Zwei Monate später, London

Die Trauergemeinschaft war nicht besonders groß: die Eltern und nächsten Verwandten, einige Freunde und Kollegen. Pieter Jackson war zwar recht beliebt gewesen, aber noch nicht direkt bekannt. Der einzige Grund für die Präsenz einiger Reporter waren die Umstände seines Todes. Allerdings hatte man ihnen die Teilnahme an den bescheidenen Trauerfeierlichkeiten untersagt und so blieb ihnen vorerst nichts anderes übrig, als den kleinen Friedhof zu filmen, in die Kameras Allgemeinsätze zu sprechen und zum Beispiel darauf hinzuweisen, daß in dem Sarg kein Leichnam liegen würde.

In der Kirche lauschten inzwischen die Trauergäste den Worten Professor William Pretchers, bei dem Pieter Jackson promoviert hatte:

„...umso tragischer ist sein Tod in diesem zweck- und ziellosen Konflikt. Pieter arbeitete aufs engste mit dem kongolesischen Nationalmuseum zusammen, das ebenfalls mehrere Mitarbeiter verlor.

Pieter Jackson war nie zufrieden damit, seiner Berufung nur im Labor und an der Universität nachzukommen, anderen die Strapazen und Risiken der Ausgrabungen aufzubürden. Im Dienste der Wissenschaft nahm er Krankheiten, Schmutz und die anstrengende, harte und oft auch gefährliche Arbeit vor Ort auf sich. Er wußte um die Beschwerden und Gefahren seiner Arbeit und zögerte dennoch niemals, sie wieder und wieder auf sich zu nehmen. Ohne Männer wie ihn währe die Anthropologie nicht zu der Wissenschaft geworden, die sie heute ist. Fassungslos stehen wir vor der Grausamkeit und Sinnlosigkeit seines Todes. Wir fragen uns – Warum? Und wir finden keine Antwort..."

Die Frau in der zweiten Reihe biß die Zähne zusammen. Sie hatte schon vieles erlebt. Kämpfe und Strapazen, Todesgefahr und Schmerzen – aber es gab nichts schlimmeres, als einen Freund zu Grabe tragen zu müssen.

Außerdem kämpfte Lara Croft mit einem unlogischen, aber bohrenden Schuldgefühl. Der Angriff, der das Ausgrabungscamp bis auf den letzten Mann vernichtet hatte, mußte nur kurz nach ihrem Gespräch mit Pieter erfolgt sein, auch wenn erst zwei Wochen später die Nachricht davon bei den örtlichen Behörden angekommen war. Sie hätte Pieters Tod nicht verhindern können, selbst wenn sie seiner Einladung gefolgt währe. Dennoch wünschte sie...

Sie preßte wütend die Lippen zusammen. Sie selber kannte die Risiken ihres „Berufs" nur zu gut, aber Pieter...

Dies war seine erste Ausgrabung in Afrika gewesen und bei ihrem Ferngespräch hatte Lara gefühlt, wieviel diese Chance ihm bedeutete. Es war einfach nicht gerecht. Er hatte das nicht verdient. Immer wieder und wieder hörte sie im Geist seine Worte: „Wenn du hier nicht dabei bist – das wirst du dein Leben bereuen." Er hatte auf grausame Art und Weise Recht behalten.

Es war für die wartenden Reporter und Kameraleute eine Erleichterung, als die Trauergäste endlich, dem leeren Sarg folgend, die Kirche verließen. Die meisten der Presse- und Fernsehleute wahrten einen gewissen, respektvollen Abstand, aber nicht alle. Zwei Reporter und ein Fotograf der „Sun", auf der Suche nach einem lückenfüllenden Artikel über den im Kongo ermordeten Wissenschaftler, ließen es sich nicht nehmen, die Trauergäste aus nächster Nähe zu fotografieren und die Verwandten nach ihren Gefühlen und Emotionen zu fragen, während diese dem Sarg folgten.

Auf einmal hatte der Fotograf das Gefühl, als hätte man ihm mit einem Knüppel zwischen die Beine geschlagen. Verzweifelt mit den Armen rudernd versuchte er vergeblich, das Gleichgewicht zu halten und stürzte schließlich gegen seine zudringlichen Kollegen. Alle drei gingen in einem reichlich würdelosen Durcheinander zu Boden.

Das war dann genug – unter den indignierten bis hämischen Blicken ihrer etwas rücksichtsvolleren Kollegen wurden die Drei des Friedhofs verwiesen.

Lara Croft lächelte grimmig. Niemand hatte bemerkt, wie sie dem Mann ein Bein gestellt hatte. Sie war eine Grabräuberin, ja – aber sie verabscheute diese Aasgeier von der Presse.

Nach diesem Zwischenfall lief die Trauerfeierlichkeit ruhig und ungestört ab.

„Mr. Kenneth."

Der junge Mann drehte sich um. Er wirkte alles andere als erfreut, als er sah, wer ihn angehalten hatte. Hatte er Anfangs sogar versucht, Lara zu beeindrucken und seinen Charme spielen zu lassen, so mußte er bald lernen, daß weder seine Arbeit beim Außenministerium noch sein Aussehen ihm irgendwie halfen: „Guten Tag, Miss Croft. Was kann ich für Sie tun?"

„Das wissen Sie ganz genau. Sie könnten zum Beispiel versuchen, wirklich herauszufinden, wie Pieter Jackson ums Leben gekommen ist."

„Das habe ich Ihnen doch schon alles erklärt – mehrmals. Die örtlichen Behörden haben erst zwei Wochen nach dem Vorfall davon erfahren. Sie besaßen einfach nicht die Mittel, eine komplette kriminaltechnische Untersuchung einzuleiten. Immerhin ist dies der Kongo – dort herrscht Bürgerkrieg, das Land ist bankrott. Dennoch haben die Behörden erstaunlich schnell und effizient gearbeitet. Die Leichen wurden identifiziert, mußten allerdings aufgrund der Seuchengefahr schnell beerdigt werden.

Die Untersuchungen ergaben, daß Deserteure der Armee – oder Banditen, falls es da einen Unterschied gibt – das Lager überfallen haben, zweifelsohne auf der Suche nach Geld, Ausrüstung und Vorräten."

„Und warum sollten sie alle – JEDEN MANN, JEDE FRAU – ermorden?"

„Das ist der Kongo, Miss Croft. Fragen Sie nicht nach dem Sinn. Es gibt keinen..."

„Ersparen Sie mir ihre Allgemeinsätze! Wenn die kongolesischen Behörden sich damit zufriedengeben, irgendwelchen ‚Deserteuren' oder ‚Banditen' die Schuld zu geben ist das ihre Sache. Aber Pieter war englischer Staatsbürger. Es ist ihre Pflicht..."

„Was? Sollen wir eine eigenständige Untersuchung aufziehen? Das alles ist schon drei Monate her und die Gegend ist nicht sicher, das hat dieser Vorfall schließlich bewiesen. Wir haben KEINE Handhabe – und es gibt nicht die Spur eines Hinweises, daß die örtlichen Behörden sich irgendwelcher Unterlassungen schuldig gemacht hätten, oder hinter der Sache mehr steckt als ein weiteres Massaker, bei dem diesmal eben bedauerlicherweise auch ein britischer Staatsbürger unter den Opfern war.

Pieter Jackson kannte die Gefahren, er hat zudem den Schutz durch die örtliche Gendarmerie abgelehnt und sich lieber auf irgendwelche ‚Sicherheitsspezialisten' verlassen. Insoweit..."

„Und damit lassen Sie es bewenden!"

„Etwas anderes bleibt uns nicht übrig. Er war ihr Freund, natürlich sind Sie verbittert. Aber lassen Sie ihn jetzt ruhen. Selbstverständlich fühlen wir mit Ihnen und mit der so schwer getroffenen Familie, aber..."

„Es reicht! Sparen Sie sich ihre Platitüden für die Presse. Mich können Sie damit nicht abspeisen." Damit wirbelte Lara Croft herum und ging. Ihre schnellen, wütenden Schritte knirschten in dem Kies des Friedhofsweges. Kenneth sah ihr hinterher. Diese Frau war sicherlich eine Augenweide, aber er persönlich hoffte, daß er sie zum letzten Mal gesehen hatte.

Er wußte nicht, daß sowohl er als auch Lara während ihres gesamten Gesprächs beobachtetet worden war. Der Beobachter hatte sich hinter einem riesigen, alten Grabstein verborgen und die Beiden aufmerksam mit einem Feldstecher beobachtet. Ein leistungsfähiger Fotoapparat hing an seiner Seite, aber der Mann war keineswegs ein Reporter. Leise und unauffällig folgte er dann Lara Croft, hielt sich dabei immer im Schutz von Bäumen, Büschen und Grabsteinen. Als er das Tor des Friedhofs erreichte, sah er gerade noch, wie sein Ziel in einen Sportwagen stieg. Schnell, aber nicht zu auffällig, verschwand der Mann in einer Seitengasse, wo bereits ein Taxi wartete.

„Folgen Sie dem silbernen Sportwagen."

„Geht ja klar, Boß – es ist Ihr Geld. Aber sagen Sie nun mal, was sind Sie eigentlich? Geheimdienstler, Bulle, Privatschnüffler – oder so ein verdammter Stalker?"

Der Mann grinste kurz und humorlos: „Privatdetektiv, wenn Sie's unbedingt wissen müssen. Aber ich bezahl Sie nicht fürs Quatschen. Geben Sie Gas, aber halten Sie den Abstand..."

Selber Abend, Croft Manor

Die Grabjägerin stand am Fenster und starrte in die hereinbrechende Nacht. Die Beleuchtung in dem Zimmer war ausgeschaltet. Als ihr Diener Hillary eintrat, unterdrückte er den Impuls, auf den Lichtschalter zu drücken. Wenn die Lady lieber im Dunkel blieb, dann hatte er da nichts zu sagen.

„Haben Sie noch einen Wunsch, Lady Croft?"

„Nein, Danke... Du kanntest Pieter doch auch, oder?"

„Ja, aber nicht so gut."

Lara Croft schwieg einige Augenblicke, dann murmelte Sie halblaut, mehr zu sich selber: „In was hast du dich da nur verwickeln lassen, Pieter..." Sie straffte sich, drehte sich um und winkte ihren Diener spöttisch zu: „Du kannst ruhig gehen. Wenn ich was brauche, schreie ich."

„Sehr wohl, Lady Croft."

Dann sah Lara Croft wieder hinaus in die Dunkelheit, suchend und wachsam.

Der Beobachter hatte sich im Schutz einiger Sträucher postiert. Es war ein Kinderspiel gewesen, auf das Gelände zu kommen, der Zaun war kein Hindernis für ihn. Die Ausmaße der Anlage hatten ihn überrascht, diese Croft mußte Geld wie Heu haben.

Hinter den Fenstern des riesigen Anwesens tat sich schon seit einer halben Stunde nichts mehr, was den Beobachter vor das Dilemma stellte, was er nun tun sollte. Er setzte den leistungsfähigen Zeiss-Feldstecher ab. Momentan war der Mann praktisch unsichtbar, im Schutz der Büsche, mit geschwärztem Gesicht und in der dunklen Tarnkombination. Aber durch bloßes Beobachten würde er nie erfahren, was er wissen wollte. Andererseits widerstrebte es ihm, in irgendeiner Weise seine Tarnung – oder seine Anonymität aufzugeben.

Aber hier herumzustehen war sinnlos. Er würde seinen Posten aufgeben, sich zurückziehen – und morgen würde er zurückkommen. Aber nicht, um nur zu Beobachten. Leise und vorsichtig erhob sich der Beobachter und wandte sich geduckt um – und erstarrte.

Denn hinter ihm stand die Frau, die er schon den ganzen Tag beobachtet hatte. Lara Croft.

„Guten Abend."

Der Mann war überrascht, dennoch reagierte er blitzschnell. Während er mit der Linken seiner Gegenüber den schweren Feldstecher ins Gesicht schleuderte, fuhr seine Rechte unter die Tarnjacke, griff er nach dem Kolben einer Pistole. Er riß die Waffe heraus – und ein schneller Tritt prellte die Pistole aus seiner Hand, schleuderte sie ins Dunkel. Ein zweiter Schnapptritt hätte ihn voll im Unterleib getroffen, wenn der Mann nicht blitzschnell zurückgewichen währe.

Einen Augenblick lang verharrten die beiden Kontrahenten reglos, sich gegenseitig lauernd beobachtend. Beide standen jetzt in leichter Schrittstellung, die Fäuste vorm Körper, Gesicht und Leib schützend.

Dann griff der Mann an. Seine Gerade zielte auf das Gesicht Laras, doch sie blockte den Schlag ab und setzte mit einem Schwinger nach, der aber ebenfalls abgeblockt wurde.

Ein kraftvoller Sicheltritt der Grabräuberin holte ihren Gegner beinahe von den Beinen, aber als sie nachsetzen wollte, rannte sie praktisch in einen brutalen Rippenstoß, der ihr den Atem nahm und einen schwächeren Kämpfer wohl ausgeschaltet hätte. Aber nichts an Lara Croft war schwach. Mit zusammengebissenen Zähnen rammte sie ihren Ellbogen auf den Arm ihres Gegners und blockte gleichzeitig den Handkantenschlag ab, der auf ihre Kehle zielte. Ihr Gegner kämpfte, um zu töten.

Wieder und wieder lösten sich die beiden Kämpfer kurz voneinander, um sich vorsichtig zu umkreisen, nach einer Schwachstelle suchend – und dann blitzschnell anzugreifen. Der Mann machte keine Anstalten zu fliehen. Er schien zu wissen, daß er auf dem Gelände, das seine Gegnerin viel besser kannte, nicht entkommen konnte.

Dann sah Laras Gegner seine Chance, als die Grabjägerin ihren Stand wechselte. Der Fußfeger riß Lara das Standbein unter dem Körper weg, sie stürzte – nur um sich im Fallen zu drehen, ihren Fuß in der Kniekehle ihres Gegners zu verhaken und ihn so ebenfalls zu Boden zu zwingen. Diesmal war Lara um einen entscheidenden Augenblick schneller. Während ihr Gegner nach Lara trat, warf sie sich vorwärts, bekam den Arm zu fassen, mit dem sich der Mann unwillkürlich abgestützt hatte – und riß den Arm brutal nach Hinten.

Zum ersten Mal ließ ihr Gegner überhaupt etwas hören, ein dumpfes Stöhnen, während er nach ihr trat. Aber das war nur noch eine Geste – der Kampf war vorbei. Mit wenig Kraftanstrengung konnte die Grabräuberin ihrem Gegner jetzt den Arm auskugeln, oder ihn brechen. Und der Mann wußte das. Seine fruchtlosen Befreiungsversuche verebbten, kurze Zeit waren die heftigen Atemgeräusche der beiden Kämpfer das einzige Geräusch. Dann brach Lara Croft das Schweigen: „Sehr nett, aber jetzt genug gespielt. Was suchst du hier?"

„La putain – MERDE!" Der Mann versuchte noch einmal mit einer ruckartigen Körperdrehung freizukommen. Tatsächlich, er bekam Luft, sprang auf – und starrte genau in die Mündung seiner Waffe, die jetzt in der Hand seiner Gegnerin ruhte: "So nicht, Kamerad."

Der Mann schien seine Chancen abzuschätzen – und hob dann die Hände. Das grimmige Lächeln der Grabräuberin vertiefte sich: "Na also, warum nicht gleich so. Laß die Hände wo sie sind, umdrehen und vorwärts Marsch." Der Mann gehorchte jetzt widerspruchslos, dennoch achtete Lara darauf, einen gewissen Sicherheitsabstand zu halten.

Als die beiden das Gebäude betraten, wartete bereits Hillery. In der einen Hand hielt er eine Flasche mit Mineralwasser und ein Handtuch, in der anderen eine abgesägte Schrotflinte, die er jetzt auf Laras Gegner richtete: „Warum können Sie das nicht einfach der Polizei überlassen, Lady Croft. Sie können doch nicht jeden Möchtegerneinbrecher selber stellen."

„Wo bliebe denn der Spaß? Außerdem ist unser Freund nicht einfach nur ein Einbrecher." Lara Croft untersuchte fachmännisch die Pistole und musterte ihren Gefangenen: „Ein Einbrecher würde keine Makarov haben, wenigstens keine Makarov mit Dumdum-Geschossen. Ein einfacher Einbrecher schwärzt sich nicht das Gesicht und verwendet einen Tarnanzug. Er hat nicht die Geduld und die Ausdauer, drei Stunden auf einem Spähposten zu bleiben, ohne sich zu bewegen...

Sie können sich ruhig an dem Gespräch beteiligen. Und wischen sie sich das Gesicht frei. Aber langsam – keine schnellen Bewegungen."

Der Gefangene schnaubte abfällig, befolgte allerdings die Anweisungen präzise. Er war größer, breiter und schwerer als die Grabräuberin, kräftig aber dennoch beweglich und behende wirkend. Das Gesicht war eher markant als gutaussehend zu nennen: wettergebräunt, kantig und hart, mit einer langen, hellen Narbe auf der rechten Seite. Die blonden Haare waren militärisch kurz. Die graublauen Augen des Gefangenen funkelten wütend. Vermutlich ärgerte er sich immer noch, daß er von einer kleineren und wohl auch schwächeren Frau überwältigt und mit seiner eigenen Waffe bedroht worden war. Aber schwieg weiterhin.

Lara verzog abschätzig den Mund: „Sie können natürlich weiterhin den Großen Schweiger spielen. Aber Ihnen muß doch klar sein, daß Ihre Lage alles andere als optimal ist. Sie sind widerrechtlich auf dem Gelände, Sie haben eine illegale Waffe bei sich und nebenbei haben Sie auch noch versucht, mich umzubringen. Sie leben nur noch, weil ich wissen will, was Sie hier wollen. Nennen Sie mir EINEN guten Grund, warum ich Sie jetzt nicht einfach von der Polizei abholen lassen soll – und Sie für die nächsten Jahre weggeschlossen werden?"

„Sie werden mich nicht der Polizei übergeben..." Die Stimme des Gefangenen klang trotz seiner ungünstigen Lage beherrscht, hart, mit einem leichten Schleifen. Sein Englisch war gut, aber mit einem hörbaren Akzent. „...nicht, wenn Sie wirklich erfahren wollen, was mit Pieter Jackson wirklich passiert ist. Wenn Sie wissen wollen, wie er gestorben ist und wer seine Mörder waren."

Die Worte trafen Lara wie ein Schlag ins Gesicht, ihre Selbstsicherheit war einen Augenblick lang erschüttert: „Was! Woher wissen Sie davon – WER SIND SIE!"

Der Gefangene schien mit dieser Reaktion gerechnet zu haben, er lächelte dünn: „Mein Name ist Jean Roux. Ich war Sicherheitschef der Jackson-Expedition. Wenn Sie sich mit den Unterlagen über die Expediten beschäftigt haben, dann müssen Sie..."

„Ich habe Ihren Namen gelesen, ja..." Dann schien sich die Grabräuberin zu fangen, wurde ihre Stimme hart, mißtrauisch, fast feindselig: „Sie werden unter den Toten geführt. Warum leben Sie noch? Alle anderen sind tot – und Sie stehen hier, unversehrt!"

„Unversehrt!" In der Stimme des Gefangenen schwang jetzt ebenfalls Wut mit. „Sie haben KEINE AHNUNG! Sie wissen NICHTS! Soll ich Ihnen die Narben zeigen? Crétin! Rennen Sie erst mal eine Woche mit einem halben Dutzend verdammter Splitter durch den Urwald! Ich muß mir nicht vor einer Scheißzivilistin rechtfertigen!"

„HALTEN SIE DEN MUND! Sie werden mir jetzt GENAU sagen, was passiert ist. Oder..."

„Oder was! Wollen Sie mich foltern? Wollen Sie mich erschießen!"

Lara Croft schwieg ein paar Augenblicke, atmete tief durch. Die Waffe in ihrer Hand blieb jedoch die ganze Zeit auf den Gefangenen gerichtet: „Reden Sie. Oder sie landen bei der Polizei."

Auch Jean Roux beruhigte sich und fuhr mit ausdrucksloser Stimme fort: „Die amtliche Untersuchung war ein Witz. Sie haben die Leichen gesammelt und in einem Massengrab beerdigt, ohne sich groß um Anzahl oder Identität zu kümmern. Deshalb galt ich auch als tot. Schließlich habe ich mich nicht gerade bei den Behörden gemeldet."

„Warum nicht?"

„Sagen wir mal so, in meinem Beruf hat man am besten so wenig wie möglich mit der Administration zu tun – außer man arbeitet für sie."

„Söldner."

„Allerdings."

„Wer hat Pieter ermordet?"

„Die Namen kenne ich nicht. Aber es waren keine Banditen oder Deserteure. Es waren weiße Söldner, mindestens ein Dutzend. Und mehr als zwanzig schwarze Söldner. Einheitlich ausgerüstet und gut bewaffnet. Sie haben als EINHEIT agiert, aufeinander abgestimmt – wie bei einer Treibjagd, es sollte keiner am Leben bleiben. Die Verwundeten haben sie erschossen. Ihr Freund... hatte Glück, wenn man daß so nennen will. Eine Salve in Rücken und Hinterkopf, er muß fast sofort tot gewesen sein." Die Stimme des Söldners blieb bei diesen Worten emotionslos.

Lara schloß kurz die Augen. Dann sah sie wieder den Gefangenen direkt an, prüfend und mit kalter Entschlossenheit: „Noch einmal – warum leben Sie noch, Roux."

„Wenn ein paar Meter neben Ihnen eine Rakete explodiert und Sie ins Unterholz schleudert, wenn Ihr Rücken aussieht, wie mit einem Fleischermesser bearbeitet – dann werden Sie wohl auch für tot liegengelassen, ‚Miss Croft'."

„Vielleicht. Was wissen Sie noch?"

„Ich glaube, die meisten waren Ex-Militärs. Marineinfanterie, Paras... etwas in der Art. Nicht einfach nur Idioten, die Söldner spielen wollen. Dazu waren sie zu gut. Südafrikaner überwiegend. Ihr Anführer...war auf jeden Fall ein Bure. Und ich würde ihn wiedererkennen."

„Sind Sie sich sicher?"

„Todsicher. Das Afrikanderschwein vergesse ich nicht." Kurz verzerrte sich das Gesicht Roux zu einer häßlichen, haßerfüllten Fratze. Lara bemerkte dies, sagte aber nichts dazu.

„Was haben diese...Söldner in dem Lager gewollt?"

„Sie haben das meiste an Ausrüstung und technischen Geräten mitgenommen oder vernichtet. Aber das war nicht ihr Ziel, das war nur Tarnung. Solche Leute arbeiten nicht als Räuber."

„Was wollten sie dann!"

Der Söldner blickte auf und sah Lara Croft genau in die Augen. Langsam schüttelte er den Kopf, kalte Wut in seinen Worten: „Ich habe keine Ahnung! Als ich zu Bewußtsein kam, waren sie schon weg. Es hatte vielleicht irgendetwas mit den Ausgrabungen zu tun. Ihr Freund hatte erst ein paar Tage vorher eine neue Grabung begonnen."

„Wonach?"

„Woher soll ich das wissen! Ich interessiere mich nicht für alte Knochen. Ihr Freund war nicht sehr gesprächig und ich habe nicht nachgehakt."

Jetzt huschte kurz ein Lächeln über Laras Gesicht: „Sie sind einer der Söldner, die einen Plastiktopf nicht von einer Ming-Vase unterscheiden könnte?"

Der Söldner zuckte nur mit den Schultern.

„Und warum sind Sie hier? Was wollten Sie von mir? Ich hatte sowieso das Gefühl, das ich heute beobachtet wurde. Also – warum? Was machen Sie in England?"

Das Gesicht des Söldners wurde wieder zu einer ausdruckslosen Maske, die nichts verriet: „Eigentlich bin ich in England, um bei einer...'Sicherheitsfirma' meine Möglichkeiten auszuloten. Es gibt ein wachsendes Interesse an...Experten im afrikanischen Raum. Tja, dann hörte ich von der Trauerfeierlichkeit. Ich war einfach neugierig. Und dann habe ich ihr Gesicht gesehen. Sie waren der letzte, mit dem der Chef geredet hat. Und er war ziemlich verschossen in Sie. Das einzige mal, als er sich besoffen hat, hat er nur..."

Lara schnitt ihm das Wort ab: „Halten Sie den Mund. Das will ich nicht hören." Ihre Stimme klang gepreßt: „Noch mal - warum sind Sie hier! Doch nicht nur aus Neugier? Pieters Sicherheit war nur ein Job für Sie, er war nur Ihr Geldgeber. Sie wurden bezahlt und haben versagt. Wollen Sie mir sagen, Sie haben Gewissensbisse, Söldner!"

„Vielleicht war es so. Vielleicht geht es mir aber auch nicht um Ihren verdammten Freund! Vielleicht geht es auch um MEINE Männer! Meine KAMERADEN! Falls dieses Wort für Sie irgendeine Bedeutung hat! Vielleicht will ich wissen, warum Sie sterben mußten! Und warum..." Jean Roux brach abrupt ab, als hätte er zu viel gesagt.

Lara Croft musterte ihn immer noch mißtrauisch: „Und das soll ich Ihnen glauben?"

„Es bleibt Ihnen wohl kaum etwas anderes übrig. Denn das ist alles, was ich Ihnen bieten kann. Nehmen Sie es, oder lassen Sie es bleiben, ‚Lady Croft'."

„Sie haben mir noch immer keinen triftigen Grund geliefert, Sie nicht der Polizei zu übergeben."

„Wie währe es damit: ICH kann den Kommandeur der Söldner identifizieren. Sie nicht. ICH habe Kontakte in der Szene, kenne mich vor Ort aus. Sie nicht."

„Wenn Sie sich darin nur nicht täuschen, Roux."

„Das Risiko gehe ich ein. Außerdem weiß ich, wo das Camp GENAU liegt. Ihr Freund hat die präzisen GPS-Koordinaten in den Unterlagen nicht angegeben. Er traute den Behörden wohl nicht ganz. Wissen Sie, was nach zwei, drei Monaten von einem Zeltlager oder einem unbefestigten Pfad im Urwald noch zu finden ist? Wissen Sie, wo die einzelnen Grabungsorte sind? Wie lange Sie ein paar Quadratkilometer Dschungel durchsuchen können, bis Sie etwas finden?"

„Was wollen Sie? Soll ich Sie einfach gehen lassen?"

„Nein. Ich will dabei sein."

„WAS!"

„Sie wollen herausfinden, warum ihr Freund ermordet wurde, richtig? Nun, dazu brauchen Sie mich. Oder Sie können suchen, bis Sie schwarz sind. Heuern Sie mich an."

„Anheuern? Geht es Ihnen darum? Sie haben eine merkwürdige Art, ihre Dienste anzubieten!"

„Ich musste improvisieren. Wenn Sie nicht unbedingt eine Runde Schauraufen gewollt hätten, dann wäre ich vielleicht auch etwas zivilisierter aufgetreten. Zehntausend Dollar – das ist ein guter Preis."

Jetzt lachte Lara Croft kurz auf: „Sie sind wirklich verrückt, Roux. Aber Sie haben Nerven."

„Heißt das, wir haben eine Vereinbarung?"

Die Grabräuberin schüttelte den Kopf: „Nicht so schnell. Hier bestimme ich immer noch die Spielregeln. Und die heißen, Sie bleiben heute hier – unter Verschluß. Morgen erfahren Sie, was ich beschlossen habe."

„Damit kann ich leben."

„Damit MÜSSEN Sie leben, Roux. Andernfalls..." Lara Croft beendete den Satz nicht. Es war nicht nötig.

„Hillary – du zeigst unserem...Gast sein Quartier."

Jean Roux ließ sich ohne weitere Probleme von dem Butler abführen, der dabei aber immer noch die Schrotflinte schußbereit hielt und den Söldner nicht aus den Augen ließ.

Nach ein paar Minuten kehrte Hillary zu Lara Croft zurück.

„Ist er sicher untergebracht?"

„Natürlich. Und wahrscheinlich komfortabler, als jemals zuvor in seinem Leben. Aber die Fenster sind aus Sicherheitsglas und verriegelt. Die Tür kann man nur mit einer Panzerfaust öffnen, Lady Croft."

Die Grabräuberin grinste bei dieser Beschreibung: „Das dürfte genug sein."

„Wollen Sie diesen ‚Söldner' etwa wirklich anheuern! Ich traue diesem Mann nicht."

„Ich traue ihm auch nicht. Aber vielleicht ist er nützlich. Und wenn er ein falsches Spiel treibt... Dann wird er schnell erkennen, wer die besseren Karten hat."

Bei diesen Worten entlud Lara Croft die Makarov des Söldners und warf die Pistole Hillary zu, der die Waffe gerade noch auffangen konnte.

„Sie sollten dennoch vorsichtig sein."

Lara schüttelte lächelnd den Kopf: „Ich glaube, ich bin alt genug, um selber auf mich aufzupassen. Gute Nacht, Hillary."

„Gute Nacht, Lady Croft."