Nächster Morgen.
"Und du glaubst, das funktioniert?" Trotz einer gewissen Skepsis in ihrer Stimme, fand Lara die Idee des Söldners nicht schlecht. Wenn auch etwas verrückt. Roux zuckte mit den Schultern und klopfte müde, aber gutgelaunt, auf die Motorhaube des Jeeps, der jetzt weiß glänzte - abgesehen von der schwarzen Aufschrift 'UN' auf Front, Heck und Seiten.
"Es sollte klappen. Damit dürften wir bei den meisten Regierungsposten durchkommen. Und keiner wundert sich, wenn zwei UN-Mitarbeiter unterwegs sind."
"Aber für die Geschichte habe ich keine Papiere."
"Aber ich, Croft. Auf dem Schwarzmarkt findet man alles, was man braucht. Zwar keine Ausweise, aber ein paar gute Fotokopien von Passierscheinen und Autorisierungsdokumenten. Wenn du ein paar Dollarscheine dazu legst, reicht das. Besser jedenfalls, als Tourist zu spielen."
"Und warum gehen wir nicht als Söldner durch?" In Wirklichkeit kannte Lara die Antwort schon.
´"Weil niemand die Söldner besonders mag. Und es gibt einfach mehr UN-Mitarbeiterinnen, als weibliche Söldner." Mit diesen Worten warf Roux Lara ein blaues Beret zu, das er vermutlich auch auf dem Schwarzmarkt organisiert hatte.
Tatsächlich kamen sie gut voran. Die Straße nach Lodja war für kongolesische Verhältnisse in relativ gutem Zustand. Momentan fuhr Roux – er war offensichtlich mit derartigen Fahrzeugen durchaus vertraut. Der Söldner hielt ein hohes Tempo, vielleicht weil er wußte, dass Lara es eilig hatte. Vielleicht aber auch, weil langsam fahrende Wagen leichter überfallen wurden. Der Straßenverkehr wurde erstaunlich dünn, sobald sie von der Fernstraße nach Bukama in Richtung Lodja abbogen. Nach nur vier Stunden erreichten sie den Sankuru. Von dem am anderen Ufer gelegenen Bena Dibele würden es nur noch etwa 100 Kilometer bis Lodja sein. Und von dort waren es noch einmal etwa 140 Kilometer bis zum letzten Ausgrabungsort der Jackson-Expedition.
Bisher hatten sie erst zwei Kontrollposten der Regierung passiert und waren nicht einmal angehalten worden. Man hatte sie einfach durchgewinkt. Aber hier war das anders, die Brücke über den Sankuru wurde offenbar besser bewacht. Etwa zwanzig Soldaten hielten hier die Stellung, die aus zwei MG-Bunkern und einem Schützenpanzerwagen bestand. Trotzdem die Ausrüstung veraltet war, die Feuerkraft reichte aus, um die Brücke vor marodierenden Deserteuren und Räubern zu schützen. Der unangenehme Begleitaspekt dieser kleinen Garnison waren allerdings die verschärften Kontrollen. Vermutlich besserten die Soldaten so auch ihren kärglichen Sold auf. Lara überließ Roux das Reden. Zum einen hatte er mit solchen Situationen Erfahrung, zum anderen war es im Kongo mit der Gleichberechtigung nicht weit her.
Sie hatte Mühe dem Gespräch zu folgen, denn sowohl Roux als auch der kongolesische Offizier verwendeten ein wüstes Mischmasch aus französischen Brocken und einem einheimischen Dialekt. Ausnahmsweise schien der Söldner aus seiner kalten, wachsamen Reserviertheit herauszugehen, seine Stimme klang amüsiert, regelrecht kameradschaftlich. Lara sah, wie etliche Geldscheine den Besitzer wechselten. Der Offizier sah kurz zum Wagen hinüber, sagte irgend etwas, das Roux mit einem wiehernden Lachen quittierte, und wandte sich dann dem nächsten Fahrzeug zu, einem altersschwachen, hochbeladenen LKW.
"Wir können weiter."
"Ich weiß. Nur aus Interesse – was war denn eben so komisch?"
Der Söldner grinste: "Willst du die wortwörtliche oder die bereinigte Fassung? Sagen wir mal, er hat mir zu meiner Begleitung gratuliert."
Lara lachte kurz auf: "Danke, das genügt. Den Rest kann ich mir denken. Abgesehen davon, hast du sonst noch was erfahren?"
"In letzter Zeit ist es hier relativ ruhig gewesen. So ruhig, daß er sogar von dem Überfall auf das Camp gehört hat. Aber abseits der wichtigen Straßen soll es ein paar kleinere Überfälle gegeben haben und die Gendarmerie hat vier Leute bei einem Gefecht mit Räubern verloren."
"Also nichts Neues."
"Na ja, der letzte UN-Beobachter, der hier war, ist angeblich in einen Hinterhalt geraten und beinahe niedergemacht worden. Deshalb hat er sich gewundert, dass wir nur zu zweit unterwegs sind."
"Ich dachte, es wäre hier ruhig."
Roux grinste wieder: "Das ist der Kongo."
Trotzdem passierte nichts auf den hundert Kilometern bis Lodja. Die Brücke über den Lukenie lag im Schutz eines alten belgischen Kolonialforts, über dem jetzt die kongolesische Nationalfahne wehte. Die Stadt hatte weniger als zehntausend Einwohner, aber einen Regionalflugplatz, der allerdings in einem erbarmungswürdigen Zustand war. Momentan standen nur ein paar veraltete Hubschrauber und Verbindungsflugzeuge der Armee auf dem verwahrlosten Rollfeld und rosteten vor sich hin.
Von hier aus würden sie Feldwege und unbefestigte Pisten benützen müssen. Es würde keine echten Straßen mehr geben. Lara überlegte kurz, wieviel der Transport für Pieters Expedition gekostet haben mußte – und wieviel die spätere Verlegung des Basislagers. Wer auch immer der Geldgeber gewesen war, er hatte offenbar über beträchtliche Mittel verfügt.
Roux schien sich nicht mit solchen Gedanken aufzuhalten. Er nutzte die Gelegenheit, um die Benzinkanister und die Wasserbehälter des Jeeps noch einmal aufzufüllen. Inzwischen war es bereits Nachmittag. Sie würden die Ausgrabungsstätte wohl kaum vor Einbruch der Dunkelheit erreichen. Kurz wunderte sich Lara, dass Roux nicht den Vorschlag machte, in Lodja zu übernachten – aber der Söldner wußte wohl schon, was ihre Antwort gewesen wäre. Sie hatten einfach zu wenig Zeit, um sich eine weitere Verzögerung leisten zu können.
Die Karten, die Lara organisiert hatte, halfen jetzt nicht mehr viel. Auf ihnen waren die Wege, die sie jetzt benutzen mußten, kaum oder nur ungenau eingezeichnet. Die unbefestigten Pisten verlangsamten das Tempo, und binnen weniger Minuten war der Wagen in eine riesige Staubwolke eingehüllt. Der rotbraune, feinkörnige Staub drang durch die Ritzen im Wagen und legte sich auf Gesichter, Kleidung und Armaturen, knirschte zwischen den Zähnen.
"Wir machen genug Staub für eine Panzerkompanie." bemerkte Roux lakonisch, doch Lara sparte sich die Antwort. Auch der Söldner war nicht sehr redselig. Trotz der Stoßdämpfer wurde der Wagen kräftig durchgeschüttelt. Jedes Gespräch barg das Risiko, sich die eigene Zungenspitze ab zubeißen.
Sie waren kaum dreißig Kilometer weit gekommen, als es das erste Hindernis gab. Auf den meisten Karten hatte der Zufluß des Lukenie, der ihnen den Weg versperrte, nicht mal einen Namen. Der Strom war hier weit weniger als hundert Meter breit. Angeblich sollte es eine Brücke geben, doch von der waren nur noch die Pfeiler übriggeblieben. Anstatt dessen lag eine altersschwache Kabelfähre am Ufer, kaum groß genug, um ein halbes Dutzend Personenwagen oder vier LKW aufzunehmen.
Momentan warteten hier etwa vierzig Menschen und zwei uralte LKW auf die Überfahrt. Die Fähre war bereits beladen, doch nichts an Bord deutete darauf hin, dass sie sich bald in Bewegung setzen würde. Die zweiköpfige Besatzung schien neben der maroden Maschinenanlage eine Pause zu machen.
All das nahm Lara mit einem schnellen Blick war. Keiner der Wartenden reagierte irgendwie auf den weißen Jeep mit dem UN-Abzeichen, von ein paar neugierigen Blicken einmal abgesehen. Geschickt lenkte sie den Wagen über die wacklige Laderampe an Bord.
"Glaubst du, die brauchen Hilfe bei der Maschine?"
Roux schnaubte verächtlich: "Ich glaube nicht, dass die so dämlich sind, dass sie unsere Hilfe brauchen. Vermutlich wollen sie einfach etwas Geld herauspressen. Wir sind da die idealen Opfer. Noch besser wär's nur, wenn wir Touristen wären."
"Die fünfzig Dollar kann ich entbehren."
Roux grinste kurz: "Sag lieber hundert. Sie werden uns nämlich auf der Rückfahrt genauso abkassieren wollen. Biete ihnen erst mal zehn und..." Der Söldner hielt abrupt inne und stieß halblaut einen Fluch zwischen den Zähnen hervor. Lara folgte seinem Blick, und erkannte, was den Söldner beunruhigte: zwischen den Bauern und Händlern, die geduldig auf die Überfahrt warteten, hockte eine kleine Gruppe Bewaffneter.
"Roux?"
"Das sind keine regulären Soldaten."
Lara beobachtete die vier Gestalten genauer. Zwar waren sie einheitlich gekleidet, trugen Tarnuniformen, Stiefel und rote Berets, aber Soldaten waren das wohl wirklich nicht. Dazu waren sie zu klein, zu schmächtig. Es waren Kinder, drei Jungen und ein Mädchen, keiner von ihnen älter als vierzehn.
"Aber das sind ja noch..."
Roux schüttelte den Kopf. Seine Stimme klang leise, angespannt: "Nein, keine Kinder. Das sind Kindersoldaten. Verfluchte Scheiße. Wahrscheinlich Deserteure." Der Söldner sah Lara kurz an: "Du bleibst beim Wagen, verstanden? Ich regele das." Sie hatte keine Zeit, sich über seinen befehlenden Ton zu ärgern, denn nun marschierte Roux schnurstracks und selbstsicher zu der Mannschaft der Fähre. Binnen kurzem war er sich mit ihnen handelseinig. Seltsamerweise wollten sie offenbar nicht einmal feilschen. Lara sah, dass Roux diesmal nicht mit Dollars, sondern mit einheimischer Währung bezahlte. Während sich die Besatzung der Fähre jetzt mit Feuereifer an die "Reparatur" der Maschinenanlage machte, baute sich Roux vor den vier Kindern auf, salutierte lässig und schüttelte dem ältesten der Jungen enthusiastisch die Hand. Lara verstand nicht, was er sagte, aber der Junge erhob sich und klopfte dem vorgeblichen UN-Offizier auf die Schulter und lachte.
Die beiden anderen Jungen und das Mädchen blieben sitzen, reglos, die AK's lässig über den Knien. Sie schienen dem Gespräch zu lauschen, auf ihren Gesichtern eine seltsam unkindliche Ausdruckslosigkeit. Nur einmal sagte einer der anderen Jungen etwas, während er auf den Wagen und Lara deutete. Die ganze Gruppe brach in schallendes Gelächter aus, auch Roux – doch irgendetwas an seiner Stimme klang falsch, künstlich.
Während sie darauf achtete, daß der Wagen ihre Bewegungen verdeckte, öffnete Lara unauffällig ihre Pistolentasche.
Und als die Fähre sich langsam vom Ufer löste, bemerkte sie, dass die anderen Passagiere ihrem Blick auswichen, wie sie es auch vermieden, in Richtung der vier Kinder zu blicken. Nur einmal sah einer der Besatzungsmitglieder Lara direkt an. In seinem Blick lag keine Neugier, auch keine Feindseligkeit. Nur Angst.
Auch Roux hatte vorhin beunruhigt, vorsichtig, alarmiert geklungen. Seine Fröhlichkeit und Jovialität waren nur vorgetäuscht. Er schien sich nicht sicher gewesen zu sein, was er von den Kindern erwarten sollte – als könne die Situation jeden Augenblick eskalieren, ohne triftigen Grund oder Anlaß.
Befürchtete er einen Überfall? Aber momentan schienen die Kindersoldaten keine Gefahr darzustellen. Und Lara traute sich selber und Roux zu, im Notfall schnell genug reagieren zu können. Dennoch verschwand das Gefühl der Bedrohung nicht, sondern wurde stärker, während die Fähre langsam über den Fluß kroch. Unauffällig ließ sie die Augen wandern, suchte nach der Gefahr, während der Söldner lautstark und scheinbar amüsiert mit den Kindersoldaten parlierte. Und sie fand sie.
Roux bemerkte die Bewegung nur aus den Augenwinkeln. Unauffällig sah er zu Lara hinüber, die scheinbar gelangweilt und abwartend am Jeep lehnte. Doch um ihren Mund lag ein harter, wachsamer Zug und während er sie anblickte, winkte sie ihm wieder zu. Es war nur eine knappe, verstohlene Geste, aber Roux fühlte, wie sich die Anspannung in ihm verdichtete. Mit einer eher halbherzigen Entschuldigung ließ er die vier Bewaffneten zurück und stand im nächsten Augenblick neben Lara. Seine Stimme war nur ein flüstern: "Was..."
"Anlegestelle. Zwanzig Meter Rechts und Links." In Laras Worten lag pures Eis. Roux erkannte den Ausdruck in ihren Augen, hatte ihn schon oft gesehen – kurz vor einem Angriff.
Sein Blick folgte der Richtung, die sie ihm gewiesen hatte. Dann sah er sie, zu beiden Seiten der Straße, verborgen in dem hohen, vertrockneten Gras. Mindestens fünfzehn, zwanzig Mann lagen dort, Maschinenpistolen und Gewehre im Anschlag. Ein perfekter Hinterhalt.
"Glaubst du, sie warten auf uns, Roux?"
"Auf uns persönlich – nein. Aber wir sind genau die Beute, die sie wollen."
"Und was wollen sie?"
"Lösegeld. Und was meinst du, wird die UN für uns zahlen?"
"Können wir..."
"Nein, Croft. Denen willst du nicht in die Hände fallen." Immer noch flüsterte Roux, aber bei diesen Worten schwang etwas in seiner Stimme mit, das Lara aufblicken ließ. Der Söldner hatte Angst. Angst vor dem Schicksal, das sie bei einer Gefangennahme erwartete.
"Wir kappen uns ab." Sie hatte keine Wahl, sie mußte Roux Urteil vertrauen. Und das bedeutete, sie würden kämpfen müssen. Jetzt. Gegen die vier Kindersoldaten an Bord der Fähre hatten sie eine Chance. Gegen zwanzig Kämpfer, die im Hinterhalt lauerten, hatten sie keine.
Unauffällig schob sich Lara auf die Maschinenanlage zu, die die Fähre über den Fluß zog. Sie war noch keine fünf Schritt weit gekommen, als plötzlich zwei der Kindersoldaten auftauchten und ihr den Weg versperrten. Alarmiert bemerkte sie, dass irgendetwas mit den beiden nicht stimmte. Ihre Augen wirkten unnatürlich geweitet, die Pupillen gelblich. Sie schwitzten beide, trotzdem die größte Hitze des Tages vorbei war. Und auf ihren Gesichtern lag immer noch diese unheimliche, halb abwesende Ausdruckslosigkeit. Sie mußten unter Drogen stehen, vielleicht bis auf ihren Anführer. Und der hatte sich jetzt vor Roux aufgebaut und überschüttete ihn mit auf einmal feindselig klingender Stimme mit einem Wortschwall, von dem Lara nur die Hälfte verstand.
Die Beiden, die Lara den Weg verstellten, hielten ihre Waffen gesenkt – noch.
"Was willst du? Was habt ihr geredet?" Das Französisch des Mädchens war schlecht. In ihrer hohen Stimme klang ein Mißtrauen mit, an dem nichts kindlich war. "Wohin gehst du!" Und dann sah Lara, dass die rechte Hand des Jungen langsam zum Abzug seiner Waffe wanderte...
Sie hatte keine Zeit mehr, sich mit Roux abzustimmen, keine Zeit mehr ihr Vorgehen genauer zu planen. Der Junge sah den Angriff nicht kommen. Er hatte die Waffe noch nicht einmal halb erhoben, als Lara ihm mit der offenen rechten Hand seitlich gegen den Kopf schlug. Der Hieb war nicht einmal besonders wuchtig, raubte dem Jungen aber das Gleichgewicht. Seine Waffe fiel zu Boden, er taumelte zur Seite, während Lara den Arm herum riß und das Mädchen mit einem Rückhandschlag im Gesicht traf. Ein schneller Sicheltritt und ein kräftiger Schwinger ließen die Kindersoldatin wie eine Puppe über das Deck fliegen und schleuderten sie über Bord. Ein, zwei Schritte brachten Lara zu der Maschinenanlage der Kabelfähre. Rüde stieß sie den Matrosen beiseite, der nicht schnell genug aus dem Weg sprang, und riß den Steuerhebel zurück. Die Fähre verlor schlagartig an Fahrt, als die Seilwinde stockte und anfing, im Rückwärtsgang zu arbeiten. Lara wirbelte herum.
Roux war von der Plötzlichkeit überrascht worden, mit der Lara zugeschlagen hatte. Dennoch reagierte er schneller als die beiden Kindersoldaten, die vor ihm standen. Rücksichtslos rammte er dem kaum vierzehnjährigen Anführer den linken Handteller ins Gesicht. Mit einem dumpfen Knirschen brach das Nasenbein des Jungen, trieb der Hieb Knochensplitter in das Gehirn. Der Junge starb, ohne zu wissen, was ihm geschah. Gleichzeitig hatte der Söldner nach seiner Pistolentasche gelangt, riß die Makarov-Pistole heraus und schoß – einmal, zweimal, scheinbar ohne zielen. Die Dumdum-Geschosse zerfetzten Brust und Hals seines zweiten Gegners, der bereits tot war, bevor der Körper zu Boden sackte.
All das war so schnell geschehen, dass keiner der Besatzung oder der Passagiere reagieren, geschweige denn eingreifen konnte. Jetzt aber brandeten Schreie auf, entstand Panik. Ein, zwei Leute wurden über Bord geschleudert, ohne das irgend jemand es bemerkte, auf ihre Schreie achtete. Und keiner sah, wie die Bewaffneten, die bisher im Hinterhalt gelegen hatten, sich jetzt aus ihrer Deckung erhoben.
In der entstehenden Panik hatte Lara Mühe, den Überblick zu behalten. Sie sah nur, daß Roux offenbar seine Gegner ausgeschaltet hatte. Die Fähre hatte gestoppt, begann sich jetzt langsam rückwärts zu bewegen. Sie konnten es schaffen...
Kurz teilte sich die Menge der panisch zwischen der Decksfracht und den Wagen hin- und herwogenden Passagiere, und Lara sah sich dem Jungen gegenüber, den sie eben erst entwaffnet hatte. Er schwankte immer noch, hatte seine Kalaschnikov verloren. Doch während er sie hasserfüllt anstarrte und mit sich überschlagender Stimme anbrüllte, sah Lara, dass er eine Handgranate in den Händen hielt – und den Sicherheitsring abriß. Sie handelte automatisch, ohne zu denken, stieß dem Jungen die gestreckte Hand in den Hals und drückte ihm so den Kehlkopf ein. Der Kopf des Jungen flog nach hinten, sein Griff lockerte sich. Lara riß ihm die Granate aus den krampfhaft zuckenden Händen und schleuderte sie über Bord.
Als sie begriff, was sie getan hatte, hätte sie beinahe aufgeschrien vor Entsetzen. Der Junge war noch nicht einmal dreizehn gewesen, ein Kind noch – und sie hatte ihn getötet. Fast war sie dankbar, dass die panischen Schreie der Passagiere sein Röcheln übertönten. Und dann brach wirklich die Hölle los.
Die Explosion der Handgranate unmittelbar neben dem Schiff hatte die Panik komplett gemacht. Und außerdem hatte sie die Bewaffneten am Ufer endgültig davon überzeugt, dass ihr ursprünglicher Plan fehlgeschlagen war. Schlagartig und fast gleichzeitig eröffneten sie das Feuer. Mehr als ein Dutzend automatischer Handfeuerwaffen spien Tod und Verderben. Menschen an Bord der Fähre wurden von den Garben förmlich in Stücke gehackt und über das Deck geschleudert. Verwundete und Kinder wurden niedergetrampelt, während die Passagiere verzweifelt nach einem Schutz suchten, oder in ihrer Panik über Bord sprangen, in das schlammige Wasser des Flusses, das von Querschlägen und schlecht gezielten Schüssen aufgewirbelt wurde und sich binnen Sekunden blutig färbte.
Lara hatte sich geistesgegenwärtig zu Boden geworfen, als vom Ufer aus das Feuer eröffnet wurde. Unter einem der LKW an Deck hatte sie Deckung gefunden, wie auch einige Zivilisten. Die Bordwände und die Wagen boten etwas Schutz vor den Kugeln, doch mindestens ein Dutzend Menschen – Unschuldige – lagen tot, sterbend oder schwer verwundet auf dem Deck, das sich von ihrem Blut rötete. Mit zusammengebissenen Zähnen kroch Lara vorwärts, schob eine vor Schmerzen wimmernde Frau an den Platz unter dem LKW, den die Grabräuberin eben verlassen hatte. Während über ihr die Kugeln in die Aufbauten und die Karosserie der Lastkraftwagen einschlugen, schob sie sich über das Deck, zwischen Toten und den verstreuten Habseligkeiten hindurch – hin zu der Waffe, die dem Jungen gehört hatte, den sie getötet hatte. Ihre Pistolen waren momentan wenig wert. Sie griff nach der Kalaschnikov – und fühlte, wie irgendetwas sie am Fuß berührte. Halb war sie bereits mit der Waffe im Anschlag herum, als sie erkannte, dass es Roux war. Er zog die Waffen hinter sich her, die er wohl von seinen Gegnern erbeutet hatte. Offenbar hatte er sich sogar Zeit genommen, den Leichen die Ersatzmagazine abzunehmen, die sie an ihren Gürteln trugen.
Die Stimme des Söldners klang abgehackt: "Alles klar?"
Lara fluchte nur, hob die Waffe über die Bordwand und feuerte ohne zu Zielen in Richtung Westufer. Der Söldner tat es ihr gleich, und tatsächlich wurde der Beschuß etwas schwächer, während ihre Gegner hastig Deckung suchten.
"Wenn sie keine..." Das Aufbrüllen einer Explosion übertönte die Worte des Söldners. Unmittelbar neben der Bordwand der Fähre schoß eine Wassersäule in die Höhe und überschüttete Lara und Roux mit dem schmutzigen, hellbraunen Flußwasser. Der Söldner fluchte gotteslästerlich, richtete sich halb auf – und wäre im nächsten Augenblick beinahe halbiert worden, als die Feuergarbe eines leichten Maschinengewehrs über das Deck hämmerte.
"RAKETENWERFER! RPG-7! VERFLUCHTE SCHWEINE!"
Lara sparrte sich eine Antwort, sondern kroch ein paar Meter weiter. Durch die Löcher, die der Beschuß in die Bordwand gerissen hatte, suchte sie das feindliche Ufer ab. Wo war der Schütze – da!
"ROUX – FEUERSCHUTZ!" Der Söldner reagierte sofort, indem er die beiden erbeuteten Waffen über die Reeling hielt und auf Dauerfeuer schaltete. Binnen weniger Sekunden leerte er die Magazine, ohne etwas zu treffen – aber das war auch nicht seine Absicht gewesen. Für einen kurzen Augenblick waren die feindlichen Schützen abgelenkt, suchten Deckung oder richteten ihr Feuer auf die Stelle, an der sie Roux vermuteten. Und diese paar Sekunden reichten Lara.
Blitzschnell richtete sie sich auf, die Waffe bereits an der Schulter, während ihre linke Hand fast automatisch den Feuermodus der Waffe auf Salvenfeuer stellte. Kurz visierte sie den PRG-Schützen an, der am Ufer kniete und gerade eine neue Rakete in das Rohr schob. Zwei kurze Salven aus Laras Waffe wirbelten den Mann herum und warfen ihn in den Sand. Sofort ging Lara wieder in Deckung, während sich das gegnerische Schützenfeuer wieder auf sie konzentrierte – um eine Sekunde zu spät.
Währenddessen hatte die Maschinenanlage der Kabelfähre unbeirrbar weiter gearbeitet und zog das Schiff langsam aber stetig mit sich, weg von dem Ufer, von dem aus sie beschossen wurde. Nur noch fünfzehn, zwanzig Schritt... Geduckt hastete Lara zu Roux hinüber, der seine Waffen neu geladen hatte und mit kurzen, ungezielten Feuerstößen versuchte, den Feind niederzuhalten. Keiner der beiden konnte sehen, daß einer ihrer Gegner vorstürmte und sich hinter dem gefallenen Raketenschützen zu Boden warf, die Waffe aufnahm, die dem Toten aus den Händen geglitten war.
"ROUX! SOBALD WIR AM UFER SIND, MUSST DU DEN WAGEN..." Der Söldner erfuhr nie, was Lara ihm hatte befehlen wollen, denn mit einmal schien die unsichtbare Faust eines Riesen die Fähre zu packen. Von der Druckwelle der Explosion erfasst, krachte Roux gegen die Reeling.
Er konnte nur Sekunden bewußtlos gewesen sein, als ihn irgendetwas an der Schulter packte und brutal durchrüttelte, ihn aus der Dunkelheit riß, die ihn kurz umfangen hatte. Halb über ihn gebeugt kniete Lara, das Gesicht blutverschmiert und zerschlagen. Während sie ihn wütend schüttelte, bewegte sich ihr Mund, doch Roux hatte Schwierigkeiten, sie zu verstehen – die Explosion hatte ihn halb taub gemacht. Lara deutete auf die Maschinenanlage der Kabelfähre, die nur noch ein qualmender Trümmerhaufen war. Jetzt wirkte das Führungskabel der Fähre nur noch wie eine Angelschnur, hielt das Schiff fest. Mit wütend gefletschten Zähnen riß Lara eine ihrer Pistolen heraus und kappte mit zwei Schüssen das Stahlseil. Schwerfällig trieb die Fähre flussabwärts. Driftete langsam auf das Westufer zu, an dem die Schützen warteten – die jetzt johlend aufsprangen und flußabwärts rannten, ihre Waffen triumphierend in der Luft schwenkend.
Ihre Siegeszuversicht erhielt allerdings einen Dämpfer, als der Söldner sich kurz aufrichtete und mit einem langen Feuerstoß die ersten vier Verfolger niedermähte. Während die Überlebenden hastig Deckung suchten, eröffneten sie wieder das Feuer.
Im nächsten Augenblick ging ein Ruck durch die Fähre, der Lara beinahe von den Beinen holte. Mit einem dumpfen, schleifenden Knirschen drehte sich das Schiff um sich selbst und blieb, das Deck leicht geneigt, reglos liegen. Sie waren, fast in der Mitte des Stroms, auf eine Sandbank aufgelaufen.
Roux presste sich gegen die Reeling und tauschte einen kurzen, fast resignierten Blick mit Lara. Sie beide wussten, ihre Stellung war nicht zu halten. Jetzt saßen sie fest. Spätestens wenn ihnen die Munition ausging würde es kein Entrinnen mehr geben – wenn der Feind nicht schon vorher auf die Idee kam, das Schiff zu versenken, und mit dem Raketenwerfer auf den Rumpf zu zielen begann.
"Wir müssen hier runter, Croft."
"Ich weiß. Am besten ist, wir schwimmen, lassen uns noch ein Stück flussabwärts treiben."
"Na schön. Sobald du im Wasser bist, mußt du tauchen – und ändere unter Wasser deine Richtung, damit..."
"Ich mache das nicht zum ersten Mal, Roux."
Der Söldner sah sie kurz an und grinste verzerrt: "Das hab ich mir irgendwie gedacht, Croft. Also los geht's!"
"Warte. Was ist mit denen?" Lara deutete auf die Zivilisten, die sich immer noch auf der Fähre befanden, sich flach auf den Boden pressten, oder unter den LKW lagen: "Was machen die mit ihnen?"
Der Söldner zögerte kurz, seine Stimme klang rau: "Sie werden sie töten."
"Das lasse ich nicht zu."
"Bist du verrückt, Croft! Wir können nichts tun! Ich weiß nicht mal, ob wir uns selber retten können!"
"Wir müssen ihnen Zeit geben, von Bord zu gehen. Wir geben ihnen Feuerschutz. Such bei den toten Kindersoldaten nach – vielleicht haben die noch Handgranaten bei sich. Und sag den Zivilisten, daß sie schwimmen werden müssen."
"Du bist doch bescheuert! Wir..."
"TU ES!" Laras Stimme duldete keinen Widerspruch – und tatsächlich schob ihr der Söldner seine Waffen und Munitionsstreifen zu, wandte sich ohne ein weiteres Wort des Protestes um und rannte geduckt zu den Passagieren. Lara überprüfte die Waffen. Sie hatten zusammen drei russische Schnellfeuerwaffen, noch etwa einhundert Schuß Munition – und ihre Pistolen. Das würde nicht lange reichen. Das gegnerische Schützenfeuer hatte nachgelassen, der Feind verschwendete keine Rakete mehr auf die sicher scheinende Beute. Lara beschränkte sich auf kurze, sporadische Feuerstöße, die dem Gegner vor allem demonstrieren sollten, daß man an Bord der Fähre noch über genug Munition verfügte.
"Croft."
Sie drehte sich zu Roux um, der lautlos wieder hinter ihr aufgetaucht war.
"Sie wissen Bescheid – und auf mein Zeichen werden sie ins Wasser gehen. Es sind nur etwa vierzig Meter bis zum Ostufer. Und dann habe ich das hier gefunden." Der Söldner hielt zwei Handgranaten in den Händen – und die kleinen Metallflaschen, in denen das Benzin für den Kocher aufbewahrt wurde. Der Söldner lächelte dünn: " Wie weit kannst du werfen?"
Lara spähte vorsichtig zum westlichen Ufer hinüber, wo ihre Gegner im hohen, trockenen Gras in Deckung gegangen waren und zur Zeit nur sporadisch feuerten: "Weit genug. Die Benzinflaschen dürften reichen. Gute Idee."
"Danke." Das klang recht lakonisch, während Roux die Verschlüsse der Flaschen zerschlug, aus dem Hemd eines Toten lange Stofffetzen riss, sie mit Benzin tränkte und um die Öffnungen der Flaschen wickelte. Er kniete sich neben Lara hinter die Reeling und reichte ihr eine der Flaschen. Roux grinste zynisch: "Entschuldigen Sie, haben Sie mal Feuer für mich?" "Was für eine uralte Anmache." bemerkte Lara amüsiert, während sie ein Sturmfeuerzeug aus der Tasche angelte. Binnen Sekunden hatte sie die benzingetränkten Lappen entzündet. Jetzt wieder ernst, nickte der Söldner ihr knapp zu: "Los."
Beide handelten fast synchron, richteten sich halb auf, und schleuderten die Brandflaschen mit der Zielsicherheit und Souveränität jahrelanger Erfahrung. Die feindlichen Schützen reagierten zu langsam. Als sie das Feuer eröffneten, lagen Lara und Roux bereits wieder hinter der Reeling in Deckung – und die Benzinbomben explodierten in einem zweifachen Feuerball. Binnen Sekunden setzten sie das trockene Gras in Brand, loderten Flammen auf, die die Bewaffneten schreiend aus ihrer Deckung flüchten ließen. Während sie um ihr Leben rannten, hatte sich Roux bereits wieder aufgerichtet und nahm kaltblütig die Flüchtenden aufs Korn. Dann drehte er kurz den Kopf zu den Zivilisten, die immer noch an Bord der Fähre waren: "RUNTER VOM SCHIFF! ES GEHT LOS! VITE, VITE, VITE!" Während die Männer, Frauen und Kinder über Bord sprangen, lehrte der Söldner das Magazin seiner Waffe, traf jeder der kurzen Feuerstöße einen der flüchtenden Feinde. Lara war inzwischen zu ihrem zerlöcherten Jeep gerannt. Sie riß die Rucksäcke und eine der Ausrüstungstaschen heraus – das würde reichen. Den Rest mußten sie zurücklassen. Binnen Sekunden war sie wieder bei Roux, der eine der AK's über Bord warf, sich die zweite umhängte und die dritte Lara reichte: "Das war's. Hauen wir ab." Er deutete auf das östliche Ufer des Flusses, das die ersten der Zivilisten schon fast erreicht hatten.
"Ja – aber wir schwimmen zum Westufer."
"WAS!"
"Es sind nicht mal mehr einhundert Kilometer bis zur Ausgrabungsstelle. Ich bin nicht so weit gekommen, um jetzt einfach umzudrehen."
"Bist du verrückt, Croft! Diese Arschlöcher da drüben warten nur auf uns."
"Wenn wir es geschickt anstellen, dann merken sie nicht mal, dass wir auf ihrer Seite des Flusses landen. Und sie werden nie auf die Idee kommen, dass wir das tun könnten."
"Allerdings – weil es Selbstmord ist!" "Ich gehe. Du kannst machen was du willst. Du mußt nicht mitkommen." Während dieser Worte griff Lara nach ihrem Rucksack. Bis zum Ufer waren es nur knapp sechszig Meter, aber sie würde sich ein Stück weit treiben lassen. Prüfend wog sie den Rucksack. Er war aus wasserabweisenden Materialen, aber nicht gerade leicht. Kurzentschlossen streifte sie das Hemd ab, um besser schwimmen zu können. Weil Roux ihr eine Antwort schuldig blieb, blickte sie auf. Der Söldner starrte sie an – und nicht nur aus Überraschung über ihren Entschluß, zum Westufer zu schwimmen. Schlagartig wurde ihr bewußt, dass sie halbnackt war. Roux musterte sie offen, mit mehr als nur professionellem Interesse. Unwillkürlich mußte sie grinsen und schlug ihm blitzschnell mit der flachen Hand gegen die Stirn: "Heb dir den Gedanken für später auf." Dann packte sie ihren Rucksack und ließ sich über Bord fallen. Sie verschwand sofort unter der Wasseroberfläche. Erst eine volle Minute später sah Roux ihren Kopf flußabwärts für ein paar Sekunden wieder auftauchen, nur um sofort wieder zu verschwinden. Der Söldner schüttelte den Kopf, eine seltsame Mischung aus Bewunderung und Frustration auf dem Gesicht: "Wahnsinn." Dann sprang er selber in das schlammige Wasser des Flusses.
Ungefähr zwei Meilen flussabwärts sah er dann am Land etwas aufblitzen, was er für ein Signal hielt und schwamm ans Ufer. Die Grabräuberin wartete bereits auf ihn. Offenbar war sie erheblich schneller vorangekommen, denn sie hatte die Zeit genutzt, eine fast trockene Tarnkombination aus ihrem Rucksack anzuziehen, und studierte nun die in Plastikfolie eingeschweißten Karten der Gegend: "In etwa acht Kilometer Entfernung gibt es ein größeres Dorf. Das könnten wir heute noch erreichen. Vielleicht finden wir dort auch ein Fahrzeug. Bist du fit für einen kleinen Marsch?" Der Söldner überprüfte die erbeutete AK und spuckte das dunkelbraune Flusswasser aus, das nach Schlamm, Fäulnis und Abwässern schmeckte: "Du hast immer noch die Führung, Croft. Und ob sie uns am Ufer oder woanders abknallen, ist ja auch egal."
"Deine Zuversicht ist einfach ermutigend."
"Nach allem, was ich von der Gegend hier gehört habe, gab es in dieser Gegend mal ein Entwicklungsprojekt. Sie wollten hier Reis anbauen. Das war noch unter Mobutu. Jedenfalls, natürlich wurde nichts draus. Ein Großteil des Gelds verschwand in den Taschen der Bürokratie und der Bürgerkrieg gab dem ganzen den Rest. Was übrig blieb, sind Kilometer nutzloser Bewässerungskanäle und ein verdammter Sumpf. Wenn wir direkt zur Ausgrabungsstelle weiter wollen, gibt es mehrere Meilen lang nur einen Weg. Wenn diese Arschlöcher uns immer noch suchen..."
"Dann würde ich an deiner Stelle hoffen, daß unsere Freunde eben nicht die selbe Idee haben. Komm schon, wir vertrödeln nur Zeit."
Der Söldner ließ es sich nicht nehmen, mit einem lakonischen "Zum Sterben kommt man nie zu spät." zu kontern, folgte dann aber dennoch der Grabräuberin.
Es dunkelte bereits, als sie die Ortschaft erreichten. Aber das war ihnen recht. Zwar herrschte im Kongo Bürgerkrieg – doch zwei Weiße, ein Mann und eine Frau, in Tarnuniformen, sichtlich zerschlagen und schwer bewaffnet, waren auch hier kein alltäglicher Anblick. Der Besitzer des kleinen, fast ausgestorben wirkenden Weghotels am Rande der Siedlung sah jedenfalls aus, als hätte er Geister gesehen. Doch einhundert Dollar überzeugten ihn, diese ungewöhnlichen Gäste am besten nicht weiter zu beachten. Die Zimmer waren noch heruntergekommener, als bei dem Portugiesen in Kananga, doch keiner der beiden beschwerte sich, sie waren einfach zu erschöpft. Lara brachte nicht einmal die Energie auf, bei Bryce anzurufen. Sie war hundemüde. Kaum hatte sie sich, noch halb angezogen, auf das schmale Bett fallen lassen, da war sie auch schon eingeschlafen.
Der Schrei war gedämpft, schien entfernt, und schnitt dennoch durch Laras tiefen, traumlosen Schlaf wie ein Messer. Im nächsten Augenblick war sie auf den Beinen, griff nach der Kalaschnikov, die neben ihrem Bett lag. Diesmal war keine Täuschung möglich – und der Schrei kam aus Roux Zimmer, ein einziges Wort nur: "NON!"
Die Waffe im Anschlag stieß sie die Tür auf und stürmte in das Zimmer des Söldners. Während ihre Augen nach der Bedrohung suchte, folgte der Lauf der AK ihrem Blick. Doch es gab keinen Feind. Nur Roux, der sich im Bett halb aufgerichtet hatte und mit verzerrtem Gesicht ins Leere zu starren schien. Entsetzen und nackte Angst lagen in seinen Augen.
Überrascht ließ sie die Waffe sinken: "Jean?" Es fiel gar nicht auf, dass sie den Vornamen des Söldners benutzte, und
Roux schien sie nicht einmal zu hören. Reflexartig fuhren seine Hände über sein Gesicht, als wollte er irgendetwas wegwischen. Dann erst, nach einigen Sekunden, schien er zu sich zu kommen, blickte er sie an – und sie wäre beinahe zurückgewichen. Denn jetzt blitze nur Wut und wahlloser Hass in den Augen des Söldners: "Was zum Teufel machst du hier, verdammt!"
"Du hast geschrien..." Sie wunderte sich selber über ihren defensiven Ton.
"Das geht dich einen Scheißdreck an, Croft. Raus! VERPISS DICH! Ich brauche keine Hilfe – von NIEMANDEM! Ich habe es nicht nötig, mich zu rechtfertigen! GEH ZUM TEUFEL!"
Am liebsten hätte sie ihm ins Gesicht geschlagen, doch momentan war Roux offenbar in der Stimmung, um eine ernsthafte Prügelei anzufangen – oder gleich nach der Waffe zu greifen. Wie ein verletztes Tier schien er bereit, wahllos um sich zu schlagen. Also wich sie zurück, und schloß die Tür hinter sich. Mit dem Söldner war momentan nicht zu reden, sie ließ ihn besser alleine. Zum Teufel mit ihm. Kurz glaubte sie aus seinem Zimmer noch ein dumpfes, fast schmerzhaftes Stöhnen zu hören, aber sie wandte sich nicht um. Mit den Geistern seiner Vergangenheit wollte Roux offenbar alleine fertig werden. Und sie war verdammt noch mal nicht dazu da, ihm die Hand zu halten, dachte Lara vrärgert.
Nachdenklich kehrte sie in ihr Zimmer zurück. Sie hatte schon vorher gemerkt, daß Roux offenbar irgend etwas mit sich herumschleppte, was ihn nicht losließ – und es mußte seinen Ursprung irgendwo an einem der Orte haben, an denen der Söldner gedient hatte. ' Das engt die Wahl allerdings nur unwesentlich ein – irgendwo zwischen Somalia und dem Kongo!' Sie hätte zu gerne gewußt, was ausgerechnet einem Mann wie Roux den Schlaf rauben konnte – einem Mann, der mit Menschen gehandelt hatte und für den Mord ein Geschäft war.
Das gedämpfte Piepsen des Satellitentelefons unterbrach ihre Gedanken. Lara runzelte die Stirn. Sie hatte Bryce ausdrücklich darauf hingewiesen, dass der Kontakt von ihr ausgehen sollte. Warum rief er jetzt, mitten in der Nacht, an? Mit einem vagen Gefühl drohenden Unheils griff sie nach dem Hörer: "Bryce?"
"Lara – ist alles in Ordnung? Warum hast du nicht angerufen?"
"Wir mußten unseren Jeep zurücklassen, den Weg freischießen und ein paar Meilen schwimmen. Ansonsten ist nichts passiert. Roux scheint zur Zeit irgendwie neben sich, aber wir alle haben wohl Anrecht auf unsere kleinen Geheimnisse..."
"Der ist immer noch bei dir?"
"Natürlich. Ich brauche ihn noch. Warum zum Teufel willst du mich jetzt sprechen – hier haben wir es gerade zwei Uhr."
"Lara, verdammt – DU MUSST MIR ZUHÖREN! Ich habe noch mal diesen Söldner durchgecheckt – alles, was wir von ihm wissen. Ich bin sogar in den Zentralcomputer der französischen Polizei rein. Roux war vorbestraft."
"Na und? Das fällt ja wohl kaum ins Gewicht bei seiner Karriere."
"Lara! Die haben dort noch seine Fingerabdrücke! Ich meine, die Fingerabdrücke von Jean Roux. Ich hab sie mit denen verglichen, die ich in dem Zimmer finden konnte, in dem er hier gewohnt hat. Lara, wer auch immer das ist bei dir – ES IST AUF KEINEN FALL JEAN ROUX!" Sie ließ überrascht den Hörer sinken, während ihre Gedanken rasten. Er war nicht...
Und dann bemerkte sie, daß die Tür ihres Raumes immer noch offen war – und das jemand davor stand, schon halb in ihrem Zimmer.
"Croft..."
