Nächster Tag, Croft Manor

Lara Croft trat ein, ohne anzuklopfen. Dennoch war Jean Roux bereits hellwach und auf den Beinen, sah sie ohne ein Zeichen von Überraschung an. Und auch ohne ein Anzeichen von Unruhe, wie Lara feststellte. Er schien in seinem Tarnanzug geschlafen zu haben.

„Haben Sie sich entschieden?"

„Ja. Ich will Ihnen eine Chance geben. Sie arbeiten also für mich. Wenn Sie allerdings glauben, daß Sie auch nur einen Dollar sehen, bevor Sie etwas Substanzielles geleistet haben, dann können Sie das vergessen."

Der Söldner zuckte wegwerfend mit den Schultern. Die Zahlungsmodalitäten schienen ihm nicht so wichtig.

„...Noch etwas. Versuchen Sie nicht, mich zu betrügen oder zu hintergehen. Ich habe Ihnen EINMAL das Leben geschenkt, Roux. Rechnen Sie nicht damit, daß ich noch mal so gnädig ist."

„Oui, mon lieutenant." In der Stimme des Söldners schwang leichter Sarkasmus mit.

„Wir schauen erst mal bei Pieters Wohnung vorbei. Er muß doch irgendwelche Aufzeichnungen hinterlassen haben – Studien über die geplanten Ausgrabungen, irgend etwas. An der Universität wissen sie jedenfalls nichts Genaues über sein letztes Projekt. Sie wissen nicht mal, wer genau der Finanzier war..." Die Grabräuberin musterte Jean Roux kurz. Von dem gestrigen Kampf waren noch ein paar deutliche Prellungen im Gesicht geblieben. Zusammen mit dem abgeschabten Tarnanzug, den Roux trug, war er jedenfalls nicht vorzeigbar in der normalen Gesellschaft.

„Die Wohnung ist in der City. In der Kleidung können Sie da nicht hin... Hier, ziehen Sie das an." Mit diesen Worten warf die Grabräuberin dem Söldner eine ziviler wirkende Hose und eine Jacke hin.

Jean Roux fing die Kleider auf. Als er sah, daß Lara keine Anstalten machte zu gehen, verzog er kurz spöttisch den Mund und zog sich um.

„Haben Sie gesehen was Sie wollten, Miss Croft!"

Das hatte Sie. Über den Rücken und die linke Seite des Mannes zog sich ein Geflecht aus Narben. Die hellen, noch frischen Narben zeichneten sich deutlich auf der sonnengebräunten Haut ab. Es sah tatsächlich so aus, als hätte jemand Roux mit einem Fleischermesser bearbeitet, und das nur vor einigen Monaten.

„Gehen wir."

Keiner der beiden sprach während der Fahrt. Lara fuhr schnell, aber konzentriert, während ihr Begleiter scheinbar teilnahmslos geradeaus starrte. Allerdings ließ sich die Grabräuberin nicht täuschen. Als sie ausstiegen, bemerkte sie, wie sich Roux unauffällig umsah. Ungeachtet seiner ruhigen, sparsamen Bewegungen war der Mann auf der Hut.

In die Wohnung zu kommen war kein Problem, auch ohne Schlüssel. Das Sicherheitssystem war keine Herausforderung für Lara. Unaufgefordert hatte Roux neben ihr Aufstellung genommen, behielt die Umgebung im Auge und schirmte gleichzeitig Laras Arbeit ab.

Mit einem leisen Klicken entriegelte die Grabräuberin die Tür, öffnete sie einen Spalt breit und glitt hinein. Roux folgte.

„Bleiben Sie hinter mir. Bei DER Arbeit nützen Sie mir nichts..." Dann sah sich Lara um. Die Luft roch abgestanden, kein Wunder. Im Laufe der letzten Monate hatte sich niemand richtig um die Wohnung gekümmert. Eine dünne Staubschicht bedeckte alles.

Lara stockte abrupt und fluchte dann unterdrückt. Jemand war ihr zuvorgekommen. Ohne die Staubspuren hätte sie es wohl nicht bemerkt, aber so hatte sie keine Zweifel – jemand hatte die Wohnung durchsucht, erst vor kurzer Zeit und sehr professionell. Das sah nicht nach einem normalen Einbruch aus. Und das konnte nur Eines bedeuten...

Dennoch machte sie sich an die Arbeit. Vielleicht hatten die Einbrecher ja etwas übersehen.

Jean Roux beteiligte sich nicht an der Suche. Während die Grabräuberin mit schnellen, wie einstudiert wirkenden Griffen die vorhandenen Unterlagen durchsuchte, wurde er zunehmend unruhiger. Ein-, zweimal spähte er vorsichtig aus dem Fenster. Hätte Lara Croft ihn jetzt angesehen, dann währe ihr aufgefallen, daß es in seinem Gesicht arbeitete, seine Augen unruhig hin und her huschten.

Lara mußte inzwischen feststellen, daß ihre ‚Vorgänger' ganze Arbeit geleistet hatten. Nirgendwo war auch nur ein einziges Blatt Papier zu finden, daß sich auf die Ausgrabungsexpedition bezog. Und die Festplatte des Computers hatten die Einbrecher sicherheitshalber mitgenommen.

„Interessant..."

Roux drehte sich zu Lara Croft um, die jetzt ein dickes, in Leder gebundenes Buch in den Händen hielt und vorsichtig durchblätterte.

„Haben Sie etwas gefunden?"

„Hören Sie doch mal: ‚Kannibalen und Tiermenschen', von 1895. Scheint eine Mischung aus Reisereportage und ethnographischen Beobachtungen zu sein..." Lara überflog die einleitenden Seiten und verzog abschätzig den Mund: „...und einer Menge rassistischer Parolen."

„Und?"

„Raten Sie mal, um welche Gegend es geht. Belgisch-Kongo."

„Haben Sie endlich genug? Lassen Sie uns verschwinden!"

Lara blickte auf und grinste spöttisch: „Entspannen Sie sich, Roux. Sie wollen Söldner sein? Wenn Sie die zehntausend Dollar verdienen wollen..."

„Scheiß drauf. Im Augenblick bin ich eher daran interessiert zu erfahren, warum diese drei Arschlöcher auf der anderen Straßenseite so an diesem Haus interessiert sind!"

Binnen Sekundenbruchteilen kniete Lara neben ihm und spähte vorsichtig aus dem Fenster. Tatsächlich, der Söldner schien Recht zu haben.

Die Männer auf der anderen Straßenseite paßten mit ihren schweren Motorrädern und der Lederkleidung nicht unbedingt in diese Gegend, auch wenn sie für Biker relativ sauber wirkten und scheinbar völlig mit einer der Maschinen beschäftigt waren. Alle paar Sekunden blickte einer von ihnen zu dem Haus, in dem Pieter Jackson gewohnt hatte.

„Glauben Sie, die haben was mit dem Einbruch hier zu tun?"

Lara schüttelte abfällig den Kopf: „Dazu sind sie zu dilettantisch. Aber als bezahlte Schläger reichen sie aus. Gehen wir."

„Und die drei Idioten da draußen?"

„Lassen Sie sich überraschen, Roux."

Sobald sie in Laras Wagen waren, warf die Grabräuberin das gefundene Buch unzeremoniell nach hinten, während sie im Rückspiegel die Biker beobachtete, die jetzt auf ihre Maschinen stiegen. Sie grinste kurz: „Anfänger."

Tatsächlich folgten die Motorräder dem Wagen in einem viel zu geringen Abstand, um unauffällig zu sein.

„Und, wie wollen Sie diese Arschlöcher abhängen?"

„Überhaupt nicht. Ich suche mir nur die passende Gegend zum Spielen."

Roux warf Lara einen fragenden Blick zu, bekam aber keine Antwort. Die Gegend, die Laras Ziel war, schien Welten von der Londoner City oder Croft Manor entfernt zu sein. Baufällige Mietskasernen und geschlossene Fabrikanlagen säumten die verdreckten Straßen, auf denen kaum jemand unterwegs war. Ausgebrannte Mülltonnen und Fahrzeugwracks standen hier und da auf dem Bürgersteig, umgeben von wahren Müllbergen.

„Nette Gegend." bemerkte Roux, doch seine Stimme klang angespannt. Er hatte die immer noch folgenden Biker nicht aus den Augen gelassen: „Glauben Sie nicht, die merken langsam, daß sie vorgeführt werden?"

„Das sollen Sie merken. Hören Sie zu, Roux. Wenn ich sage ‚Jetzt' – dann springen Sie aus dem Wagen und verstecken sich. Ich lotse dann unsere Freunde von ihren Maschinen runter."

„Wie währe es mit einer Waffe für mich?"

„Vielleicht bin ich klüger als Pieter."

Obwohl Roux vorgewarnt war, wurde er dennoch überrascht, als Lara handelte. Während sie das Gaspedal durchtrat, riß sie das Lenkrad herum und der Sportwagen schoß in eine Seitenstraße, bloß um gleich darauf wieder herumgerissen zu werden und mit durchdrehenden Reifen auf das Gelände einer aufgegebenen Fabrik zu rasen. Jetzt trat Lara auf die Bremse, der Wagen kam schleudernd zum Stehen: „JETZT!"

Roux riß die Tür auf und ließ sich aus dem Wagen fallen. Während Lara wieder beschleunigte warf sich der Söldner hinter einem Schrotthaufen in Deckung. Gerade rechtzeitig – denn jetzt schossen die Maschinen der Biker auf das Gelände, jagten hinter dem Sportwagen her.

Roux inspizierte den Schrotthaufen, der ihm Deckung bot und hielt gleich darauf ein schweres Metallrohr in der Rechten. Dann wartete er.

Lara warf einen kurzen Blick in den Rückspiegel und registrierte, daß der Söldner ihren Anweisungen gefolgt war. Roux wußte es nicht, aber ihr Manöver diente auch dazu, ihn zu testen. Offenbar war der Söldner nicht nur schnell, er war auch nicht dumm und konnte Befehle befolgen. Nicht daß Lara ihm jetzt mehr vertraute, aber sie wußte Professionalität zu schätzen – auch bei unzuverlässigen Verbündeten und potentiellen Gegnern.

Natürlich hätte sie ihm trotzdem keine Waffe gegeben – vor allem, da sie zurzeit nicht mal selber eine zur Hand hatte. Also mußte sie improvisieren.

Da kamen die Biker. Sicherlich waren es miese Beschatter – aber ihre Maschinen beherrschten sie.

Doch Lara hatte einen entscheidenden Vorteil, sie kannte sich hier aus. Schon mit 18 hatte sie in dieser Gegend geübt – und einmal einen Wagen zu Schrott gefahren. Sie grinste zynisch.

Laras erstes Manöver war eine Neunzig-Grad-Wende, die die Biker jedoch problemlos nachvollzogen. Der erste der drei Motorradfahrer versuchte sich neben den Wagen zu setzen, in seiner Linken hielt er jetzt eine abgesägte Schrotflinte. Fast währe ihm der Versuch zum Verhängnis geworden, als der Sportwagen in eine enge Gasse zwischen zwei Gebäuden bog. Nur ein abruptes Bremsmanöver bewahrte den Biker davor, zwischen Auto und Wand zerquetscht zu werden. Aber so leicht ließ er sich nicht abhängen, binnen weniger Sekunden war er wieder an der Spitze des Trios.

Lara riß das Lenkrad herum und trat wieder auf das Gaspedal, der Wagen touchierte beinahe einen rostenden Transportcontainer, schoß dann in einem riskanten Slalomkurs zwischen den verrottenden Müll- und Schrotthaufen hindurch. Wieder versuchte der Führer des Trios, sich neben den Wagen zu setzen.

Die Grabräuberin riß ihren Wagen zur Seite, auf den Biker zu. Einen Augenblick sah es so aus, als würden die beiden Maschinen kollidieren, doch der Biker entkam noch einmal dem Tod, indem er im letzten Augenblick auswich.

Aber ein Zusammenstoß war nicht das eigentliche Ziel Laras gewesen. Stattdessen hielt sie das Steuer weiter herumgerissen, bis sie gewendet hatte, die Motorhaube auf die zwei hinteren Biker gerichtet war. Dann gab sie Gas.

Während einer der Beiden gerade noch zur Seite steuern konnte, war der andere weniger erfolgreich. Zwar wich er dem Wagen aus – doch dann rammte seine Maschine mit Höchstgeschwindigkeit in einen der alten Metallcontainer. Er hatte nicht die Spur einer Chance.

Lara riskierte wieder einen Blick in den Rückspiegel. Die beiden verbliebenen Biker setzten die Verfolgung fort – und dem Tempo nach, waren sie jetzt ziemlich wütend. Während die Maschinen aufholten, riß der Führer der Biker seine Schrotflinte hoch und feuerte.

Der erste Schuß ging daneben, der zweite ließ die Rückscheibe des Wagens zersplittern. Lara duckte sich reflexartig und lenkte den Wagen wieder zum Eingangsbereich des Fabrikgeländes. Genug gespielt, jetzt war Roux wieder an der Reihe...

Wieder schoß der Biker, die Schrotladung traf den Wagen im Heck. Lara ließ ihre Maschine schleudern und trat auf die Bremse, brachte das Auto wenige Meter vor der Fabrikwand zum Stehen und sprang heraus. Während hinter ihr das frenetische Triumphgeheul ihrer Verfolger ertönte, die sie in der Falle wähnten, warf sie sich durch eines der halb zerbrochenen Fenster ins Erdgeschoß. Ein hastig hinterhergeschickter Schuß ließ den verrottenden Fensterrahmen zersplittern.

Roux übersah die Situation. Die Biker hatten nur noch Augen für Croft. Während der eine der Beiden sich wenig elegant durch das zerborstene Fenster wuchtete, die Schrotflinte vorgestreckt, blieb der zweite Biker auf seiner Maschine und wendete, wohl um Croft den Weg abzuschneiden, falls sie durch einen Hintereingang zu entkommen versuchte.

Roux wog kurz das Metallrohr in seiner Hand und grinste häßlich. Dann rannte er los.

Der Biker hatte vielleicht die Bewegung aus den Augenwinkeln bemerkt, denn im letzten Augenblick drehte er plötzlich den Kopf – zu spät, um dem Schleudergeschoß auszuweichen. Das schwere Metallrohr traf ihn mit brutaler Wucht am Kopf, riß ihn von seiner Maschine, ließ ihn hilflos über den Boden rollen.

Der schwere Sturzhelm rettete ihm das Leben.

Automatisch griff der Biker unter die Jacke, versuchte, noch vom Sturz benommen, seine Waffe hervorzuzerren.

Ein brutaler Tritt entwaffnete ihn, dann war sein Gegner über ihm. Das letzte, was der Biker sah, waren die Augen des Mannes, dessen Hände jetzt seinen Kopf packten. Graue Augen, kalt und ausdruckslos – Mörderaugen. Dann riß ein kräftiger Ruck den Kopf des Bikers herum, irgendetwas knackte und er fiel in endlose Schwärze...

Roux musterte den Mann, dessen Genick er gebrochen hatte, ohne erkennbare Gefühlsregung. Dann hob er die Waffe auf, die er dem Biker aus der Hand getreten hatte. Eine tschechische Scorpion-Mpi, eine ebenso verbreitete wie zweckmäßige Waffe.

Dann untersuchte er hastig den Toten. Kein Ausweis, überhaupt keine Papiere. Dafür ein Stiefelmesser und im Hosenbund ein S&W 38er, ein sechsschüssiger Revolver mit kurzem Lauf. Einen Augenblick wog der Söldner diese Waffe nachdenklich in der Hand, dann verbarg er sie unter seiner Jacke. Die Scorpion in der Rechten sprang er federnd auf und rannte zu der Fabrikhalle.

Sobald Lara im Inneren des Gebäudes war, sah sie sich nach einem möglichen Versteck um. Aber hier Unten hatte sie keine Chance – die Halle war zu offen, abgesehen von einigen Abfallhaufen leer und leicht zu überblicken. Geduckt rannte sie zu einer der Treppen, die zu den Büroräumen führten.

Hinter ihr ertönte ein wüster Fluch, sie schlug einen Haken und der Schrotschuß schlug nur in der gegenüberliegenden Fabrikwand ein. Jetzt war sie bei der Treppe, hastete hinauf, während sie auf den nächsten Schuß wartete – der aber ausblieb. ‚Leergeschossen' war ihr letzter Gedanke, bevor unter ihr irgendetwas knirschend zerbrach und die wacklige Metallstiege sich abrupt zur Seite neigte.

Sie warf sich nach Vorne, doch es reichte nicht, nur mit einer Hand konnte sie den Rand des Ganges erreichen, zu dem die Treppe geführt hatte. Mit eiskalter Klarheit wurde ihr bewußt, daß sie es niemals schaffen würde, sich rechtzeitig hochzuziehen, bevor ihr Verfolger nachgeladen hatte.

Also ließ sie los.

Der Biker schob die letzte Schrotpatrone in seine Waffe. Jetzt brauchte er sich nicht mehr zu beeilen. Die Frau war abgestürzt und rührte sich nicht mehr. Sie mußte bewußtlos sein. Eigentlich hatten Sie diese Nutte nur umbringen sollen – aber jetzt konnten sie genauso gut vorher noch etwas Spaß haben.

Die Waffe immer noch im Anschlag näherte er sich der am Boden liegenden Frau. Jetzt bewegte sie sich, stöhnte, während ihre Rechte kraftlos über den Boden fuhr. Das bärtige Gesicht des Bikers verzog sich zu einem breiten Grinsen. Ja, sie würden noch Spaß haben. Nur zur Sicherheit trat er der Liegenden kräftig in die Seite. Die Frau stöhnte schmerzerfüllt auf, schien aber immer noch nicht ganz bei Bewußtsein zu sein.

„Na du Nutte – bist du schon mal richtig gefickt worden!" Er trat noch mal zu, bückte sich dann und griff ihr an die Brust.

Dann sah er – die Augen der Frau waren offen, sie sah ihn an, direkt und ohne Angst. Sein Grinsen gefror, während er die Waffe hochriss. Aber Lara hatte bereits die Schrotflinte gepackt, die Mündung der Flinte gegen die Kehle des Bikers gedrückt. Einen Augenblick rangen die beiden wortlos miteinander – dann schloss sich Laras Hand um den Abzughahn: „Fick dich selbst, Arschloch." Dann drückte sie ab.

Ein leises Geräusch ließ sie herumwirbeln. Während sie den Leichnam mit der Schulter beiseite stieß, richtete sie ihre Waffe auf die Quelle des Geräuschs – und senkte die Schrotflinte leicht: „Da sind Sie ja endlich, Roux."

„Ganz schöne Sauerei, die Sie da angerichtet haben."

„Ich mußte etwas improvisieren. Was ist mit dem Anderen?"

„Tot."

Lara stand auf: „Gibt es irgendeine Chance, daß das nur irgendwelche Idioten waren, die Sie verärgert haben?"

„Ich bin erst zwei Wochen in England. Und nein, ich habe mit keinem Bikerclub Ärger."

„Keine Feinde, die diese Idioten auf Sie angesetzt haben könnten?"

„Nein."

„Keine Feinde?"

„Keine lebenden, auch wenn diese Floskel etwas abgegriffen ist. Wie steht es mit ihren Feinden?"

Lara schüttelt den Kopf: „Momentan Fehlanzeige. Und unsere Freunde hier sind erst aufgetaucht, als wir bei Pieter waren."

„Dann will wohl jemand nicht, daß Sie – oder ich – sich dafür interessieren."

„Oder diese Söldner wollen ihre Arbeit zu Ende bringen."

„Aber das läuft ja dann wohl auf das selbe hinaus." Jean Roux grinste bei diesen Worten dünn.

„Außerdem heißt es, daß wir auf der richtigen Spur sind. Gehen wir."

„Und unsere Freunde hier?"

„Lassen Sie sie ruhig liegen. Sollen ihre Leute sich um sie kümmern. Und Roux – geben sie mir die Waffe. Sofort."

Der Söldner zuckte spöttisch mit den Schultern und reichte Lara die Scorpion: „Trauen Sie mir immer noch nicht?"

„Warum sollte ich Ihnen trauen? Weil Sie einen Biker umgelegt haben? Das beweist gar nichts. Und jetzt kommen Sie."

Allerdings nahm sie sich noch die Zeit, den toten Biker vor der Fabrik zu untersuchen. Danach warf Lara dem Söldner einen prüfenden Blick zu: „Saubere Arbeit. Nicht zum ersten Mal, nicht wahr?" Roux blieb die Antwort schuldig.

Selber Abend, Croft Manor

„Nun, was hast du herausgefunden, Bryce?"

Der Computerexperte wirkte sehr mit sich selber zufrieden, gleichzeitig aber auch irgendwie beunruhigt: „Es war nicht weiter schwierig, eigentlich. Ein paar Suchroutinen, ein bißchen Schnüffeln bei ein paar ‚Sicherheitsfirmen'...

Die Söldnerkarriere deines neuen Freundes ist ebenso lang, wie unerfreulich. Er tauchte vor reichlichen 17 Jahren im Kongo auf und diente bei irgendeiner Rangereinheit Mobutus, die Rebellen jagte. So wie die vorgingen, dagegen war My Lai eine Kleinigkeit. Blieb dort einige Jahre, während denen diese Wahnsinnigen angeblich hunderte ‚Rebellen' liquidierten. Während der Somalia-Krise hat Roux dort mitgemischt. Angeblich war er so was wie ein ‚Informant' für die UN und für die US-Truppen. Soll aber nebenher auch wacker Waffen und Drogen verschoben haben. Als er wegen seiner Pendelpolitik bei den Warlords UND den USA in Ungnade fiel, tauchte er unter. Danach war er ein paar Monate in Liberia tätig, dann wieder im Kongo. Dann soll er sich mit ein paar faschistischen Buren zusammengetan haben, die in Südafrika schwarze Politiker und weiße ‚Verräter' liquidierten. Anschließend verschwand er vor vier Jahren während irgendeinem Einsatz in Liberia von der Bildfläche und tauchte fast ein Jahr später im Kongo wieder auf. Auf der falschen Seite diesmal, jedenfalls wurde seine Truppe wohl ziemlich dezimiert. Danach hatte er die letzten Jahre nur noch kleinere Aufträge – Wachmann für Shell, Begleitschutz für eine geologische Expedition. Und so weiter. Scheint einiges von seinem Biß verloren zu haben."

Lara schüttelte kurz den Kopf, ihre Miene war finster: „Nein, das hat er nicht. Aber ich hätte mehr von ihm erwartet. Ist das alles?"

„Nein, ich dachte mir, du willst vielleicht auch etwas über Roux Zeit VOR seiner Söldnerkarriere wissen. Das war schon schwieriger, denn anscheinend hatte dein Freund vor 1987 nicht existiert.

Bis ich auf die Idee kam, daß er wenigstens Teile seines Namens geändert hat. Immerhin, ich hatte ja sein ungefähres Alter, wußte wann er in Afrika auftauchte und so...

Bingo, passende Vorgeschichte: Henry Jeanpierre Roux. Wie's aussieht fing dein Freund als Kleinganove im Elsaß an und wurde dann immer schlimmer. Aus der Armee geflogen wegen irgendeiner Drogengeschichte. Nachdem er ein Mädchen halbtot geprügelt hat, setzte er sich nach Marseille ab. Dort stieg er als Knochenbrecher bei einem Menschenschleuserring ein, der afrikanische Flüchtlinge ins Land schmuggelte. Angeblich verdienten die sich zusätzlich Geld, indem sie hübsche Mädchen ohne Verwandte an Bordelle verschoben. Die schönen Zeiten waren vorbei, als die Gendarmerie den ganzen Laden hochnahm. Roux konnte entkommen, aber die Franzosen suchen ihn immer noch – bei der Razzia gab es einen toten und drei schwerverletzte Polizisten. In Frankreich war Roux danach jedenfalls der Boden zu heiß, also setzte er sich ab und startete seine Söldnerkarriere. Ende der Geschichte."

Lara verzog abschätzig den Mund: „Na das paßt ja zu seinen Aktivitäten in Afrika."

„Und das ist Alles! Lara, der Typ ist ein Psychopath – und das einzige, was an ihm verläßlich ist, ist seine Unzuverlässigkeit. Ich weiß ja, du stehst auf böse Jungs, aber..."

„Bryce, du bist nicht meine Mutter. Jetzt wissen wir jedenfalls mehr über ihn. Ich brauche Roux, weil er nun mal ein Insider ist und sich vor Ort auskennt – nicht, weil ich ihm vertraue.

Und noch was. Typen wie Roux, ein Mann mit DER Vergangenheit – der währe nie aus eigenem Antrieb bei der Beerdigung aufgetaucht. Erst recht nicht wegen einem schlechten Gewissen. Ein Typ wie Roux kennt nur eine Loyalität – Geld. Er ist also nur deshalb hier aufgetaucht, weil er ein Geschäft will."

„Oder weil ihn jemand auf dich angesetzt hat."

„Richtig. Und das bedeutet, entweder er weiß mehr über die Sache, oder er kann uns zu jemand führen, der mehr weiß. Alles klar?"

„Es ist deine Beerdigung Lara."

Lara Croft lachte spöttisch: „Nein, Bryce. Es ist Roux Beerdigung, wenn er ein falsches Spiel spielt."