Trauer für mich etwas Schreckliches, obwohl ich ..." er brach bestürzt ab.
"Obwohl du ... was?"
"Ich hatte dafür gebetet, Remus. Ich habe gebetet, dass er stirbt. Bitte sieh mich nicht so entsetzt an. Wenn du mitbekommen hättest, wie er gelitten hat, Tag für Tag ... Ich dachte, sein Tod würde für uns alle eine Erlösung sein. Trotzdem, als er eines Nachts einschlief und nie wieder aufwachte, war die Trauer ... grausam. Seit er tot ist, bete ich immer noch jede Nacht. Ich bete nur für eine Sache, Remus: dass ich nie wieder eine solche Trauer empfinden muss wie die, als mein Vater starb. Das hält mich nachts wach. Die Angst, dass den Leuten, die ich liebe, etwas zustoßen könnte, und dass ich wieder trauern muss. Verstehst du das?"
"Ich glaube schon. Du hast Angst, dass Mum etwas passiert, oder?"
John schloss die Augen und nickte wieder langsam. Seine Schultern bebten leicht und Remus musste an den Tag denken, der nun schon so lange her schien, als sein Vater zu ihm auf den Baum geklettert war ...
"Dad", sagte er sanft und ging um den Tisch herum, um seine Hand auf die Schulter seines Vaters zu legen. "Ihr wird nichts passieren. Dafür sorgen wir. Wir lassen nicht zu, dass ihr jemand etwas tut."
John öffnete die Augen und nahm seinen Sohn bei der Hand.
"Ich weiß nicht, was ich ohne sie täte ... oder ohne dich", sagte er heiser.
Remus lächelte.
"Komm", sagte er. "Ich finde, es wird Zeit, dass wir beide wieder ins Bett gehen, bevor Mum wach wird und sich wundert, wo du wieder steckst."
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3 - Josie
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Severus Snape strich sich die Haare aus dem Gesicht und trat aus Norman Pettigrews Apotheke heraus ins sonnige York. Seine Einkäufe hatte er sicher in einer Papiertüte verstaut. Es amüsierte ihn sehr, dass er soeben Zutaten für den Trank seines Meisters vom Vater eines seiner persönlichen Erzfeinde gekauft hatte. Mit einem selbstgefälligen Lächeln auf den Lippen steckte Severus eine Hand in seine Hosentasche und beschloss, noch etwas spazieren zu gehen, bevor er sich nach Slytherin's Rock aufmachte.
Er ging am Münster vorbei und an den vielen Menschen, die die Sonne genossen. Rentner, die auf Bänken saßen und ihre Brillen abgenommen hatten, um mit geschlossenen Augen vor sich hin zu dösen; junge Mütter mit Kinderwagen und kleine Kinder, die sich gegenseitig mit Wasserpistolen durch die Straßen jagten. Er erreichte den Schatten der alten Stadtmauer und ging an ihr entlang, so gedankenverloren, dass er sichtbar hochschreckte, als eine schrille Mädchenstimme plötzlich rief:
"Entschuldige mal!"
Severus schaute sich um, konnte aber niemanden sehen.
"Hallo!" rief dieselbe Stimme noch mal.
Er blickte nach oben und nahm die Hand aus der Tasche, um seine Augen gegen das helle Sonnenlicht zu schützen, aber trotzdem konnte er nur die Silhouette eines Mädchens auf der Mauer erkennen.
"Ja?" sagte er ungeduldig und kniff die Augen zusammen.
"Hi", sagte sie. "Ich will dich nur kurz um einen riesigen Gefallen bitten. Machst du ein Foto von mir mit meiner Kamera?"
Sie hielt sie ihm entgegen - ein großes, sperriges, altmodisches Gerät. Severus nahm die Kamera widerstrebend entgegen, meinte aber:
"Aus dem Bild wird aber nicht viel, die Sonne steht direkt hinter dir."
Obwohl er ihr Gesicht nicht sehen konnte, war er sich ganz sicher, dass das Mädchen verschmitzt grinste.
"Das geht schon. Daddy hat an der Kamera rumgebastelt und jetzt kann sie solche Fotos schießen. Versuch's einfach mal, bitte."
Severus seufzte. Er klemmte sich seine Einkäufe unter den Arm und hielt die Kamera vors Gesicht. Er sah nach oben und war milde überrascht, als er sah, dass das Mädchen Recht hatte. Obwohl die Sonne direkt hinter ihr stand, konnte er jetzt jedes Detail ihres Gesichts und ihrer Gestalt sehen, die von dem Sonnenlicht umrandet war. Sie war sehr klein und dünn mit einem schmalen, spitzen Gesicht. Ihre Haare waren kurz, strähnig und rotblond und ihre Augen schienen für ihr Gesicht viel zu groß geraten. Sie besaßen keine richtige Farbe, sie waren weder ganz blau, noch braun, grün oder sonst eine Farbe, die erkennbar gewesen wäre.
Sie trug ein loses, orangefarbenes Oberteil, dass viel zu groß zu sein schien, und einen engen Minirock im Schottenmuster, der aus Severus' Blickwinkel nicht viel verbarg. Während er die Kamera in die richtige Position brachte, räkelte sie sich fast katzenartig auf der Mauer und strahlte ihn an. Er machte ein Foto und wollte ihr die Kamera zurückreichen, aber sie rannte die Mauer entlang, lief ein paar Stufen runter und hüpfte dann auf die Erde.
"Besten Dank", sagte sie und nahm ihm die Kamera ab. Sie hielt ihm eine dünne Hand entgegen.
"Ich bin übrigens Josie. Josephine Coronis", erklärte sie mit gespieltem Hochmut.
"Severus Snape", erwiderte er steif, wärend sie ihm kräftig die Hand schüttelte.
Josephine gluckste und verdeckte dann den Mund mit der Hand, um nicht zu unhöflich zu erscheinen.
"Das ist aber ein gefährlicher Name", meinte sie. "Heißt 'sever' nicht so viel wie etwas ab- oder in kleine Stückchen zerschneiden? Tut mir Leid." Sie kicherte, als er sie entgeistert anblickte. "Aber es klingt schon ziemlich pompös, das musst du zugeben. Macht's dir was aus, wenn ich dich Sev nenne?"
Er zuckte zusammen.
"Ist dir Sevvie vielleicht lieber?" schlug sie vor.
"Sev ist … schon in Ordnung", sagte Severus, der das Gefühl hatte, dass es Zeit wurde, sich auf den Weg zu machen - wenn es ihm auch aus unerklärlichem Grund schwer fiel, dieses unmöglich bunte, lebhafte Wesen schon so früh zu verlassen.
Josephine schien jedoch der Gedanke gar nicht gekommen zu sein, dass er vielleicht gehen wollte. Sie hängte sich die Kamera um den Hals, nahm ihn beim Arm und hielt ihn fest.
"Und", fragte sie, "wo soll's hingehen?"
"Ich … weiß nicht. Solltest du nicht in der Schule sein?"
"Es sind doch Ferien, Sev! Ich sag dir was, ich kenne da diesen entzückenden kleinen Eissalon, ist nur zehn Minuten von hier entfernt. Da könnten wir hingehen. Ich hätte jetzt nichts gegen eine Banane mit Eis, was meinst du?"
Severus dachte einen Moment lang nach. Er hatte noch ein paar Sickel in der Tasche, aber wie viel Pfund? Und was kostete überhaupt ein Eis in der Muggel-Welt?
"Falls du dir Gedanken wegen des Geldes machst", sagte Josephine leise, "das brauchst du nicht. Es ist ein Muggel-Eissalon, aber er wird von Zauberern geführt und die nehmen beide Währungen an."
Severus starrte sie einen Moment lang ungläubig an, dann sagte er etwas verstört: "Nuss."
"Was?"
"Nicht Banane", erklärte er. "Nuss."
"Ach so!" rief Josephine erfreut. "Das haben sie bestimmt auch. Na komm."
Der Eissalon, zu dem sie ihn führte, war bereits gut gefüllt, aber Josephine bahnte sich einen Weg zu einem kleinen, runden Tisch ganz hinten. Ein Mann mit einem glänzenden, kugelrunden Glatzkopf und einem dicken Bauch, der ihm über den engen Gurt seiner weißen Hose hing, kam schon bald auf sie zu. Er grinste das Mädchen breit an.
"Ah, Miss Josie. Schön, dich mal wieder zu sehen."
"Grüß dich, Bacchus", erwiderte sie fröhlich. "Wie geht's dir?"
"Sehr gut, danke, Miss Josie. Nur ..." Der Mann senkte die Stimme und öffnete beim weiteren Sprechen kaum den Mund, sondern sprach aus dem rechten Mundwinkel heraus:
"Mein Enkel hat schon wieder mit dem Zauberstab seines Vaters rumgespielt. Ich denke, der Bengel wird mal ein richtig guter Zauberer, wenn man sich anguckt, was er heute schon alles kann! Das Problem war nur, den Nachbarn zu erklären, wie ihre Bulldogge an den langen, buschigen Schwanz gekommen ist ..."
Josephine brach in schallendes Geläschter aus, so dass Severus sich nervös umschaute, aber niemand hatte sich ihnen zugewandt. Am nächsten Tisch verfütterte eine junge Frau ein halb geschmolzenes Vanilleeis an das schon sehr klebrig aussehende Kind im Hochstuhl neben ihr.
"Wie immer, Miss Josie?" fragte Bacchus. Sie nickte eifrig und er fragte weiter: "Und was darf ich dem jungen Herrn bringen?"
"Irgendwas mit Nüssen", antwortete Josephine sofort. "Und mit ... Vanille?"
"Ja ... bitte", sagte Severus.
Bacchus entfernte sich und kam kurz darauf mit ihrer Bestellung zurück. Severus wartete, bis er wieder gegangen war und das Mädchen neben ihm begonnen hatte, ihre Banane mit dem Löffel in kleine Stückchen zu schneiden, so dass das Ganze mehr nach Bananenbrei aussah, ehe er fragte:
"Wie hast du es gewusst?"
"Was gewusst?" fragte sie undeutlich bei einem Mund voll kalter und zermatschter Banane. "Ach so, du meinst, dass du ... Das war ganz leicht. Ich meine, selbst in den Klamotten siehst du schon mal gar nicht aus wie ein Muggel."
Der Ausdruck veranlasste Severus erneut, sich unruhig umzusehen, doch die anderen Gäste waren alle viel zu sehr mit ihren eigenen Gesprächen beschäftigt, um darauf zu achten, was am Tisch in der Ecke gesagt wurde.
"Und dann die Sache mit der Kamera", fuhr Josephine fort. "Du hast kaum überrascht geguckt, dass die Kamera bei so viel Gegenlicht funktionieren konnte, dass es für dich einfach normal sein musste, dass manche Dinge sich anders verhalten, als in der Muggel-Welt sonst üblich. Zufrieden?"
"Nicht ganz. Woher hat der Mann, der uns eben bediente, es gewusst?"
"Bacchus? Ganz einfach - ich war noch nie mit einem Muggel hier, nur mit Zauberern."
"Oh. Dann habe ich also die Ehre, einer von vielen Zauberern zu sein, die du auf der Straße aufgelesen hast? Vielen Dank. Ich fühle mich geschmeichelt."
Josephine lachte wieder.
"Du bist der Erste mit Humor", meinte sie.
Severus wirkte überrascht.
"Du bist die Erste, die so etwas zu mir sagt."
Josephine grinste ihn nur mit Hamsterbacken an, während sie weiter an ihrem Eis lutschte. Severus sah nach unten und konzentrierte sich auf sein eigenes Eis.
"Du hältst nicht besonders viel von mir, oder?" fragte Josephine plötzlich.
Severus schien nachzudenken.
"Nicht besonders viel, nein", stimmte er zu.
Sie nickte. "Du gehst wohl sonst nur mit ernsten Mädchen aus. Mit solchen, die Brillen auf ihren langen, geraden Nasen haben, die ihr - wahrscheinlich dunkles - Haar ordentlich im Dutt tragen und blasse Gesichter haben. Mädchen, die intelligent von der Politik des Ministeriums reden und davon, welche Fortschritte man im St. Mungo's bei der Behandlung des Steifhals-Syndroms gemacht hat. Langweilige Mädchen."
Severus errötete leicht und Josephine, mit ihren aufmerksamen Augen, bemerkte es sofort.
"Oh", meinte sie erstaunt. "Das soll doch wohl nicht heißen, dass du noch nie mit einem Mädchen ausgegangen bist, oder! Wow!" fügte sie mit einem Kichern hinzu, da er nicht protestierte. "Ganz schön beeindruckend, in deinem Alter!"
"Was willst du damit sagen?" wollte er etwas empört wissen. "Ich bin erst achtzehn."
"Ach, mehr nicht?" Jetzt wurde sie rot. "Tut mir Leid, ich hab gedacht, du bist ... na ja, schon ein bisschen älter. Ich bin übrigens sechzehn."
"Das merkt man dir nicht an", sagte Severus, ohne es beabsichtigt zu haben. "So wie du sprichst, klingst du auch älter."
Josephine sah ihn von der Seite an. "Findest du? Das ist ja ulkig, mein Dad sagt das auch. Er findet, für mein Alter wäre ich zu ... wie war noch das Wort ... bezirpend?"
"Bezirzend?"
"Ja, genau das. Was auch immer das heißen soll. Er findet's jedenfalls nicht gut. Er hätte es lieber, wenn ich schüchterner wär und nicht so viel Aufmerksamkeit erregen würde. Na ja, er ist eben Grieche", schloss sie, als sei das eine Erklärung für alles.
"Wirklich? Aber du klingst, als kämst du aus der Gegend."
"Tu ich auch. Mum ist Engländerin, weißt du. Dad hat sie bei einer Art Zauberer-Austausch kennen gelernt und ist hierher gezogen, um sie zu heiraten. Seine Familie fand das nicht so toll, dass der jüngste Nachfahr der antiken griechischen Hexenmeisterin Medea sein kostbares Blut nach Übersee getragen hat, um irgendeine dahergelaufene englische Hexe zu heiraten, wie nobel ihre Abstammung auch ist ... Er scherzt oft, dass selbst Merlins Nichte für seine Familie nicht gut genug gewesen wäre."
"Dann legt seine Familie also wert auf die Abstammung?" fragte Severus beinahe beiläufig.
"Machst du Witze? Ich kenne keine andere Bande von so versessenen Amateur-Ahnenforschern! Blut ist dicker als Wasser, meinen sie - und in der Sache sind die wahnsinnig dickköpfig!"
Severus runzelte die Stirn. "Gibst du so wenig auf deine Abstammung?"
"Nein", sagte Josephine ehrlich. "Ehrlich gesagt, bin ich ziemlich stolz drauf. Schließlich können nicht viele behaupten, mit antiken griechischen Hexen verwandt zu sein - selbst mit toten."
Sie grinste und legte den Löffel auf ihren leeren Teller.
"So, jetzt weißt du so gut wie alles, was es über mich zu wissen gibt, und ich weiß so gut wie gar nichts über dich - nur deinen Namen, dass du achtzehn bist, Vanilleeis und Nüsse magst und geheimnisvolle Papiertüten mit dir rumträgst."
"Genügt das nicht?"
Das Mädchen tat, als würde sie nachdenken, und verzog dabei komisch das Gesicht.
"Lass mal nachdenken ... nein!" sagte sie entschlossen. "Bei weitem nicht."
Obwohl er es eigentlich gar nicht wollte, spürte Severus, dass seine Mundwinkel zuckten. Josephine bemerkte es sofort und strahlte.
"Siehst du, wir werden dein strenges Auftreten schon noch los. Und, wo sollen wir hingehen, wenn wir bezahlt haben? Sollen wir auf der Mauer spazieren gehen oder uns ein bisschen die Stadt angucken? Warst du schon im Münster?"
Severus schüttelte den Kopf und signalisierte dem Besitzer, dass er zahlen wolle.
"Nein", sagte er dann, während Bacchus die Rechnung holte. "Ich habe keine Zeit. In dieser Papiertüte ist etwas, das ich für meinen Mei... Chef besorgt habe. Er erwartet mich."
"Ach so, verstehe."
Sie sah enttäuscht aus und sagte kein Wort mehr, bis Severus bezahlt hatte und sie wieder unter freiem Himmel standen.
"Na dann, mach's gut", sagte Josephine und streckte ihm die Hand entgegen.
Severus nahm sie kurz.
"Auf Wiedersehen", sagte er und wandte sich ab.
Doch als er sich vom Eissalon entfernte, wurde er das Gefühl nicht los, dass ihre Augen ihn noch verfolgten. Und tatsächlich, als er langsamer wurde und sich nach ihr umsah, stand sie noch immer da. Sie winkte ihm zu und er winkte zurück, dann ging er weiter, aber jetzt war das Gefühl weg, dass sie ihn beobachtete, und dadurch fiel ihm sonderbarer Weise jeder Schritt schwer. Er wurde wieder langsam und fluchte leise bei sich, weil er eigentlich nicht tun wollte, was er nun im Begriff war zu tun. Er machte kehrt und ging eiligen Schrittes zurück, am Eissalon vorbei, immer der schmalen Gestalt nach, die sich durch die Menge bahnte, immer weiter weg von ihm. Sie ging schneller und er auch, bis er schließlich beinahe rennen musste.
"Josephine!" rief er endlich. "Josephine, warte!"
Sie blieb stehen, ohne sich umzudrehen, und wartete. Selbst als er sie erreichte, drehte sie sich nicht zu ihm um.
"Ich - ähm - habe mich nur gefragt ...", begann er etwas atemlos. "Ich meine, heute Abend sollte ich Zeit haben. Wenn du auch Zeit hast, könnten wir uns vielleicht wieder an der Mauer treffen, wo wir uns vorhin begegnet sind und ... essen gehen?"
Nach einer kurzen Pause wandte Josephine sich ihm endlich zu und grinste ihn schelmisch an.
"Du hast aber lange gebraucht", neckte sie ihn. "Okay, also dann sehen wir uns um halb sieben, und komm nicht zu spät, Sev."
Mit diesen Worten zwickte sie ihn kurz an der Nase und rannte dann fröhlich singend davon.
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4 - Lily und Petunia
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Noch am selben Nachmittag, an dem er seine Apparierprüfung bestanden hatte, erschien James vor einer kleinen Doppelhaushälfte im Vorort und sah sich um. Zum Glück schienen die Anwohner aufgrund der drückenden Hitze die Kühle ihrer Wohnzimmer vorzuziehen oder aber im Schatten der Apfelbäume in ihren Gärten zu schlummern. Nur eine schwarze Katze, die auf einem Autodach in der Sonne lag, hob den Kopf und schaute ihn aus schmalen Augen an, bevor sie offenbar entschied, dass er die Anstrengung nicht wert war.
Sie legte den Kopf wieder auf den roten Lack und räkelte sich. James fuhr sich mit der Hand durch die Haare, so dass sie noch wilder abstanden als sonst, ging auf die Haustür mit der Nummer zehn zu und schellte. Es folgte ein Moment der Stille, doch dann hörte er drinnen Schritte und kurz darauf stand Mr. Evans vor ihm und kniff die Augen im grellen Sonnenlicht zusammen.
"James!" rief er sichtlich erfreut.
"Hallo", sagte James. "Tut mir Leid, dass ich so hereinplatze, aber ..."
"Komm nur rein", sagte Lilys Vater und ging einen Schritt beiseite, um ihn vorbei zu lassen. "Geh gleich durch in den Garten. Meine Frau hat einen Kümmelkuchen gebacken und ... aha!"
Mrs. Evans schaute zu ihnen auf, als ihr Mann James durch die Hintertür und in den Garten hinaus führte, wobei er lautstark verkündete: "Guck mal, wer zum Tee gekommen ist, Rose."
"James, wie schön!" freute sich Lilys Mutter.
"Mrs. Evans, ich wollte nicht stören ..."
"Unsinn, mein Junge. Wir wollten gerade Tee trinken und Kuchen essen. Lily kommt auch bald nach Hause, sie war mit ein paar ihrer alten Freundinnen aus der Grundschule schwimmen. Setz dich einfach hierhin", sagte sie und bot ihm einen Stuhl an. "Was möchtest du? Tee? Kaffee? Oder lieber eine Limonade?"
James, der auf einmal in einem Korbsessel saß, ohne genau zu wissen, wie sie ihn so schnell dorthin gelenkt hatte, sagte schnell: "Eine Limonade wäre toll, Mrs. Evans."
"Rose. Und mein Mann heißt Ted. Nimmst du ein Stück Kuchen?" fragte sie und reichte ihm dabei schon einen Teller.
"Danke", sagte James und nahm ihn eilig entgegen.
Wenige Minuten darauf öffnete sich wieder die Hintertür. Es war jedoch nicht Lily, sondern ihre Schwester, die dort erschien.
"Mutter", sagte sie mit ihrer klaren, knappen Art, "ich würde gern Vernon anrufen. Macht es dir etwas aus, wenn er vorbei ... Was macht der denn hier?" fragte sie angewidert, als sie James erblickte.
"James ist zum Tee gekommen", sagte ihre Mutter.
"Hallo, Petunia", sagte James und erhob sich halb, um ihr lächelnd die Hand zu reichen. Petunia wartete, bis er sich wieder gesetzt hatte, dann stotterte sie:
"A-aber ... i-ich wollte Vernon einladen ..."
"Da spricht doch nichts gegen", sagte ihr Vater, der sich auch ein Stück Kuchen genommen und sich gesetzt hatte.
"Ach nein!" rief Petunia. "Du erwartest doch wohl nicht, dass ich meinen Verlobten hierher einlade, wenn ... wenn jemand wie der hier rumlungert?" Sie wies dabei mit dem Kopf auf James.
"Petunia!" schimpften beide Eltern gleichzeitig. James beschloss, ihre Beleidigung zu ignorieren, und warf hastig ein:
"Du bist verlobt, Petunia? Ich gratuliere."
"Danke", antwortete sie widerwillig. "Wenn Vernon dich allerdings hier vorfindet, kann es gut sein, dass er es sich noch anders überlegt."
"Ich bitte dich, Petunia!" rief ihre Mutter. "Du könntest wenigstens versuchen, höflich zu Lilys Freund zu sein."
James spürte, wie er auf diese Bezeichnung hin rot wurde.
"Schließlich war Lily auch immer sehr nett zu Vernon", setzte Mrs. Evans fort.
Petunia lachte so humorlos, dass es mehr nach einem Husten klang. In diesem Augenblick hörten sie etwas im Flur und kurz darauf erschien auch Lily durch die Hintertür. Sie trug einen kurzen, blauen Rock und eine weiße Bluse und ihre dichten, roten Haaren hingen ihr nass ums Gesicht.
"Mum", sagte sie, "weißt du, wo ich meine - oh." Sie wurde rot, als sie James bemerkte. "Hallo."
James wollte sofort hochspringen und sie begrüßen, aber er war sich ihrer Familie sehr bewusst, die so eng um ihn versammelt war, und so brachte er nur ein schwaches "Hi" hervor. Petunia starrte zuerst ihre Schwester an, dann James. Lilys Mutter unterbrach die Stille.
"Was wolltest du, Lily, Liebes?" fragte sie.
"Was? Oh, ich hab nur ... es war ... ich weiß es nicht mehr", stammelte Lily.
"Dann lauf doch kurz nach oben und trockne dir die Haare, vielleicht fällt es dir dann ein."
Lily nickte und verließ sie wieder. James fiel auf, dass ihre Eltern jetzt ihren Kuchen besonders schnell aßen und ihr Vater seinen Tee so heiß trank, dass ihm der Dampf noch auf den Wangen glänzte und er sich eigentlich die Zunge verbrennen musste. Petunia stand schmollend an der Tüür und gab keinen Laut von sich. James fühlte sich sehr unwohl und biss halbherzig in seinen Kuchen. Er war köstlich, und das sagte er auch Mrs. Evans, die lächelte und sich für das Kompliment an ihre Backkunst bedankte.
Sie aßen ihren Kuchen wortlos weiter und als Lily zurückkam, mit trockenen Haaren, die in der Sonne funkelten, mit rosa Lippen, dunkel gefärbten Wimpern und silbernen Ohrringen, hatten ihre Eltern den Tisch schon beinahe fertig abgeräumt, so dass nur noch James' Glas und sein Kuchenteller dort standen. Lilys Mutter legte einen Teller mit einem Stück Kuchen in Petunias Hände.
"Komm, Petunia", sagte sie, "den kannst du auch drinnen essen."
"Aber ich wollte nicht ins Haus", meinte Petunia störrisch.
"Doch, doch, ich brauche nämlich deine Hilfe bei etwas. Komm schon."
Lilys Mutter zwinkerte ihrem Mann zu, lächelte Lily und James an und führte Petunia zurück ins Haus, die leise schimpfte. Ted Evans erhob sich.
"Tja, nun, ich hab auch noch was zu tun. Die Arbeit tut sich nicht von selbst, wisst ihr", murmelte er.
Er klopfte Lily auf die Schulter und folgte seiner Frau und seiner älteren Tochter. Es folgte eine unbehagliche Stille, in der Lily und James beide nach Worten suchen. Dann fingen sie gleichzeitig an.
"Hattest du einen schönen Urlaub?" fragte James, und Lily sagte:
"Wie schön, dass du uns besuchst."
Sie hörten beide auf zu reden. Lily lächelte schüchtern und James grinste.
"Ich find's auch schön. Deine Schwester aber wohl nicht."
"Ja, Pet mag keinen Zauberer. Ich hoffe, sie war nicht zu unhöflich."
"Nein, es war in Ordnung", log James. "Also, wie war der Urlaub?"
"Schön", sagte Lily. "Aber ... irgendwie hatte ich nicht so viel Spaß, wie ich erwartet hatte. Ich musste ständig nachdenken, weißt du."
"Oh? Über was denn?"
Lily lächelte. "Ehrlich gesagt, oft über dich. Und Professor Darkhardt. Wie er gestorben ist, damit wir alle fliehen konnten. Das werde ich nie vergessen. Es war mutig von ihm, findest du nicht?"
"Er war ein sehr mutiger Mann", stimmte James ihr zu. "Und er wird vielen Leuten fehlen. Ganz besonders Remus, denke ich."
"Ja." Lily schauderte. "Wenn ich mir nur vorstelle, wie er diesen Dementoren gegenüberstand, und dann zurückgegangen ist, um zu helfen ... Was, glaubst du, haben die Dementoren vor, James? Haben sie sich Du-weißt-schon-wem angeschlossen?"
"Dumbledore scheint nicht davon auszugehen, zumindest nicht bei allen. Die meisten bewachen wohl noch das Gefängnis von Askaban."
"Das muss ein schrecklicher Ort sein."
"Allerdings. Aber nur dort können sie Voldemorts Anhänger sicher wegsperren - zumindest, solange nicht alle Dementoren auf der falschen Seite mitmischen."
"Und wenn sie es tun?"
"Dann soll Gott uns alle behüten, wie sich Remus' Vater ausgedrückt hat."
"Und was passiert jetzt? Was wurde bei dem Treffen entschieden?"
"Erstmal, dass wir uns alle in unseren Berufen einleben sollen, bevor wir aktiv werden. Remus' Onkel scheint ein ziemlich gutes Spionagenetzwerk aufgebaut zu haben, und Peters Schwester Pippa hat Kontakte im Ausland."
"Im Ausland? Hat er etwa auch in anderen Ländern Einfluss?"
"Es könnte sein. McGonagall meinte, mit der ganzen Spionage und so sei es so, als wären wir wieder im Zweiten Weltkrieg, nur viel gefährlicher, weil Voldemort so viel Schlimmeres tun kann als ein Muggel-Diktator. Sie machte einen ziemlich besorgten Eindruck."
"Das kann ich verstehen. Es wird wohl noch weitere Opfer geben, nehme ich an."
Sie sah James an und er bemerkte, dass ihre Augen sich mit Tränen füllten. Er stand auf.
"Was hast du?" fragte er.
"Ich weiß nicht. Ich habe wohl einfach nur Angst. D-du bist so mutig, James, aber das war Professor Darkhardt auch, und jetzt ist er tot. Ich habe Angst, dass du eines Tages vor einer ähnlichen Situation stehen könntest, und dass sie dich dann auch töten."
James lächelte sanft. "Wäre das so schlimm für dich?"
"Ich bekomme schon Albträume, wenn ich es mir nur vorstelle."
"Komisch. Ich kann nämlich nur ruhig schlafen, wenn ich an dich denke, bevor ich die Augen schließe."
"Wirklich?"
James nickte und kam näher. Lily blickte erwartungsvoll und gebannt zu ihm auf. Er beugte sich langsam zu ihr herunter und sie schloss die Augen, als seine Lippen ihre berührten. Sie hörten nicht, wie die Hintertür ins Schloss fiel; sie hatten auch nicht mitbekommen, wie sie sich vor einigen Minuten einen Spalt geöffnet hatte.
Petunia sah sich in der leeren Küche um. Sie war verwirrt, und insgeheim etwas ängstlich. Sie hatte gehört, wie die beiden von Wesen sprachen, die sie "Dementoren" nannten. Sie hatte keine Ahnung, wie ein Dementor aussah, aber offenbar waren diese Kreaturen gefährlich, denn Lily und James hatten besorgt geklungen. Und dann hatten sie von einem Mann namens Voldemort gesprochen. Einem Dikator unter den Zauberern, wie es schien, der etwas Schlimmeres als einen Weltkrieg herbeiführen konnte. Petunia zitterte.
Es erfüllte sie schon mit genug Schrecken, wenn sie sich vorstellte, ein Zauberer hätte die Macht ... doch wenn es ein böser wäre ... Einen Moment lang dachte sie daran, wegzulaufen, das Land einfach zu verlassen. Aber James hatte gesagt, dass das Böse auch im Ausland war. James ... Petunia schob den Vorhang ein Stück beiseite, um aus dem Fenster zu sehen.
Die beiden hatten sich hingesetzt. Sie konnte James' furchtbar zerzausten schwarzen Hinterkopf sehen. Lilys lange, rote Mähne hing über den Rücken der Couch, offensichtlich hatte sie den Kopf auf seine Schulter gelegt. Petunia erinnerte sich an den Tag, als ihre Schwester ihr James vorgestellt hatte. Er hatte gelächelt, gescherzt, war so charmant wie möglich gewesen. Und das Schlimme war, dass es funktioniert hatte. Petunia erinnerte sich noch genau daran, wie er ausgesehen hatte, mit seinen funkelnden, braunen Augen ... Sie gab sich einen Ruck.
Er war ein Zauberer. Eine ungepflegte, arrogante Missgeburt mit einem Zauberstab in der Tasche. Petunia hasste Zauberer. Sie hasste ihre merkwürdige Art, sich zu kleiden; sie hasste es, wie ihre Eltern Lily umschwärmten, nur weil sie mit diesem lächerlichen Zauberstab Dinge bewegen konnte, ohne sie anzufassen; sie hasste Kessel und Zauberbücher und die Süßigkeiten und die merkwürdigen Leute, die Lily jetzt kannte.
Sie schaute wieder aus dem Fenster und wünschte sich von ganzem Herzen, dass ihre Schwester nicht da wäre, dass sie einfach verschwinden und nie zurückkommen würde oder noch besser, dass sie nie geboren worden wäre.
