Hermine wusste bald nicht mehr, wo ihr der Kopf stand. Um die Elfengeschichte wollte sich Flynn zwar kümmern, doch konnte sie es nicht lassen sich zumindest in einigen Büchern nach ähnlichen Fällen umzuschauen. Viktor hatte sie von alldem nichts erzählt. Es war einfach zu riskant, wahrscheinlich würde der Fidelius-Zauber dann nicht richtig wirken. Hermine hielt inne. Das sie nicht gleich an diesen Zauber gedacht hatte, war merkwürdig. Als hätte sich etwas in ihrem Inneren dagegen verschlossen… Nun ja, wie gesagt hätte sie eigentlich viel eher darauf kommen müssen. Harrys Eltern und auch das Haus am Grimmaudplatz Nummer 12 waren durch den Fidelius-Zauber geschützt.
Es klopfte und Viktor kam ins Zimmer herein. Hermine klappte das Buch zu und legte es zu den anderen.
„Hey, bist du schon weitergekomme?"
„Nein… ach Viktor ich weiß nicht mehr, wo mir der Kopf steht." Sie stand auf und ließ sich in Viktors ausgebreitete Arme fallen. Er zog sie fest an sich und streichelte ihr beruhigend den Rücken.
„Ich bin so froh dass du bei mir bist" murmelte sie dicht an seinem Ohr und ließ sich dann von ihm küssen.
Viktor blieb über Nacht. Er hatte das Gefühl, Hermine brauchte ihn jetzt mehr als sonst. Als wäre da etwas Unsichtbares, das ihr zu schaffen machte. Doch er wollte sie nicht drängen. Irgendwann würde sie es ihm schon erzählen.
Hermine lag dicht an ihn gekuschelt und holte tief Luft. Sie entspannte sich etwas. Gerne wollte sie Viktor erzählen, was sie mit Flynn geplant hatte. Doch sie fürchtete sich zu sehr, vor den möglichen Folgen.
Voldemort war noch irgendwo da draußen, die Elfen hatten vor etwas tierische Panik und mit Harry stimmte auch etwas nicht. Womöglich hing all das irgendwie zusammen. Doch die naheliegenste Vermutung – dass Voldemort von Harry Besitz ergriffen hatte, wollte sie nicht wahrhaben. Doch was war mit all den anderen, die sich ebenfalls merkwürdig verhielten? Mr Diggory, die Kobolde aus der Gringotts Bank und die Hauselfen? Hermine füchtete sich. Ihre Erinnerungen an die letzte Begegnung mit Voldemort und seinen Erinnerungen war einfach noch zu frisch. Neville lag deswegen immer noch im St. Mungos.
„Einen Penny für deine Gedanken" flüsterte Viktor zärtlich in die Dunkelheit und riss damit Hermine aus ihrer Versunkenheit. Ein Lächeln huschte über ihr Gesicht.
„Mum hat mich früher immer so im Arm gehalten wie du jetzt und mir Märchen erzählt. Und als sie fertig war, fragte sie mich genau das gleiche."
„Märchen?" Viktor überlegte. Der Begriff kam ihm bekannt vor… wahrscheinlich war es eine Muggelsache.
„Ja…" Hermine schwelgte in Erinnerungen. Dann fiel ihr plötzlich etwas ein. Sie wurde ganz aufgeregt. Plötzlich hatte sie eine mögliche Lösung für, naja, nicht alle Probleme, aber zumindest für das, was die Sache mit Harry anging.
„Was hast du?"
„Oh Viktor! Mir ist gerade eine Idee gekommen." Sie knipste das Licht an und ging zu ihrem Bücherregal. Viktor sah ihr eine Weile schweigend zu. Er hatte keine Ahnung, was Hermine meinen könnte.
„Hier irgendwo muss es doch sein… hmm… vielleicht…. hier…?" murmelte sie unentwegt und machte Viktor noch ganz verrückt.
„Würdest du mir endlich verraten, was in dich gefahre ist?"
„Ah, ich hab's schon" sagte Hermine endlich. Sie schnappe sich das Buch aus dem Regal und nahm es mit zum Bett. Wie wild blätterte sie nun darin rum und fand endlich wonach sie suchte. Triumphierend tippte sie auf eine Überschrift.
„Die Schneekönigin? Wer ist das?" fragte Viktor ein wenig verwirrt.
„Das ist ein Märchen."
„Ein Märchen?"
„Ja… herrje, du weißt doch, was Märchen sind?"
„Muss ich?"
Hermine seufzte. Aber seine Unwissenheit war in gewisser Weise sehr süß und dafür küsste sie ihn. „Wie soll ich das erklären? Es gibt Geschichten, von denen es heißt, sie hätten sich vor langer Zeit einmal zugetragen. Und es gibt Menschen, die diese Geschichten aufschrieben. Zumindest… halte ich es für eine wundervolle Vorstellung, dass all diese Geschichten, diese Märchen, irgendwann tatsächlich geschahen."
„Aber das taten sie nicht, oder?"
„Keine Ahnung. Wahrscheinlich nicht. Irgendjemand hat sich all das ausgedacht."
„Warum sagst du dann erst, dass…"
„Ach Viktor. In jedem Märchen steckt auch ein Körnchen Wahrheit."
„So wie in ‚Die Schneekönigin?"
„Wer weiß? Könnte doch sein?"
„Hmm. Was erhoffst du dir denn darin zu finden?"
„Ich weiß es nicht genau. Aber hier drin gibt es einen ähnlichen Fall wie mit Harry und Voldemort."
„Bist du dir da sicher?" Viktor zog wie so oft in den letzten Tagen seine Stirn kraus und sah Hermine fragend an.
„Ich bin mir nicht sicher. Darum will ich mir die Geschichte ja noch einmal durchlesen."
„Achsoo. Aber worum es darin geht, kannst du mir schon noch sagen, oder?"
„Soweit ich weiß, gab es da einen Spiegel, vom Teufel erschaffen. Dieser Spiegel verherrlichte das Böse und Schlechte und zeigte das Gute nur als ganz klein und ganz schwach. Irgendwie verzerrte es sogar das Gute, so dass es aussah, als wäre es in wirklichkeit schlecht. Eines Tages wollten die Schüler des Teufels den Spiegel hinauf zu Gott und den Engeln tragen, um ihnen zu zeigen dass auch sie schlecht waren. Doch der Spiegel erzitterte und zersprang in tausenden von kleinen Teilchen, manche nicht größer als Staubkörner. Sie fielen einigen Menschen ins Auge oder direkt ins Herz. Alles was sie dann erblickten, verzerrte sich und war ihrer Meinung nach schlecht. Sie wurden nie mehr glücklich." Hermine holte tief Luft. „Das ist der Teil, der mich hauptsächlich interessiert. Es geht dann noch weiter mit der Geschichte von Kay und Gerda… aber…"
„Aber das ist jetzt nicht wichtig. Richtig?"
„Genau."
„Ich verstehe worauf du hinaus willst. Als Voldemort in Stücke zersplitterte, wurde Harry von einem dieser Teile getroffe. Meinst du, dass Voldemort so in ihn eingedrunge ist?"
„Ich befürchte es."
„Dann würde das bedeuten, Voldemort lebt durch Harry weiter."
Beide schwiegen. Hermine las in dem Buch während Viktor seinen eigenen Gedanken nachhing. Er erinnerte sich an das Chaos, das herrschte als Voldemort sein Unwesen trieb. Die darauf folgende Kommunikations-Sperre war für ihn besonders hart, da er nicht mehr in Erfahrung bringen konnte, wie es Hermine ging. Er war halb wahnsinnig vor Sorge und wusste nicht, wie er ihr von Bulgarien aus helfen konnte. Das einzige, was er tun konnte war, seine ehemaligen Mitschüler zu mobilisieren. Natürlich wusste er auch hier nicht, wem er vertrauen konnte und wem nicht. Es war schließlich allgemein bekannt, dass die Durmstrang Schüler in den dunklen Künsten unterrichtet wurden. Er hatte nie besonderes Interesse an diesem Fach gehabt, doch war es im Endeffekt durchaus nützlich, diese Kenntnisse über die Denkweise des Bösen zu besitzen. Zum Glück hatte Viktor eine gute Menschenkenntnis und hatte schnell einige gute Leute um sich versammelt, die wie er gegen Voldemort waren. Als es dann brenzlig wurde und der Showdown in Großbritannien begann, unterstützten sie das bulgarische Ministerium mit allen Mitteln. Durch seine internationale Bekanntheit und die Länderspiele, die er für die bulgarische Quidditch-Mannschaft spielte, gelang es ihm außerdem, Kontakte ins Ausland zu knüpfen und dort ebenfalls Leute zu mobilisieren, die wiederum in ihrem eigenen Land kleine Widerstandsgruppen gründeten.
Wenn all das jetzt wieder von vorne beginnen sollte…
Viktor seufzte. Hermine war in ihrem Buch vertieft. Sie hatte sich nicht verändert, kam ihn in den Sinn. Dann dachte er an den Tag zurück, an dem er sie zum ersten Mal sah. Nicht in Hogwarts, sondern bei der Quidditch-Weltmeisterschaft in der Loge des Ministers. Und er wusste noch genauso wie heute, wie erschrocken sie ihn angeblickt hatte. Mit der gebrochenen Nase hatte er sicherlich kein schönes Anblick abgegeben, dachte er. Und dann in Hogwarts. Er dachte, er könne seinen Augen nicht trauen, als er sie dort antraf. Wahrscheinlich war es dieser Augenblick, als er sie wiedersah, in dem ihm bewusst wurde, dass er sich tatsächlich in sie verliebt hatte.
Hermine klappte das Buch zu.
„Und?" fragte Viktor, der wieder in die Gegenwart zurückgekehrt war.
„Ach ich weiß nicht. Ich bin müde und das Denken fällt mir gerade schwer."
„Du hast doch eine Idee. Das seh' ich dir an der Nasenspitze an."
Hermine legte das Buch weg und schmiegte sich dicht an Viktor heran.
„Ja… irgendwie schon. Ich meine… es könnte doch sein, das Harry spürt, dass da irgendetwas nicht mit ihm stimmt. Vielleicht kämpft sein Inneres ja sogar gegen ihn an. Auf jeden Fall muss ich herausfinden, ob tatsächlich ein Splitter von Voldemort in seinem Körper ist." Viktor nickte bedächtig. „Und das bedeutet wiederum, dass ich mich mit Harry treffen muss."
„Du glaubst doch wohl nicht etwa allen Ernstes, ich würde dich allein zu Harry lassen?"
„Nein. Dafür kenne ich dich zu gut." Sie schloss ihre Arme um seinen Nacken und legte den Kopf an seine Schulter.
„Aber du verstehst doch, dass ich Gewissheit haben muss. Nicht nur für mich, sondern für uns alle. Und keine Angst. Ich werde Ron und Tonks Bescheid geben. Sie sollen mich da unterstützen."
„Was ist mit mir? Ich würde dich auch begleiten!" Viktor klang etwas gekränkt, das Hermine ihn nicht bedachte.
„Ich weiß. Aber ich glaube, Ron und Tonks können ihn zurzeit am besten einschätzen. Vielleicht schreibe ich ihnen erst einmal, um sie vorzuwarnen."
Viktor gab es auf ihr wiedersprechen zu wollen. Hermine hatte ihren eigenen Kopf, der durchaus einem Dickschädel glich. Aber im Prinzip war es ja genau das, was ihn so an ihr faszinierte. Sie versuchte sich immer durchzusetzen und stand für ihre Ideale ein.
„Komm, lass uns schlafen", murmelte Hermine müde und Viktor losch das Licht. Um die Sache mit den Elfen kümmere ich mich dann morgen, fügte sie im Stillen hinzu und schlief ein.
