Drei Tage später, am Oberlauf des Lulua, etwa vierzig Kilometer nordwestlich von Luebo
In der Zeit seiner militärischen Nutzung durch die Belgier hatte das Kolonialfort eine Kompanie der Force Publique, einheimischen Söldnern unter belgischen Offizieren, beherbergt. Nach der Unabhängigkeit war die kongolesische Gendarmerie eingezogen und hatte die Gebäude bis in die Achtziger genutzt. Dann war der heruntergekommene Posten aufgegeben worden. Ein paar Jahre hatten die Gebäude leer gestanden und waren noch weiter verfallen. Dann hatte, warum auch immer, Marcel Renart die Anlage übernommen. Ein Teil der Gebäude war instand gesetzt worden, die alte Mauer wurde mit einer Krone aus Natodraht versehen. Und das waren nicht die einzigen Sicherheitsvorkehrungen. Auf einem Hügel gelegen, hatten die Wachposten des Forts einen guten Blick auf die flache, von einzelnen Baumgruppen übersäte Ebene ringsum. Aber so wachsam auch ihre Augen die Umgebung absuchten, sie wussten nicht, dass sie ihrerseits beobachtet wurden.
Das Versteck war gut gewählt. In einer der kleinen Baumgruppen war ein schmaler Graben angelegt, und mit zwei Tarnnetzen, Blättern, Zweigen und Gras getarnt worden. Man musste praktisch über das Versteck stolpern, um es zu finden. Gleichzeitig aber konnten die Insassen immer noch das Fort und die schmale Zufahrtsstraße im Auge behalten. Auf der dem alten Kolonialfort abgewandten Seite der Baumgruppe hatte Roux eine Art Tunnel durch das dichte Unterholz geschnitten, über den man das Versteck ungesehen verlassen konnte. Wie er lakonisch bemerkte, hatte die Legion im französischen Indochinakrieg auf die harte Tour erfahren müssen, welche Bedeutung Tarnung im Kampf hatte. Und die Fremdenlegion hatte diese Lektion eines Krieges, der sie mehr als zehntausend Tote gekostet hatte, auch nach fünfzig Jahren nicht vergessen.
Inzwischen verfügten Lara und Roux neben den zwei erbeuteten AK-47 noch über zwei tschechische Scorpion-Mpi's mit Schalldämpfern, ein russisches Dragunov-Scharfschützengewehr, Handgranaten und Semtex. Und Lara hatte es geschafft, binnen zwei Tagen eine Lieferung zu organisieren, die unter anderem eine Wärmebildkamera, Panzerkleidung, einen Hochfrequenz-Empfänger und anderes Observationsgerät umfasste, was Roux zu der Bemerkung veranlasste, dass sie als Hobby-Archäologin ihr Potential verschwende. Mit diesen Verbindungen könne sie in Afrika ein Vermögen verdienen. Waffen könne jeder besorgen – solches Material hingegen…
Lara antwortete nur, dass es nicht ihr Lebensziel sei, ein Vermögen zu verdienen – erst recht nicht mit solchen Geschäften.
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Momentan hatte Lara Wache. Sie lag so bequem wie es ging auf dem Bauch, weigerte sich, sich von der brütenden Hitze beeinträchtigen zu lassen und beobachtete das in der Mittagshitze wie ausgestorben wirkende Kolonialfort, den alten, amerikanischen Huey, der auf dem Hubschrauberlandeplatz stand, die zwei russischen LKW und die japanischen und amerikanischen Geländewagen, die vor dem Hauptgebäude standen. Gelegentlich nahm sie einen Schluck Wasser aus einer Feldflasche.
Roux saß nur ein paar Schritte entfernt, die Füße angezogen, mit dem Rücken gegen die Grabenwand gelehnt. Wie Lara schien ihm die Hitze relativ wenig auszumachen. Neben ihm lag auf einem Tuch seine zerlegte Makarov. Ohne hinzusehen, mit automatischen, routinierten Bewegungen säuberte er die Einzelteile der Waffe. Seine Gedanken waren nicht bei der Arbeit: „Vier Wachen tagsüber, zwei am Tor und zwei auf Patrouille. Nachts sind es mindestens sechs Mann. Wieder zwei am Tor, und vier auf Patrouille. Und sie haben Hunde dabei."
„Das weiß ich."
„Gehen wir davon aus, dass noch mindestens zwei weitere Mann in einem der Gebäude Wache schieben. Bei drei Wachschichten pro Nacht… Das ist ein ziemlich straffer Dienstplan. Renart ist wachsam."
Lara verzog den Mund kurz abfällig: „Vielleicht hat ihm jemand einen Tipp gegeben."
„Wenn Jalouzet uns verraten hätte, dann würde sich Renart nicht mit verschärften Wachen begnügen. Er würde in die Offensive gehen. Und zuallererst würde er das Grasland hier anzünden – hier kann sich eine ganze Armee verbergen. Oder zum Beispiel ein Scharfschütze."
„Dein Vertrauen in deinen Ex-Capitaine ist bewundernswert."
„Das hat mit Vertrauen nichts zu tun."
„Vielleicht hat Renart noch andere Feinde als uns. Falls er überhaupt hier ist. Bisher macht er sich jedenfalls rar."
„Unsere Freunde werden nicht grundlos die Anlage derart gut überwachen. Und…Krueger ist auf jeden Fall hier." Sie beide hatten den südafrikanischen Söldner erkannt, der offenbar die Wachtruppen befehligte. Krueger achtete anscheinend auf die strikte Einhaltung des Dienstplans, auf eine militärische Zucht und Ordnung.
„Wenn du willst, Croft – von hier aus kann ich den verdammten Afrikaander problemlos einen Kopfschuss verpassen. Und du kannst das ja wohl auch. Wenn dir das reicht…" Roux klang fast enthusiastisch. Sie war sich nicht ganz sicher, ob das daran lag, dass er Krueger unbedingt tot sehen wollte. Oder auch daran, dass sie beide sich nach einer solchen Aktion würden absetzen müssen.
„Nein. Nein, das wäre nicht genug. Krueger ist nur ein Handlanger. Nur ein Werkzeug. Ich will Renart. Und ich will ihn nicht aus fünfhundert Meter Entfernung eine Kugel in den Kopf jagen. Ich will ihn LEBEND."
„Du bist verrückt." Das klang allerdings eher – resigniert. „Vergessen wir mal die Wachen und die Hunde. Da wären auch noch die Mauer und der Stacheldraht. Nun ja, dass ist kein großes Problem. Aber vorher müssen wir den Hang überwinden. Ich hab ihn mir angesehen. Mit Stolperdraht auslösbare Leuchtraketen und Schützenminen. Ostdeutsches Fabrikat, veraltet aber wirksam. Glaub mir, da kenne ich mich aus. Ich glaube schon, dass wir das schaffen könnten – wenn wir genug Zeit haben. Die haben wir aber nicht, die Wachen patrouillieren in zu kurzen Abständen. Wir hätten vielleicht zwei Minuten. Das ist zu wenig. Vergiss nicht die Hunde. Und selbst wenn wir es hineinschaffen, wir wissen immer noch nicht, wo Renart sich aufhält. Ihn ungesehen rauszuschaffen…
Und sobald sein Verschwinden bemerkt wird, was meinst du, was sie dann machen werden? Der nächste Gendarmerieposten ist nur acht Kilometer entfernt. Der nächste Armeestützpunkt fünfzehn. Willst du bei den Blauhelmen um Asyl bitten? Die haben hier nur ein Krankenhaus und ein paar Techniker. Und außerdem fast fünfundzwanzig Kilometer entfernt. Das sind ziemlich schlechte Chancen."
„Ich will nichts über meine Chancen hören. Nach denen wäre ich schon lange tot. Und du auch."
„Du WIRST tot sein, wenn du dich auf dein verdammtes Glück verlassen willst."
„Habe ich das gesagt? Aber es gibt einen Weg. Es gibt immer einen Weg."
Der Söldner grinste düster: „Fragt sich nur, wo der hinführt."
„Sei still, ich muss nachdenken." Überraschenderweise kam Roux dieser Aufforderung nach. Die Waffe war jetzt wieder zusammengesetzt. Mit einem leisen Klicken rastete das Magazin ein. Dann stand er auf und hob seinen eigenen Feldstecher an die Augen, ließ sie über die feindliche Stellung schweifen. Eigentlich war das alte Kolonialfort eine ziemliche Mausefalle und entsprach keineswegs den Anforderungen der modernen Kriegführung. Nicht einmal der Guerillakriegführung. Die Mauer und die Gebäude bestanden zwar aus massivem Stein. Aber sie boten dennoch keinen ausreichenden Schutz gegen Raketen- und Granatwerfer, oder rückstoßfreie Geschütze. Und im Fort selber hatte er bisher keine schwereren Kaliber als ein paar Maschinengewehre und Unterlaufgranatwerfer Kaliber 40mm gesehen. Andererseits… Wenn das stimmte, was er von Renart wusste, dann war es besser, davon auszugehen, dass dieser sein Rattennest mit ein paar betonverstärkten, unterirdischen Bunkern versehen hatte und in der Waffenkammer zumindest ein paar RPG-7 und leichte Mörser standen. Und wenn…
In diesem Moment fühlte er mehr, als dass er es sah, wie Lara zusammenzuckte, einen Fluch unterdrückte. Und dann hörte er auch, was sie alarmiert hatte: das Dröhnen von Motoren. Auf der Straße, die zu der alten Kolonialfestung führte, rollte eine ganze Fahrzeugkolonne heran. Zwei LKWS und ein halbes Dutzend Humvees, leicht gepanzerte Jeeps mit aufmontierten Maschinengewehren. Die Wagen waren voll besetzt, auch auf den LKWS schienen Bewaffnete zu sitzen. Roux biss die Zähne zusammen. Das konnte doch nicht wahr sein! Wenn jetzt…
Aber die Wachposten im Fort hatten die Kolonne offenbar bereits bemerkt und sie schienen sie erwartet zu haben. Während die Posten das Tor aufrissen, stürzten die übrigen Männer der Garnison aus ihren Quartieren, formierten sich in Doppelreihe wie zu einem Appell. Schnell zählte Roux die Angetretenen – mit den Wachposten waren es zweiunddreißig Mann, neun Weiße und dreiundzwanzig Schwarze.
Inzwischen hatte die Fahrzeugkolonne den Fuß des Hügels erreicht. Die Posten am Tor salutierten, während die Fahrzeuge an ihnen vorbei rollten.
„Was glaubst du, was das soll?"
„Renart. Was würde sonst so gut bewacht werden? Höchstens noch Diamanten."
Inzwischen hielten die Humvees und die zwei LKWS auf dem Appellplatz. Bewaffnete sprangen heraus, formierten sich um eine einzelne Gestalt in einem weißen Anzug, die aus einem der Humvees stieg. Es war Renart.
Lara stieß fast zischend die Luft aus, während sie die Vergrößerung ihres Fernglases regulierte. Kein Zweifel. Er hielt sich sehr aufrecht, seine Haltung schien das weiße Haar und die tiefen Falten in seinem Gesicht Lügen zu strafen. Darin ähnelte er auf unheimliche Weise Ex-Capitaine Jalouzet, auch wenn der niemals so elegante Kleidung zu tragen schien. Renart schritt die angetretenen Reihen seiner Soldaten ab, wie ein Befehlshaber und alt gedienter Offizier. Der er ja in gewisser Weise auch war, auch wenn er nie in einem konventionellen Krieg Dienst geleistet hatte.
Roux griff nach dem Dragunov-Scharfschützengewehr – und zögerte. Er konnte Renart jetzt töten. Es wäre ein schwieriger Schuss, aber er traute es sich zu. Aber er würde nicht schießen. Nicht jetzt. Mit einem wütenden Blick hinüber zu Lara und einem lautlosen Fluch setzte er die Waffe ab. Sie schien es nicht einmal zu bemerken. Inzwischen war Renarts Inspektion offenbar zu Ende. Nach ein paar kurzen Worten zu Krueger verschwand Renart in einem der Gebäude. Die Bewaffneten verteilten sich. Aber jetzt waren nicht mehr zweiunddreißig Mann in dem Fort, sondern fast siebzig, ungefähr zwanzig davon weiße Söldner.
„Das ist das ganze verdammte Hyänenrudel. Und etwa ein Viertel seiner übrigen Truppen."
„Ich kann auch zählen. Entweder Renart leidet unter Verfolgungswahn…"
„Oder er plant einen verdammten Krieg."
Lara blickte auf: „Kann er das?"
„Mit Kruegers Haufen und einem halben Hundert gut ausgebildeter Schwarzer? Damit kann er die ganze verdammte Armee eines Warlords zerschlagen. Kindersoldaten, Marodeure, Räuber – wie lange, glaubst du, kann so ein Haufen RICHTIGEN Soldaten widerstehen?"
„Nicht sehr lange… Warte. Da ist er wieder." Tatsächlich hatte Renart das Gebäude verlassen, in dem er vorhin verschwunden war. Vier Bewaffnete schirmten ihn ab. Dennoch konnte Lara erkennen, dass Renart diesmal einen kleinen Metallkoffer trug. Neben ihm marschierte Piet Krueger und ein vielleicht fünfundzwanzigjähriger, hagerer Bursche mit strohblondem Haar, der ungewöhnlich jung wirkte – die anderen weißen Söldner waren allesamt bereits in den Dreißigern oder älter. Dennoch redete Renart anscheinend eindringlich auf den jungen Mann ein, und überreichte ihm schließlich den Metallkoffer, den der Bursche mit einem fast übertrieben zackig wirkenden Salut übernahm. Nur am Rande ihres Bewusstseins bemerkte Lara, dass Roux ebenfalls sein Fernglas an die Augen hob. Und erstarrte.
„SALE BOCHE!"
Sie glaubte, Roux inzwischen gut zu kennen, sogar sehr gut für einen Mann, dem sie das erste Mal vor etwa zwei Wochen begegnet war. Sie hatte ihn wütend erlebt und verzweifelt und voller Verachtung gegenüber sich selbst. Sie hatte gehört, wie seine Stimme unter Stress und Anspannung klang. Aber noch nie zuvor hatte in seiner Stimme soviel grenzenloser Hass und mörderische Wut gelegen. Roux hatte sich halb aufgerichtet, sein Gesicht war verzerrt. Mit einer jähen, abgehackt wirkenden Bewegung riss er das Dragunov hoch, während er es gleichzeitig einen Munitionsstreifen in die Kammer rammte. Er legte an – und Lara stieß ihm ihre Faust in den Rippenbogen. Der Schlag war kräftig und zielsicher, riss den Söldner halb herum und warf ihn in den Graben zurück. Einen Augenblick lang glaubte Lara, Roux würde das Gewehr jetzt auf sie richten. Aber stattdessen schleuderte er es nur zur Seite.
„Was zum Teufel ist los mit dir, Roux? Bist du völlig verrückt geworden?"
„Robert. Der Mann neben Renart. Das war Robert." Die Stimme des Söldners klang erstickt – auch, weil ihm nach Laras Schlag der Atem fehlte.
„Was…" Doch dann erinnerte sie sich. Einer der Söldner, die zusammen mit Roux die Ausgrabungsstelle gesichert hatten, hatte so geheißen. Und sie begriff.
„Er hat…"
„Er hat uns verraten. Diese miese kleine Ratte hat uns ans Messer geliefert. Daher wussten sie über unsere Sicherheitsvorkehrung bescheid. Darum… Dieser verdammte Verräter!" Roux hob das Fernglas, seine Handknöchel waren weiß vor Anspannung. Sein Atem klang fast keuchend, während er beobachtete, wie sein ehemaliger Kamerad in einen der Humvees stieg und losfuhr: „Das war sein letzter Fehler. Er ist ein toter Mann." Jetzt plötzlich klang seine Stimme wieder ruhig – und eiskalt. Er hob das Dragunov auf und schob sich zu dem Ausgang des Verstecks.
„Was hast du vor, verdammt?"
„Wenn dieser Hund nicht gewesen wäre… Sie könnten alle noch leben. Meine Männer. Die Zivilisten. Männer, Frauen… Es war meine Verantwortung, Croft. Meine. Ich habe ihn angeheuert. Meine Schuld. Und es ist meine Rache."
„Roux, verdammt – ROUX!" Aber der Söldner beachtete sie nicht mehr, kroch einfach weiter. Lara schätzte kurz ihre Chancen ein, und wandte sich dann mit einem Fluch ab. Vermutlich hätte sie Roux zusammenschlagen müssen, um ihn aufzuhalten. Falls das gereicht hätte. Für vernünftige Argumente war er jedenfalls nicht mehr zugänglich. Außerdem konnte sie ihn in gewissem Sinne auch verstehen. Jetzt konnte sie nur noch hoffen, dass dieser verdammte Söldner nicht die ganze Operation gefährdete. Kurz spielte sie mit dem Gedanken, Roux zu folgen – nein. Sie würde ihm ganz bestimmt nicht hinterherlaufen. Außerdem war dieser Idiot ja wohl alt genug, um auf sich selber aufzupassen.
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Robert Anjou fuhr schnell, fast riskant. Der leicht gepanzerte Humvee wirbelte auf der nicht asphaltierten Straße eine gigantische Staubfahne auf. Während der junge Söldner mit der rechten Hand lenkte, ruhte seine Linke geistesabwesend auf dem Metallkoffer, der auf dem Beifahrersitz lag. Er wusste, was sich in dem Koffer befand – oder glaubte es jedenfalls zu wissen. Außerdem wusste er auch, warum Renart ihn ausgewählt hatte, und nicht einen von Kruegers Söldnern. Renart traute Piet Kruegers Haufen nicht vollständig, gerade bei DIESEM Geschäft. Robert hingegen war zurzeit auf Renart angewiesen - weitaus mehr, als dies für das Hyänenrudel galt. Und deshalb hatte Renart ihn ausgewählt. Das war Piet Krueger natürlich nicht recht gewesen, zumal der Südafrikaner Robert verabscheute. Kurz verzerrte sich Roberts Mund zu einem abschätzigen Grinsen. Krueger warf ihm idiotischerweise vor, schlechte Arbeit geleistet zu haben – das stimmte natürlich nicht. Es war schließlich nicht seine Schuld gewesen, dass Krueger bei dem Angriff auf die Ausgrabungsstelle fünf Männer verloren hatte und weitere acht verwundet worden waren. Das hatte der Afrikaander sich selber zuzuschreiben. Er war einfach zu selbstsicher gewesen. Und es war noch idiotischer, dass Krueger ihm gleichzeitig noch vorzuwerfen schien, dass er überhaupt Informationen geliefert hatte. Der Südafrikaner prahlte gerne damit, wie viele ‚Buschaffen' er schon erledigt hatte, gab an mit Strafexpeditionen und ‚Terroristenjagden' an. Aber aus irgendeinem Grund hielt dieser versoffene Söldner es für den Gipfel der Niedertracht, dass Robert sich erst von der archäologischen Expedition hatte anheuern lassen und dann dem ‚Hyänenrudel' bei seinem Angriff geholfen hatte. Was für ein Heuchler! Aber das war eigentlich egal. In ein paar Tagen würde Robert dieses Land für immer verlassen – mit genug Geld, um ein Leben zu leben, wie es sich Söldnerseelen vom Schlage eines Piet Krueger oder Jean Roux nicht einmal erträumen konnten. In ein paar Tagen…
Während diese Gedanken durch Robert Anjous Kopf flogen, beobachteten kalte, graublaue Augen den Wagen. Der Beobachter hob langsam das Dragunov, in einer ruhigen, fließenden Bewegung, die jahrelange Übung verriet. Er zielte nur kurz, ließ den Gewehrlauf der Bewegung des Wagens folgen. Dann atmete er leicht aus, wie man es ihm beigebracht hatte – und drückte ab.
Für Robert Anjou kam der Angriff völlig überraschend. Ein brutaler Schlag traf den Wagen – der Humvee geriet ins Schleudern, wurde förmlich von der Straße katapultiert und überschlug sich. Nur die Tatsache, dass er sich angeschnallt hatte, rettete Robert das Leben.
Als er wieder zu sich kam, hing er kopfüber im Sicherheitsgurt. Sein ganzer Körper schmerzte, der linke Arm schien regelrecht in Flammen zu stehen und war unnatürlich verdreht. Er nahm die Umgebung nur verschwommen war. Was hatte den Wagen getroffen? War das vorhin ein Schuss gewesen? Wieso ein Schuss? Ein Geräusch ließ ihn langsam, mühsam den Kopf wenden. Durch das zersplitterte Seitenfenster sah er schwere Schnürstiefel. Man würde ihn retten! Dann packten ihn raue Hände an der Schulter, zerrten an ihm. Der Schmerz war unerträglich, kurz wurde ihm schwarz vor den Augen.
Als er sie wieder öffnete, starrte ihn das Gesicht eines Toten an. Das ergab keinen Sinn: „Was…"
„Hallo, Robert. Du hast Pech gehabt. Pech, weil du noch lebst." Auch die Stimme war die eines Toten - kalt, gefühllos.
„Das kann nicht sein…"
„So kommst du nicht davon, sale traitre." Jean Roux streckte die Hand aus und packte Roberts gebrochenen Arm. Ein gellender Schrei ertönte, und Robert begriff, dass er selber es war, der schrie – schrie, und schrie, während der Schmerz durch seinen ganzen Körper raste. Diesmal gab es keine gnädige Ohnmacht. Nur den Schmerz. Nach einer Ewigkeit der Agonie endete es und Roberts Schrei verebbte zu einem gequälten Aufschluchzen. Das Gesicht seines Peinigers blieb ungerührt. Da war keine Freude, oder Genugtuung. Auch kein Hass – überhaupt kein Gefühl. Und genauso emotionslos war seine Stimme: „Es gibt Dinge, die ich erfahren muss. Dinge, die du weißt, Robert. Ich frage, und du antwortest. Tust du das nicht, wirst du leiden. So einfach ist das."
„Bitte…nein, Jean. Du kannst doch nicht – kannst nicht… Ich brauche einen Arzt! Bitte, hab doch Mitleid. Meine Mutter…"
„Hätte dich bei deiner Geburt erwürgen sollen." Roux hob seine Hand, schien wieder nach der Schulter greifen zu wollen.
„Warte! Der Koffer! Hol den Koffer – er ist ein Vermögen wert! Du kannst reich werden, reich…"
„Zu spät."
Eine dreiviertel Stunde später war es vorbei. Jean Roux kniete am Boden, neben sich den nun leblosen Körper Robert Anjous, seines ehemaligen Kameraden. Mit langsamen, methodisch wirkenden Bewegungen säuberte der Söldner seine blutverschmierten Hände und die Klinge des Kommandomessers. Der Söldner fragte sich, ob er jetzt Erleichterung fühlen sollte, vielleicht sogar so etwas wie Genugtuung. Aber er empfand nur Selbstekel. Der Verräter war tot. Aber das änderte nichts. Und war er selber denn besser als Robert? Er kannte die Antwort.
Schwerfällig stand Roux auf und ging zu dem Fahrzeugwrack. Nach kurzem Suchen hielt er den Metallkoffer in den Händen, von dem Robert geglaubt hatte, dass er sich mit seinem Inhalt das Leben hätte erkaufen können. Der Junge hatte sich geirrt. Roux hatte aus Robert alles herausgeholt, was er in der kurzen Zeit hatte erfahren können. Aber dennoch hatte er ein ungutes Gefühl. Er war kein ausgebildeter Verhörspezialist. Irgendetwas…fehlte. Was er erfahren hatte, würde ihr Vorgehen wahrscheinlich erleichtern, doch auch die Antworten, die er erhalten hatte, weckten keine Freude in ihm. Nur Verbitterung. Und Wut auf sich selbst. Aber er würde seine verdammte Pflicht tun. Wie immer. Das war das einzige, was ihm jetzt noch geblieben war, was ihn vielleicht noch von Männern wie Renart, Krueger oder Robert unterschied. Wenn überhaupt. Ohne noch einmal zurückzublicken, wandte sich Jean Roux ab. Um den Leichnam würden sich die Aasfresser kümmern. Hier gab es nichts mehr für ihn zu tun.
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Ungefähr um diese Zeit in Kananga
Ex-Capitaine Pierre Jalouzet klappte sein Mobiltelefon zusammen und erlaubte sich ein dünnes Lächeln. Die Entscheidung war also gefallen, das Warten endlich vorbei: „Ordonanz! In fünf Minuten, Antreten der gesamten Einheit auf dem Hof!"
„Jawohl, mon Capitaine!"
Fünf Minuten später stand der ehemalige Offizier der Fremdenlegion auf dem Hof des Gebäudekomplexes, der ‚Faucon', Jalouzets ‚Sicherheitsfirma', als Hauptquartier diente. Achtundzwanzig Mann waren angetreten, alle in grünbraunen Tarnuniformen, mit dunkelgrünen Berets, die Ak-74 quer vor der Brust. Dies waren alles ausgewählte, handverlesene Kämpfer – Jalouzet hatte schon immer lieber auf Qualität als auf Quantität gesetzt. Einundzwanzig schwarze Soldaten, alles ehemalige Mitglieder der Spezialeinheiten der kongolesischen Streitkräfte: Fallschirmjäger und Ranger. Die übrigen Männer – zwei Russen, ein Pole, ein Marokkaner, ein Franzose, ein Argentinier und ein Belgier – hatten schon in der Fremdenlegion unter Jalouzet gedient. Er wusste, dass er sich auf alle seine Leute verlassen konnte – aber diesen sieben Männern hätte er auch sein Leben anvertraut. Und er hatte dies auch schon ein paar Mal getan.
„Soldaten, ich brauche Freiwillige…" Die ganze Einheit trat wie EIN Mann einen Schritt nach vorne. Dies war ein alter Brauch der Fremdenlegion. Wenn ein Kommandant einen Freiwilligen verlangte, meldete sich die gesamte Einheit, noch bevor der Offizier erklärt hatte, worin der Auftrag bestand.
Jalouzet nickte leicht. Er hatte sich nicht getäuscht in seinen Männern, ob nun weiß oder schwarz. Während er die ausdruckslosen Gesichter der Angetretenen musterte, rief er die Männer auf, die den Auftrag durchführen würden:
„Kalimba! Jacques! Navarre! Ivanov! Rodriguez!..." Neben den sieben ehemaligen Fremdenlegionären würden zehn weitere seiner Männer an dem Einsatz teilnehmen.
„In einer halben Stunde rücken wir ab. Wir nehmen den Jeep, den Humvee und einen der LKW's. Bewegt euch!"
Tatsächlich waren sie bereits nach zwanzig Minuten abmarschbereit. Zu den AK's kamen zwei RPDM-Maschinengewehre, zwei PRG-7-Raketenwerfer und eine Stinger-Lenkwaffe. Das sorgte denn doch für einige überraschte Blicke – nur wenige von Jalouzets Männern wussten überhaupt, dass so eine Waffe zu ihrem Arsenal gehörte.
„Was haben Sie vor, mon capitaine? Wollen Sie eine Verkehrsmaschine abschießen?" Es war Rodriguez, der gefragt hatte. Jalouzet schüttelte knapp den Kopf: „Du fragst zu viel, caporal."
„Aber was sollen wir denn nun machen? Irgendwann werden wir es schließlich erfahren müssen, mon capitaine. Wollen Sie die Nationalbank ausräumen?"
„Was soll ich mit wertlosem Papiergeld? Und was wir machen? Wir gehen ins Kino!" Auch dies war ein Legionärsausdruck – die Bezeichnung für das, was man in anderen Streitkräften ein ‚Himmelfahrtskommando' nannte. Der argentinische Ex-Legionär fragte nicht weiter.
Ein paar Minuten später verließen die drei Wagen den Hof. Pierre Jalouzet fühlte, wie sich sein Mund zu einem dünnen, grausamen Lächeln verzog, als er jene besondere Anspannung vor dem Kampf in sich aufsteigen fühlte, die ihn alles klarer, lebendiger sehen und fühlen ließ. Von dem LKW wehten ein paar Liedfetzen herüber: „War einer deutschen Mutter Sohn/ der ging zur Fremdenlegion/ Französisch lernt' er nicht verstehn/ aber Arschficken und Zigaretten drehn!"
Jalouzet lachte jäh auf. Sie zogen wieder in den Krieg.
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Zwei Stunden später, außerhalb des ehemaligen Kolonialforts
Mit einer Mischung aus Wut, Frustration und auch ein wenig Sorge hatte Lara auf Jean Roux gewartet. Sie ließ sich nicht gerne die Initiative aus den Händen nehmen. Auch nicht von Leuten, die, nun ja WAHRSCHEINLICH, auf ihrer Seite standen. Außerdem, was war, wenn Roux mit seinem Rachetripp Renart vorwarnte?
In dem alten Kolonialfort herrschte jetzt weitestgehend Ruhe. Die Soldaten waren in den Mannschaftsquartieren untergebracht, ihre Wagen bei den bereits vorhandenen Fahrzeugen abgestellt worden. Nur noch die Patrouillen und Torposten waren zu sehen und versahen ihre eintönige Pflicht – möglicherweise jetzt noch etwas wachsamer als vorher.
Obwohl sie darauf gewartet hatte, zuckte sie doch kurz zusammen, als sich Roux fast lautlos in das Versteck schob. Sie hatte gar nicht bemerkt, wie er sich genähert hatte – sie wurde wohl langsam nachlässig. Auf den ersten Blick schien der Söldner unverletzt. Aber irgendetwas stimmte nicht mit seinen Augen. Waren sie sonst schon meist ausdruckslos, wirkten sie jetzt völlig leblos und tot.
„Was ist mit…"
„Tot. Er ist tot. Wenn du immer noch an Renart ran willst, wir haben diese Nacht. Mehr nicht. Morgen wird Renart wissen, dass es Robert erwischt hat."
„Bist du sicher, dass er das erst Morgen weiß? Es gibt so was wie Mobiltelefone."
„Ich bin sicher. Renart hatte strikte Weisung gegeben – kein Funkkontakt, kein Telefongespräch. Robert…hat es mir gesagt." Lara begriff – und dann sah sie am Handgelenk des Söldners einige kleine, dunkle Flecke. Das sah aus wie getrocknetes Blut. Sie fühlte, wie Eckel und Abscheu in ihr aufstiegen. Aber sie sagte nichts dazu, es hatte keinen Sinn. Ihre Stimme klang sehr kalt, fast schneidend: „Was noch, Roux? Was hat er noch…gesagt?"
Der Söldner sah sie an, öffnete den Mund, wie um etwas zu sagen, stockte. Er wandte den Kopf ab, dann berichtete er mit ausdrucksloser Stimme. Offenbar hatte er aus seinem ehemaligen Kameraden fast alles herausgeholt, was der wusste. Lara wollte lieber gar nicht darüber nachdenken, wie der Söldner Robert zum Sprechen gebracht hatte.
Renart wohnte offenbar in einem bestimmten Gebäude, das nicht nur über hervorragende Sicherheitsanlagen verfügte, sondern darüber hinaus noch über einen eigenen Bunker, der wahrscheinlich dem direkten Treffer einer Fünfzehn-Zentimeter-Granate standhalten konnte. Außerdem hielten sich immer mindestens zwei Leibwächter in seiner Nähe auf. Selbst für die unsicheren Verhältnisse die im Kongo herrschten und für Renarts Beruf wirkten diese Sicherheitsvorkehrungen etwas paranoid. Erstaunlicherweise schilderte Roux diese Fakten kommentarlos. Er machte nicht einmal mehr den Versuch, Lara den Zugriff auszureden – als wäre es ihm jetzt gleichgültig.
„Wenn du es durchziehen willst – wir haben nicht mehr viel Zeit."
„Es ist noch nicht mal Achtzehn Uhr. Wenn wir rangehen, dann nicht vor Ein Uhr Nachts. Wir haben also noch gut sieben Stunden. Das reicht. Ich habe sowieso schon ein paar Ideen…"
„Wie kommen wir über den Hang?"
„Mit einer Leiter."
„EINER LEITER?"
„Das nötige Material können wir uns bei der UNO-Station organisieren. Wir brauchen Metallstangen, etwa fünf bis sieben Fuß lang, die man aneinander schrauben kann. So können wir den Hang überwinden. Und die Mauer. Wenn wir schnell sind, und leise…"
„Und wie willst du dann wieder wegkommen? Ich nehme mal nicht an, dass du deine ‚Leiter' stehen lassen willst – dass würde selbst den dümmsten Wachen auffallen, und Renarts Leute sind weder dumm, noch blind."
„Wir organisieren ein Ablenkungsmanöver, um unseren Rückzug zu decken. Wir haben genug Sprengstoff, um ein Kriegsschiff zu versenken. Wenn ein paar Ladungen an der richtigen Stelle losgehen, dürfte das für genug Wirbel sorgen."
Der Söldner nickte. Aber sein Gesicht blieb starr, fast maskenhaft: „Sprengladung im Fort, oder außerhalb?"
„Am Besten Beides."
„Na schön. Aber dann bleiben immer noch die Sicherheitsanlagen bei Renarts Quartier, und seine Leibwächter."
„Um die Schlösse und die Sensoren kümmere ich mich. Und was die Leibwächter betrifft – einen für jeden von uns."
Roux nickte knapp. Fast sah es so aus, als wollte er noch etwas hinzufügen. Aber dann wandte er sich einfach nur um. Mit ruhigen, methodischen Handbewegungen überprüfte er Ausrüstungen und Waffen, bereitete ein halbes Dutzend Sprengladungen vor. Sorgfältig, behutsam drückte er die Zündkapseln in den Plastiksprengstoff. Er schien völlig auf seine Arbeit konzentriert und sah auch nicht auf, als sich diesmal Lara aus dem Versteck schob.
Natürlich konnte er sie nicht täuschen, sie wusste genau, dass er einfach nicht mit ihr sprechen wollte. Aber das war ihr auch Recht so. War sie sich vorher nicht ganz sicher gewesen, was sie genau für ihn empfinden sollte, jetzt wusste sie es. Ihr war von Anfang klar gewesen, dass Roux Menschen getötet hatte. Aber im Kampf zu töten, das war das eine – einen Mann zu foltern und ihn dann zu ermorden, das war etwas anderes. Sogar einen Mann wie Robert. Das wollte sie jedenfalls glauben. Sie würde diesen einen Einsatz mit Roux durchziehen. Und dann würde sie ihn auszahlen und zum Teufel jagen. Einem Menschen, der zu so etwas fähig war, konnte sie nicht trauen, durfte sie nicht trauen. Noch weniger konnte sie…
Vielleicht hatte Jean Roux vor Jahren in Ruanda noch so etwas wie Gewissensbisse und Skrupel empfunden. Aber das war jetzt offenbar vorbei. Und ihr selber war in diesen paar Tagen im Kongo schon zu vieles selbstverständlich geworden, was nicht selbstverständlich sein durfte. Sie musste eine Linie ziehen. Oder sie würde werden wie Roux, wie Robert, wie Krueger, Jalouzet oder Renart.
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Sieben Stunden später
Dass heute Nacht Neumond herrschte, hatte Lara natürlich nicht voraus planen können, aber es kam ihr entgegen. Natürlich hatten die Wachposten Nachtsichtgeräte, wahrscheinlich aus Armee-Beständen, aber es waren relativ altmodische Modelle, die die Augen rasch ermüdeten. Deshalb würden die Wachposten sie immer nur zeitweilig aufsetzen, oder wenn sie Verdacht schöpften. Das größte Problem waren also die Hunde.
Roux und Lara waren beide in dunkle Tarnanzüge gehüllt, deren Muster sie fast vollständig mit der Umgebung verschmelzen ließ. Darunter trugen sie beide leichte Panzerwesten. Ihre Gesichter waren geschwärzt. Sie beide hatten ihre Kleidung zusätzlich mit einer Paste eingeschmiert, die Roux aus einigen Pflanzen hergestellt hatte. Laut dem Söldner würde dies den Körpergeruch überdecken und die Hunde irreführen. Lara war gerne bereit, ihm das zu glauben. Es stank widerlich. Hoffentlich würden die Wachen sie nicht durch den Geruch bemerken.
An den Füßen trugen sie leichte Schuhe mit weicher Sohle. Beide waren nur leicht bewaffnet, mit Pistolen, Scorpion-Mpi's und Kommandomessern. Alle Metallteile, sogar die Messerklingen, waren ebenfalls geschwärzt worden. Jeder trug außerdem ein paar Handgranaten und Sprengladungen. An Laras Tarnkombination war zusätzlich noch ein handliches Einbruchsset befestigt. Sie hatten moderne Nachtsichtgeräte und außerdem Sprechfunkgeräte mit Kehlkopfmikrofonen. Der sperrigste Teil der Ausrüstung waren die Metallstangen, die Lara tatsächlich hatte beschaffen können. Sie hatte sie nicht etwa gestohlen, sondern einfach einem einheimischen Mitarbeiter der UN fünfhundert Dollar angeboten. Der Rest war kein Problem gewesen.
„Alles klar?" Laras Stimme klang leise und ausdruckslos.
„Ja. Lara…" Der Söldner hielt inne, schien nach Worten zu suchen. Aber sie würde es ihm bestimmt nicht einfacher machen: „Was ist?"
Er zögerte, dann schüttelte er leicht den Kopf: „Nichts."
Sie nickte knapp und kroch ins Freie, die Metallstangen vor sich herschiebend. Der Söldner sah ihr hinterher. Kurz verzerrte sich sein Gesicht, dann war es wieder ruhig und emotionslos. Schweigend folgte er der Grabräuberin.
Sobald sie das Versteck verließen, trennten sie sich. Während Lara beinahe direkt den Punkt der Anhöhe ansteuerte, an dem sie in das Fort eindringen wollten, schlug der ehemalige Fremdenlegionär einen Bogen, schlich am Fuß des Hügels entlang und postierte an zwei, drei Stellen kleine, etwa faustgroße Päckchen. Die Sprengladungen würden ferngezündet explodieren und möglicherweise auch noch einige der Schützenminen auslösen, die in dem Abhang vergraben worden waren. Diese Explosionen würden für genug Ablenkung sorgen, wenn sie sich zurückziehen wollten.
Beinahe hatte er Lara erreicht, als Roux sah, wie sie ruckartig den Arm hob und ihre Faust ballte. Der Söldner erstarrte, nur seine Augen bewegten sich noch, suchten die Umgebung nach einer Bedrohung ab. Aber dann hörte er auch schon das leise Knirschen der Armeestiefel. Eine der Wachpatrouillen, aber früher als erwartet. Hier, am Rande des Hügels, konnte Roux nur schemenhaft die beiden Männer erkennen, die oben auf der Mauer vorbeigingen. Als sie vorbei waren, stieß Roux unwillkürlich erleichtert die Luft aus. Wenn sie schon an dieser Stelle gescheitert wären…
Im nächsten Augenblick war er bei Lara, half ihr, die Metallstangen aneinander zu schrauben. Binnen einer halben Minute war eine fast vier Meter lange, stabile Behelfsleiter fertig, mit der sie den mit Minen und Alarmdrähten gesicherten Hang überwinden konnten. Kaum war die Stange aufgerichtet, schob sich Lara nach oben. Sie hatten nur wenig Zeit. Ohne Probleme erreichte sie den Fuß der Mauer und signalisierte Roux, nachzukommen. Der Söldner folgte ihr weniger elegant, aber fast genauso schnell. Er hatte schon fast die Hälfte des Abhangs passiert, als es geschah. Er rutschte nur kurz mit dem Fuß ab, verlor nicht einmal richtig den Halt. Dennoch wäre es beinahe das Ende gewesen. Blitzschnell krampften sich Roux Hände um das Metall, hakte er sich mit dem Bein an der Stange fest. Er konnte sich halten – keine fünf Zentimeter über der steinigen Hügelwand. Durch das Nachtsichtgerät sah Roux überdeutlich die dünnen Alarmdrähte, die den Hang wie ein Netzwerk überzogen. Und die fast unsichtbaren Metallzinken einer Schützenmine. Wenn er abgerutscht wäre…
Langsam, vorsichtig schob er sich wieder nach Oben, bis er endlich auch den Fuß der Mauer erreichte. Laras Gesicht konnte er unter der Tarnfarbe und dem Nachtsichtgerät nicht erkennen, und er war froh darüber. Offenbar wurde er nachlässig. Er musste sich auf die Aufgabe konzentrieren, oder sie würden beide sterben.
Ohne ein weiteres Wort faltete Roux die Hände zu einer Räuberleiter. Dann erhob er sich halb und stemmte Lara so in die Höhe. Die Grabräuberin hatte bereits eine Drahtschere in der Hand und kappte den Stacheldraht ein einer Stelle, bog den Draht mit der Schere leicht nach Oben und schuf so eine kleine, freie Fläche, an der ihre Hände Halt fanden. Sie packte zu und stieß sich gleichzeitig von Roux verschränkten Händen ab, landete fast lautlos auf dem schmalen Wehrgang. Sofort hatte sie die schallgedämpfte Scorpion in der Hand, sah sich sichernd nach allen Seiten um. Aber niemand war in der Nähe. Bisher lief alles nach Plan – sie hatten noch etwa eine Minute, bis die Patrouille wieder in Sicht kam. Roux hatte inzwischen die improvisierte Leiter, mit der sie den Hang überwunden hatten, weggestoßen. Jetzt verbarg das hohe Gras die Metallstange. Allerdings würden sie auf diesem Weg nicht wieder hinaus können. Jedenfalls nicht, wenn sie Renart dabei hatten.
Roux stand auf und sprang hoch. Diesmal machte er keinen Fehler, seine Hände fanden den von Lara ‚gesäuberten' Teil der Mauerkrone. Der Söldner zog sich nach Oben, während seine Füße nach Halt an der alten Steinmauer suchten, deren Putz längst abgeblättert war. Jetzt hatten seine Füße eine Mauerspalte gefunden. Lautlos holte er Luft und stieß sich dann ruckartig in die Höhe. Er kam direkt neben Lara auf, die nur ein ‚Alles frei' signalisierte und sich dann von dem Wehrgang gleiten ließ. Geduckt und nicht viel lauter als Schatten huschten sie über den Hof und verschwanden im Schutz einiger hier abgestellten Fahrzeuge. Jetzt war es von Vorteil, dass die Garnison gestern Verstärkung erhalten hatte – die zusätzlichen Humvees und LKWs boten Lara und Roux eine gute Deckung.
Keinen Augenblick zu früh: Schon hörte Roux wieder die Schritte der Patrouille, das leise Hecheln des Wachhundes. Auch diesmal schwiegen die Soldaten, zeugten ihre Bewegungen von Wachsamkeit. Schlechter ausgebildete Männer hätten sich vielleicht unterhalten, oder sogar geraucht. Aber Krueger schien seine Leute gut im Griff zu haben.
Nahe der Stelle, an der Lara und Roux die Mauer überwunden hatten, schienen die Soldaten kurz zu zögern. Unwillkürlich schloss sich die Hand des Söldners fester um die Scorpion. Der Lauf der Waffe zielte ohnehin schon auf einen der beiden Männer. Wenn sie etwas bemerkt hatten…
Roux hätte am liebsten geflucht, als er sah, wie der Hund den Kopf hin und her drehte, genau in seine Richtung zu sehen schien. Doch dann nahmen die beiden Soldaten ihre Patrouille wieder auf, der Hund folgte etwas widerwillig.
‚Das war knapp.' Dann drehte Roux den Kopf zu Lara um. Er tippte auf die zwei Sprengstoffpakete, die er noch am Gürtel trug und deutete auf ein in der Nähe befindliches Gebäude – Werkstatt und Reparaturteillager. Dann deutete er auf Lara und auf die umstehenden Wagen. Sie nickte knapp. Während Roux sein vorletztes Sprengstoffpaket postierte, verminte Lara die Fahrzeuge. Wenn diese Sprengladungen synchron gezündet wurden, würde die Explosion vermutlich der einer Tausend-Pfund-Bombe entsprechen.
Lara sah sich nach Roux um, als sie vom Tor Stimmen hörte. Und, fern aber näher kommend, das Dröhnen eines Automotors. Das Knirschen von Schritten ließ darauf schließen, dass die Patrouillen den sich nähernden Wagen ebenfalls gehört hatten und zum Tor eilten. Das musste eigentlich ihren Einsatzbefehlen widersprechen, immerhin gaben sie so ihre Posten auf. Die Wachposten öffneten das Tor, winkten den aus der Dunkelheit auftauchenden Humvee hinein. Halblaute Stimmen waren zu hören. Wer konnte das sein? „Was ist da los?"
Plötzlich war Roux neben ihr, seine Stimme klang fassungslos: „Sie sagen Robert… Robert käme zurück."
„Was?" Laras Stimme wurde beinahe laut, war von schneidender Schärfe.
„Sein Auto war nur noch Schrott. Und Tote fahren keine Wagen, verdammt."
„Und wer sitzt dann in dem Wagen?"
„Ich…" Roux Satz blieb unvollendet, denn im gleichen Augenblick brach am Tor die Hölle los. Gleichzeitig eröffneten zwei Automatikwaffen das Feuer, spuckten Tod und Vernichtung in die Runde. Die sechs Wachposten und Patrouillengänger hatten nicht einmal Zeit zu schreien. Über die zusammenbrechenden, im Todeskampf zuckenden Körper sprangen zwei schemenhafte Gestalten aus dem Wagen, gingen beim Torhaus in Stellung. Plötzlich tauchten aus dem Dunkel der Nacht weitere Gestalten auf, geduckt, in dunklen Tarnuniformen, Sturmgewehre in den Händen. Lautlos drangen sie in das alte Kolonialfort ein.
Aus einem der Gebäude hämmerte eine Salve – dort hatte offenbar noch ein weiterer von Renarts Leuten Wache gestanden. Die Salve war schlecht gezielt, nur einer der Angreifer wurde getroffen, aber der Beschuss zwang die Angreifer dazu, im Schutz der Gebäude Deckung zu suchen. Mit einem dumpfen, unverwechselbaren Knall wurde ein RPG-7-Werfer abgefeuert. Die Rakete explodierte in einem der Häuser, brachte den Beschuss, der die unbekannten Angreifer niedergehalten hatte, zum Verstummen. Aber inzwischen waren offenbar auch die übrigen Söldner Renarts alarmiert worden. Aus einigen Fenstern peitschten Schüsse, kurze Salven. Als vier nur halb bekleidete Söldner der Garnison auf den Hof stürzten, kamen sie allerdings keine vier Schritt weit, dann zerriss sie eine geschleuderte Handgranate. Fassungslos musste Lara mit ansehen, wie sich das alte Kolonialfort in ein Schlachtfeld verwandelte.
„WAS ZUR HÖLLE…?"
„DIESER ELENDE HUND!" Roux Stimme überschlug sich fast: „WIR MÜSSEN HIER WEG! DAS IST NICHT MEHR UNSER…"
„ICH GEHE NICHT OHNE RENART!" Laras Gedanken rasten. Sobald Renart begriff, dass sein Versteck angegriffen wurde, würde er entweder versuchen, sich abzusetzen, oder in dem Bunker verschanzen. Er würde jedenfalls nicht in seinem Quartier bleiben. Kurz entschlossen rannte sie los, jede Heimlichkeit aufgebend. Angesichts des blutigen Chaos, das im vorderen Teil des Kolonialforts regierte, kam es vor allem auf Schnelligkeit an. Sie lief nur wenige Augenblicke alleine, dann war Roux wieder neben ihr.
Sie brauchten nur Sekunden bis zu dem Haus, in dem Renart wohnte. Jetzt war keine Zeit, das Schloss umständlich zu knacken. Lara klatschte einfach ihre letzte Sprengladung gegen die Tür, winkte Roux in Deckung und drückte auf den Fernzünder. Der Knall war ohrenbetäubend, übertönte sogar das wütende Schützenfeuer am Tor, die dort explodierenden Handgranaten. Die Scorpion im Anschlag sprang Lara durch die in Stücke gesprengte Tür. Beinahe wäre sie über den zerfetzten Körper eines Wachpostens gestolpert, und das rettete ihr das Leben – die Salve seines Kameraden, der sich taumelnd, mit blutverschmierten Gesicht, in die Höhe stemmte, verfehlte sie. Lara riss die Scorpion herum, doch Roux, der jetzt in der Tür auftauchte, war schneller und schoss dem Mann in den Kopf.
Eine Handgranate flog die Treppe hinunter. Lara warf sich nach vorne, bekam die Granate zu fassen und schleuderte sie zurück und sprang in Deckung. Die Explosion ließ ihre Ohren klingen, machte sie für kurze Zeit taub. Dennoch war sie sofort auf den Beinen, stürmte die Treppe hinauf. Aber hier gab es niemanden mehr, der Widerstand leisten konnte – der Handgranatenwerfer war von seiner eigenen Waffe zerrissen worden.
„CROFT!" Das war Roux, der an einem der Fenster kniete. Zwei, Drei Schritte brachten sie zu ihm. Sie blickte hinaus, und sah wie eine kleine Gruppe Gestalten zu dem Hubschrauber rannte, der im hinteren Teil des Kolonialforts stand. Und inmitten der Flüchtenden sah sie eine Gestalt mit hellen, fast weißen Haarschopf und Bart. Marcel Renarts. Und immer noch schirmten die anderen Söldner ihren Anführer ab, beschützten ihn mit ihrem eigenen Leben.
Lara zerbiss einen Fluch zwischen den Lippen, packte den Fensterrahmen und ließ sich hinaus fallen. Es war etwas mehr als zwei Meter bis zum Boden, mühelos federten ihre Beine den Aufprall ab. Sie war sofort wieder auf den Füßen, rannte los. Die Flüchtenden hatten inzwischen bereits den Hubschrauber erreicht, Renart wurde von seinen Leibwächtern förmlich hineingestoßen. Einer der Söldner sah sich sichernd um, der Lauf seiner Uzi-Maschinenpistole folgte dabei seinen Augen – und er erblickte Lara. Der Leibwächter feuerte sofort, ohne zu zögern. Lara warf sich nach vorne, rollte über den Boden. Instinktiv, ohne groß zu zielen, erwiderte sie das Feuer. Die Salve traf den Gegner in der Brust. Seine kugelsichere Weste rettete dem Leibwächter das Leben, aber er wurde dennoch zurückgeworfen.
Ein abgestellter Humvee bot Lara Deckung. Sie richtete sich halb auf, die Waffe im Anschlag – und sah ihrem Gegner direkt in die Augen. Der schwarze Söldner sah sie an, den Mund zu einem wortlosen Schrei geöffnet. Aber er hatte immer noch die Uzi in den Händen. Sie feuerten fast gleichzeitig. Der Leibwächter hatte schlechter gezielt, die Kugeln trafen nur den Wagen. Laras Salve traf besser, zerlöcherten dem Mann Hals und Gesicht, ließen ihn zusammensacken.
Sie blickte sich kurz nach Roux um. Der Söldner war ihr offenbar gefolgt, rannte über den Hof und warf sich im nächsten Augenblick hinter einem Kistenstapel zu Boden. Und dann hämmerte ein schweres Maschinengewehr los. Aus der Seitenluke des Hubschraubers feuernd bestrich die Waffe im weiten Bogen den Hof. Lara presste sich flach auf Boden, als die Kugeln in den Humvee bohrten und die Karosserie durchschlugen wie dünnes Blech. Zehn Zentimeter tiefer, und sie wäre selber durchlöchert worden. Der Schütze schien genau zu wissen, wo sie waren und er hatte offenbar mehr als genug Munition. Und über das Hämmern des Maschinengewehrs hörte Lara, wie sich die Rotoren des Hubschraubers langsam zu drehen begannen, der Motor immer lauter dröhnte. „NEIN!" Sie richtete sich auf – und wurde um ein Haar von einer MG-Salve halbiert. Sie saß fest – und Renart würde entkommen: „ROUX, VERDAMMT!"
Jean Roux biss die Zähne zusammen. Er glaubte zu wissen, wer da am Maschinengewehr stand. Piet Krueger. Der südafrikanische Söldner beherrschte mit dem schweren Maschinengewehr den Hof. Es kam ihm gar nicht darauf an, seine Gegner sofort zu töten, er musste sie nur lange genug am Boden halten, bis der Hubschrauber gestartet war. Dann hatte er gewonnen – und konnte Lara und Roux außerdem auch noch wie Tontauben abknallen, wenn ihm der Sinn danach stand. Blitzschnell prüfte Roux seine Möglichkeiten. Er konnte hier einfach liegen bleiben. Aber dann würden Renart und Krueger wahrscheinlich entkommen – und er und Lara würden vermutlich trotzdem sterben, niedergemäht aus der Luft. Er konnte versuchen, Krueger mit einem gezielten Schuss zu erledigen. Keine gute Idee, der Afrikaander trug eine Panzerweste und war außerdem in einer recht guten Deckung. Roux konnte eine Handgranate werfen. Zu unsicher, wenn Krueger ihn nicht beim Werfen erwischte, müsste er immer noch die Granate genau in die Hubschrauberluke platzieren. Und wenn er noch länger zögerte, dann würde Lara vermutlich eine Dummheit begehen und sterben. Lara…
Roux warf die Scorpion beiseite, zog seine Pistole, während er mit der Linken eine Handgranate loshakte. Er wusste, was er tun würde. Der ehemalige Fremdenlegionär zog den Sicherungsring ab und warf die Granate, ohne zu zielen, nur in die grobe Richtung Kruegers. Dann sprang er auf die Beine und rannte los.
Die Handgranate explodierte und für ein paar Augenblicke war Krueger abgelenkt, bemerkte er nicht die geduckte Gestalt, die über den Platz huschte. Roux rannte nicht direkt auf den Hubschrauber zu, dessen Rotoren inzwischen nur noch als Schemen zu erkennen waren. Die Kufen des alten Huey-Hubschraubers lösten sich langsam vom Boden.
Roux stoppte, wirbelte herum und riss die Pistole hoch, zielte. Er wusste, er hatte nur zwei, höchstens drei Schüsse. Aus den Augenwinkeln sah er, wie der Lauf des Maschinengewehrs zu ihm schwenkte, aber das nahm er nicht mehr bewusst wahr. Er schoss.
Der Pilot der Huey bemerkte die Gefahr nicht einmal. Er war zu sehr auf den Startvorgang konzentriert gewesen und hatte sich zudem auf das Deckungsfeuer Piet Kruegers verlassen. Deshalb sah er die Gestalt nicht, die neben dem Cockpit aufgetaucht war. Mit einem berstenden Krachen splitterte das Kabinenglas, trafen ein, zwei Kugeln den Piloten in Leib und Kopf. Die Dummdumm-Geschosse rissen seinen Körper beinahe aus dem Sitz heraus, bohrten sich mit tödlicher Wirkung in seinen Leib. Der Sterbende sackte über den Instrumenten zusammen, immer noch die Hand um den Steuerknüppel verkrampft. Der Hubschrauber bäumte sich auf, schwankte dabei hin und her wie ein Schiff in schwerem Seegang. Ein paar Augenblicke sah es so aus, als würde er sich vom Boden lösen – dann legte der Hubschrauber sich auf die Seite und sackte wieder zu Boden. Als die Rotorblätter den Boden berührten, explodierten sie förmlich in einem Hagel tödlicher Schrapnelle.
Roux stand noch immer aufrecht, die Pistole im Anschlag. Langsam, fast zögernd, sank sein Arm herab, entglitt die Waffe seinen Fingern. Mit einem fast verwunderten Ausdruck im Gesicht senkte der Söldner den Blick, tastete seine rechte Hand schwerfällig über den Körper. Stockte. Mit einem seltsamen Gefühl der Unwirklichkeit starrte Roux auf den klobigen Metallsporn, der aus seiner Brust ragte. Blut rann über seine Hand, tropfte zu Boden. Er spürte keinen Schmerz, nicht einmal Angst, nur ein leichtes Bedauern. Er hatte gewusst, dass es irgendwann dazu kommen würde. Er hatte es gewusst. Ihm wurde klar, dass er noch etwas sagen wollte, etwas Wichtiges – aber ihm fiel einfach nicht mehr ein, was. Sein Kopf schien leer, alles um ihn herum begann zu verschwimmen. Auch das Feuergefecht am Tor hatte nachgelassen. Auf einmal war es sehr still. Langsam, schwerfällig öffnete er den Mund, suchte nach Worten: „Tut mir leid, Lara. Tut mir leid…" Dann gaben die Beine unter ihm nach und Jean Roux stürzte in die Dunkelheit.
Lara hatte den Vorstoß des Söldners nicht bemerkt, flach auf den Boden gepresst und nach einer Möglichkeit suchend, Renarts Flucht zu verhindern. Aber sie hatte keine gefunden. Erst nach ein paar Sekunden hatte sie begriffen, dass sich das Dröhnen der Rotoren schlagartig änderte, immer schriller wurde – und mit einem dumpfen, berstenden Krachen abbrach, in das sich das Ächzen überlasteten Metalls mischte. Sie wusste, was dieses Geräusch bedeutete, und sie handelte sofort. Die halblauten Worte des Söldners, die aus dem Sprechfunkgerät drangen, nahm sie nur am Rande war. Das Maschinengewehrfeuer war jetzt verstummt, der Lauf der Waffe starrte nutzlos zum Himmel. Aber noch während sich Lara im rasenden Sprint der Maschine näherte, sah sie, wie in der Seitenluke des Hubschraubers, der jetzt auf der Seite lag, der Oberkörper eines breit gebauten, stämmigen Mannes erschien, der durch die Panzerweste noch massiger wirkte. Piet Krueger hielt eine Pistole in der Hand. Lara schoss im Laufen, die Kugeln ließen an der Metallhülle des wracken Helikopters Funken sprühen – ihr Gegner zuckte nicht einmal, sondern erwiderte das Feuer kaltblütig. Der erste Schuss ging daneben, der zweite traf sie in die linke Schulter. Die teflonbeschichtete Pistolenkugel durchschlug Tarnanzug und Panzerung, bohrte sich in Laras Schulterblatt. Die Wucht des Treffers holte sie beinahe von den Füßen, aber sie rannte weiter, während ihre Waffe wieder Feuer spuckte. Doch den leichten Kugeln der Scorpion fehlte die Durchschlagskraft, die schwere Panzerweste ihres Gegners zu durchbohren. Aber dann hatte sie schon das auf der Seite liegende Wrack des Hubschraubers erreicht. Statt innezuhalten, oder Deckung zu suchen, ließ sie die Scorpion fallen, packte mit der Rechten eine Metallstrebe und schleuderte sich nach Vorne.
Krueger wurde von diesem Manöver überrascht, er reagierte zu langsam. Sein blindlings abgefeuerter Schuss verfehlte sein Ziel, er konnte nicht mehr ausweichen, als die Grabräuberin sich auf ihn warf. Geistesgegenwärtig presste er das Kinn auf die Brust. Der Hieb, der nach seiner Kehle zielte, riss nur seinen Kopf herum. Halb in der Seitenluke des umgekippten Hubschrauber stehend, war Piet Krueger in seiner Bewegungsfreiheit eingeschränkt. In einem Nahkampf rechnete er sich wenige Chancen aus, deshalb riss er jetzt die Pistole hoch, versuchte sie auf die Frau zu richten, die halb über ihm lag und seine Waffenhand gepackt hatte. Aber er war stärker, und sie konnte ihren linken Arm nicht benutzen. Piet Kruegers Mund verzerrte sich zu einem zynischen Grinsen. Langsam, Zentimeterweise richtete sich der Lauf der Waffe auf seine Gegnerin. Die beiden Kontrahenten keuchten vor Anstrengung, blind und taub für den Kampf, der immer noch im vorderen Teil des alten Kolonialforts tobte. Blitzschnell und rücksichtslos rammte Krueger seiner Gegnerin die linke Faust ins Gesicht. Einmal, zweimal. Der Kopf der Frau flog zur Seite, aber immer noch hielt sie seine Waffenhand umklammert. Er holte noch einmal aus, und plötzlich ließ sie los, duckte sich unter seinem Hieb hindurch. Kruegers Waffenhand kam hoch – zu langsam. Seine Gegnerin stieß ihm die ausgestreckten Finger ihrer Hand in die Augen. Ein stechender Schmerz durchfuhr ihn, und instinktiv riss Piet Krueger den Kopf zurück, war sein Hals ungeschützt. Der Handkantenschlag zerschmetterte seinen Kehlkopf. Geblendet und vergeblich nach Luft, erstickend ringend sackte er zurück ins Innere des Hubschraubers. Der letzte Laut, der aus seiner Kehle drang, war ein schmerzerfülltes Keuchen. Sinnlos kratzten seine Hände über das Metall, warf er seinen Körper krampfhaft hin und her. Dann starb er.
Lara ließ sich zu Boden sinken. Das war knapp gewesen. Fast zu knapp. Wo blieb eigentlich Roux? Was hatte er… Aber dann alarmierte sie ein leises, verstohlenes Geräusch im Inneren des Hubschraubers. Sie überlegte kurz. Drei Mann hatten Renart begleitet. Zwei von ihnen hatte sie getötet, und sie glaubte zu wissen, was mit dem Piloten passiert war. Blieb nur noch…
Sie hakte eine Handgranate vom Gürtel: „Renart, kommen Sie raus. Sie haben fünf Sekunden. Andernfalls fliegt eine Granate – Ihre Entscheidung." Das war natürlich ein Bluff, sie wollte Renart lebend – aber das konnte er ja nicht wissen. Und momentan fühlte sie sich einfach zu erschöpft, um ihn herauszuholen: „Noch drei Sekunden..."
„Ich komme…" Die Stimme klang schmerzerfüllt, aber nicht ängstlich. Eher wütend, fast hasserfüllt: „…sale americaine." Sie hätte beinahe gelacht. Renart hielt sie für eine Amerikanerin?
Als Renart zum Vorschein kam, hatte er nichts mehr an sich von der ruhigen Autorität, die er sonst zu kultivieren versuchte. Der Mann war zerschlagen, verdreckt, er zog das linke Bein nach und konnte einen Arm offenbar nicht richtig gebrauchen. Aber seine Augen starrten Lara hart, fast herausfordernd an, während er sich ins Freie zog: „Warum, verdammt? Warum? Sie hätten alles bekommen, was Sie wollten, Alles!"
Sie verstand ihn nicht. Ruhig richtete sie ihre Waffe auf seinen Kopf: „Was ich zurück will, dass können Sie mir nicht geben. Genauso wenig, wie Sie die Menschen wieder lebendig machen können, die Sie ermordet haben. Los vorwärts – oder ich erschieße Sie gleich hier." Renart sah sie an, und was er in ihrem Gesicht zu erkennen glaubte, ließ den alten Söldner kurz verstummen. Unverständnis, und fast so etwas wie Angst zeichneten sich auf seinen Zügen ab. Langsam, zusammengeduckt humpelte er in die Richtung, die sie wies: „Sie können Ihren Leuten sagen, dass ich kapituliere. Sie können den Angriff einstellen. Ich kann Ihnen immer noch nützlich sein. Sagen Sie Ihren Leuten…"
„Das sind nicht meine Leute." Lara sah sich suchend um. Wo war Roux? Was hatte er ihr sagen wollen?
„Nicht Ihre Leute – aber warum, wer…" Renart blieb wie angewurzelt stehen, doch er sah Lara nicht an, blickte zur Seite: „Nein, das ist unmöglich. NON!"
Sie dachte es wäre ein Trick, aber dann bemerkte auch sie aus den Augenwinkeln eine Bewegung. Sie drehte sich halb herum: „Roux?"
Es waren drei Männer, zwei Weiße und ein Schwarzer, die plötzlich aus der Nacht aufgetaucht waren. Ihre Waffen waren auf Lara gerichtet. Und ihre eigene Pistole zielte immer noch auf Renart. Sie würde es niemals schaffen, nicht alleine, nicht verletzt. Einer der drei Männer war Jalouzet. Einen kurzen Augenblick lang traf sich sein Blick mit dem Laras. Auf seinen Lippen lag ein grausames, kaltes Lächeln. Er nickte ihr kurz zu, fast wie ein Gruß – dann schwenkte er leicht den Lauf seiner Waffe herum und schoss. Die Kugeln trafen ihr Ziel, schüttelten den Körper durch wie ein Stromschlag, schleuderten den Leib wie eine Puppe beiseite. Dann, gedeckt von seinen beiden Kameraden, verschwand Ex-Capitaine Pierre Jalouzet wieder in der Nacht.
