Es dauerte einige Sekunden, bis sich Lara wieder gefangen hatte, bis der Schock überwunden war. Sie war schon oft dem Tode nahe gewesen, aber diesmal… Als Jalouzet das Feuer eröffnet hatte, da war Lara sich sicher gewesen, dass sie sterben würde. Aber er hatte sie nicht getroffen, trotzdem sie auf diese Entfernung nicht zu verfehlen gewesen wäre. Jalouzet hatte nicht einmal auf sie gezielt. Die Salve war für Marcel Renart bestimmt gewesen. Und hatte gut getroffen. Der alte Söldnerführer und Schwarzmarktchef war wahrscheinlich schon tot gewesen, bevor sein von Kugeln zerfetzter Körper zu Boden gesackt war. Sein Mund war in einem lautlosen Schrei erstarrt, die Zähne wie zu einem wütenden Fauchen gefletscht. Renarts Tod war so plötzlich, so überraschend gekommen, dass Lara nicht einmal irgendetwas empfinden konnte, während sie endlose Sekunden wie betäubt auf den Toten starrte. Erst nach einer halben, vielleicht sogar einer Minute war sie wieder zu einem klaren Gedanken fähig. Und zu einer Frage: „Warum?"

Niemand antwortete ihr. Jalouzet war längst wieder in der Dunkelheit verschwunden, aus der er aufgetaucht war, lautlos wie ein Geist. Auch in Laras Funksprechgerät blieb es still. Langsam blickte sie sich um, auch weil sie den Anblick Renarts auf einmal nicht mehr ertragen konnte. Etliche Gebäude waren in Brand geraten, die auflodernden Flammen vertrieben teilweise die Dunkelheit, enthüllten eine Szenerie der Zerstörung. Hier und da schienen am Boden verkrümmte Gestalten zu liegen, wie hingeworfen, ob Angreifer oder Verteidiger war nicht zu erkennen. Auch Renarts Wohnhaus brannte lichterloh, als hätten die angreifenden Truppen gezielt Brandsätze geworfen. Das Feuergefecht im vorderen Teil des alten Kolonialforts schien schwächer zu werden, sich zu entfernen. Lara begriff – Jalouzet hatte sein Ziel erreicht. Seine Truppen setzten sich ab, überließen die teilweise verwüstete Festung wieder Renarts Leuten. Der Überfall konnte nicht mehr als zehn Minuten gedauert haben, vielleicht weniger. Aber immer noch begriff Lara nicht den Grund für Jalouzets Angriff. Warum hatte er unbedingt Renart töten wollen? Und wieso hatte er gerade jetzt angegriffen? Wieso…

Doch dann fasste sie sich wieder. Fragen brachten sie jetzt nicht weiter. Renart war tot, nicht aber seine Leute. Momentan versuchten sie vielleicht noch, Jalouzets zurückweichende Truppen zu verfolgen, aber bald würden sie daran gehen, die Brände zu löschen. Und bestimmt würden sie nach ihrem Kommandeur suchen. Sie musste hier weg, und zwar schnell: „Roux!"

Keine Antwort. Erst jetzt fiel Lara ein, das der ehemalige Fremdenlegionär auf ihre letzten Funksprüche nicht geantwortet hatte. Das letzte Mal hatte sie seine Stimme gehört, kurz nachdem der Hubschrauber aufgeprallt war – sie hatte keine Zweifel darüber, wer für die Havarie verantwortlich war. Aber was hatte Jean Roux ihr sagen wollen? Geduckt, vorsichtig nach allen Seiten sichernd, umrundete sie den auf der Seite liegenden Hubschrauber. Sie wollte sich nicht noch einmal überraschen lassen. Aber sie durften sich auch nicht zu viel Zeit lassen. Ihr linker Arm gehorchte ihr nicht mehr richtig, Schmerz durchflutete bei jedem Schritt ihren Körper. Wo steckte der Söldner? „Roux!" Und dann sah sie, dicht neben dem Wrack eine Gestalt am Boden liegen. Eine Gestallt in einem schwarzgrauen Tarnanzug, reglos: „JEAN!"

Im nächsten Augenblick war sie neben ihm, fiel auf die Knie, versuchte ihn ungeschickt mit nur einem Arm aufzurichten. Jean Roux antwortete nicht. Das Nachtsichtgerät hatte er verloren, unter der Tarnfarbe waren seine Gesichtszüge seltsam erschlafft. Ein dünner Blutfaden rann aus seinem Mund. Seine rechte Hand umklammerte den massiven Metallsplitter, der aus seinem Leib ragte. Er schien nicht zu atmen. „JEAN, VERDAMMT! JEAN…"

Und Lara Croft fühlte, wie etwas in ihr zerbrach. Nicht wieder. Nicht schon wieder. Wut stieg in ihr auf, eine rasende, aber hoffnungslose Wut. Wut, vor allem auf sich selbst. Es war nicht gerecht. Warum mussten immer andere für sie sterben? Freunde, Kameraden, Verbündete. Sie selber würde überleben. Aber der Preis war zu hoch. Viel zu hoch. Sie wollte schreien oder fluchen, aber lein Laut kam über ihre Lippen, während sie vergeblich versuchte, Jean Roux auf die Beine zu ziehen.

Es war die Stille, die sie aus ihrer lautlosen Wut riss. Das Feuergefecht war endgültig verstummt. Und sie wusste, was dies bedeutete. Jalouzets Männer hatten sich vom Feind gelöst, und Renarts Soldaten verschwendeten als erfahrene Soldaten keine Munition für sinnloses Blindfeuer. Sie würden in der Nacht keine Verfolgung riskieren…

Es war kein überlegter Entschluss, sondern geschah spontan, fast unter Zwang. Sie beugte sich vor, legte dem reglosen Söldner den Arm um die Schulter. Dann, mit vor Anstrengung zusammengebissenen Zähnen, richtete sie sich langsam auf. Der erste Schritt war der schwerste, sie wäre beinahe gestürzt. Aber sie konnte sich fangen, machte einen zweiten Schritt, einen dritten. Sie wusste nicht, ob Jean überhaupt noch am Leben war. Es mochte Wahnsinn sein, aber das kümmerte sie nicht. Ob lebendig oder tot, sie würde Jean nicht hier zurücklassen. Das war sie ihm schuldig. Das war sie sich selber schuldig.

Während sie sich quälend langsam vorwärts schleppte, rasten ihre Gedanken. Mit Jean würde sie es niemals über die Mauer schaffen. Der Helikopter war nur noch Schrott. Damit blieb ihr nur ein Ausweg – das Tor. Der Humvee, hinter dem sie vorhin Deckung gesucht hatte, war von Kugeln durchlöchert, war ein Wrack. Aber nur ein paar Meter daneben stand noch ein alter Jeep, der weitestgehend unversehrt schien. Die zwanzig Schritte bis zu dem Fahrzeug kamen Lara wie eine Ewigkeit vor, aber sie schaffte es. Sie wusste, ihr blieb nicht viel Zeit. Sie ließ den Körper des Söldners so vorsichtig und behutsam wie möglich auf den Beifahrersitz sinken. Zum Glück war das Fahrzeug nicht gerade neu, in einer halben Minute hatte sie den Wagen kurzgeschlossen und startete den Motor. Sie hatte jetzt keine Zeit für Heimlichkeit. Während ihre rechte Hand das Lenkrad umklammerte, gab sie Gas.

Renarts Männer waren gut. Sie hatten auf den Angriff schnell reagiert. Trotz Überraschung und hoher Verluste hatten sie ihre Stellungen weitestgehend halten können. Aber sie rechneten höchstens noch mit einem erneuten Angriff, oder Beschuss aus Granatwerfern. Viele waren verwundet, oder versuchten, anderen Verwundeten zu helfen. Deshalb waren sie völlig überrascht, als plötzlich mit rasender Geschwindigkeit ein Jeep aus der Dunkelheit hervor schoss und mit einem halsbrecherischen Slalomkurs auf das Tor zusteuerte, das immer noch teilweise von dem inzwischen brennenden Wrack des Humvees blockiert wurde, den die Angreifer als ‚trojanisches Pferd' benutzt hatten.

Ein, zwei der Wachposten, die auf der Mauer Stellung bezogen hatten, rissen ihre M-16 herum, aber sie konnten nicht schießen, ohne die eigenen Leute auf dem Vorplatz zu gefährden, die verzweifelt versuchten, dem Jeep aus dem Weg zu springen. Der Jeep raste auf das Tor zu, ein Zusammenstoß mit dem Fahrzeugwrack schien unvermeidlich. Doch Lara, die sich halb zusammengekrümmt hinter das Lenkrad duckte, schaffte es, den Wagen durch die verbliebene Lücke zwischen Torpfosten und Fahrzeugwrack zu lenken. Mit dem Kreischen überlasteten Metalls schrammte der Jeep an dem brennenden Humvee entlang, schien ins Schleudern zu geraten – und verschwand in der Dunkelheit. Die hastig hinterhergeschickten Salven verfehlten ihr Ziel.

Als der Wagen das alte Kolonialfort hinter sich zurück ließ und die vereinzelten Leuchtspurgarben nur harmlos die Nacht durchschnitten. atmete Lara erleichtert aus. Die erste Hürde war überwunden. Und falls Renarts Männer sie verfolgen wollten… Sie trat abrupt auf die Bremse. Noch bevor der Wagen richtig zum Stehen gekommen war, hatte ihre rechte Hand bereits den Funkauslöser gefunden. Dann drückte sie den Signalknopf.

Die Wirkung hätte nicht spektakulärer sein können. An drei, vier Punkten am Fuße des Hügels, auf dem die Festung stand, explodierten die Sprengladungen, die Jean gelegt hatte. Gleichzeitig zerriss eine weitere Explosion die Wartungs- und Reparaturbaracke des Forts, zündeten die Sprengladungen, die sie selber an einigen abgestellten Fahrzeugen angebracht hatte. Das Benzin in den Tanks und Reservekanistern entzündete sich in einem riesigen Feuerball, der Renarts Festung kurz in ein rötlich gelbes Licht hüllte. Lara fühlte, wie sich ihr Mund zu einem grimmigen Lächeln verzog. Dann gab sie wieder Gas.

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Sie fuhr schnell, aber ohne Licht. Das war gefährlich, trotz des Nachtsichtgerätes, aber mit eingeschalteten Scheinwerfern wäre sie kilometerweit zu sehen gewesen. Ihr Ziel war der kleine UN-Posten, etwa fünfundzwanzig Kilometer von dem alten Kolonialfort entfernt. Dort hatte sie noch am Vortag das Material für die provisorische Leiter beschafft, mit der sie in Renarts Festung eingedrungen waren. Jetzt wünschte sie einen Augenblick lang, sie hätte die Metallstangen nie erhalten. Renart war zwar tot, aber sie konnte keine Genugtuung darüber verspüren. Und es hatte zuviel gekostet. Dann verwarf sie den Gedanken. Es hatte keinen Sinn. Sie hatte nicht wissen können, was passieren würde, und Jean Roux hatte das Risiko gekannt – vielleicht sogar besser als sie selber. Das einzige, was jetzt noch zählte, war, dass sie das UN-Krankenhaus rechtzeitig erreichte. Das war ihre einzige Hoffnung… Kurz blickte sie zu der reglosen, zusammengesunkenen Gestalt auf dem Beifahrersitz und biss sich auf die Lippen. Falls es nicht schon längst für jede Hoffnung zu spät war.

Und dann tauchten vor ihr aus der Dunkelheit die grellen Lichter einer Fahrzeugkolonne auf. Lara war überrascht, dennoch reagierte sie sofort. Abrupt trat sie auf die Bremse, brachte den Wagen zum Stehen, sah sich hektisch um. Dann schaltete sie in den Rückwärtsgang und lenkte den Jeep kurzerhand in das meterhohe Gras, das zu beiden Seiten der Straße wuchs. Sie hatte nicht die Zeit, die Kolonne großräumig zu umfahren, aber mit etwas Glück würde man sie nicht einmal bemerken, konnte sie in einer Minute ihre Fahrt fortsetzen. Sie schaltete den Motor herunter – und dann erst hörte sie neben dem dumpfen Dröhnen von Motoren auch ein malmendes, unverwechselbares Rattern. Gleisketten.

Zuerst hatte sie gefürchtet, dies könnten Jalouzets Leute sein. Aber dafür bewegte sich die Kolonne in die falsche Richtung. Außerdem würde Jalouzet seine Männer wohl kaum mit aufgeblendeten Scheinwerfern fahren lassen. Und er hatte ganz bestimmt keinen Panzer zur Verfügung. Jetzt erst erinnerte sich Lara an die Warnung, die Jean Roux am gestrigen Tag, vor einer halben Ewigkeit, geäußert hatte: „Der nächste Gendarmerieposten ist nur acht Kilometer entfernt. Der nächste Armeestützpunkt fünfzehn." Und Renart hatte beste Kontakte zur kongolesischen Armee gehabt…

Dann war die Kolonne heran. Voraus fuhren zwei Jeeps mit aufmontierten Maschinengewehren. Dahinter ratterte ein leichter AMX-13- Panzer, falls man einen 15-Tonnen-Koloß mit einer Fünfundsiebzig-Millimeter-Kanone und zwei Maschinengewehren als leicht bezeichnen konnte.

Hinter dem Panzer folgte noch ein Wagen, ein schwerer Transport-LKW, dessen grünbraune Tarnfarbe bereits abblätterte. Auf der Ladefläche waren ein schweres Maschinengewehr und ein Scheinwerfer montiert. Dazu kam mehr als ein Dutzend aufgesessener Soldaten. Die Männer wirkten nervös, ihre Gewehre waren nach außen, in die Dunkelheit gerichtet. Die kongolesische Armee rückte nur ungern nachts aus. Der Mann hinter dem Scheinwerfer ließ den Lichtstrahl fast hektisch hin- und herwandern. Der Scheinwerfer schwankte von Rechts nach Links, seine Bahn wirkte durch das Holpern des LKWs auf der unbefestigten Straße völlig willkürlich. Der Lichtkegel fuhr suchend über das hohe, trockene Gras zu beiden Seiten der Straße – und erfasste Lara.

Geistesgegenwärtig hatte Lara die Augen zusammengekniffen, und deshalb wurde sie nicht geblendet. Aber als sie den überraschten Schrei des Soldaten hörte, handelte sie dennoch mehr instinktiv, als überlegt. Sie gab Gas und riss das Lenkrad herum. Der Jeep schoss vorwärts, kollidierte beinahe mit dem LKW, raste über die Straße und verschwand wieder im hohen Gras. Der Maschinengewehrschütze auf dem LKW riss seine Waffe zwar herum, aber er hatte kein klares Ziel. Natürlich feuerte er trotzdem. Binnen Sekunden fielen die Waffen seiner Kameraden ein, leerten die Soldaten ihre Sturmgewehre im Dauerfeuer.

Rings um Lara zerschnitten Leuchtspurgarben die Nacht und das trockene Gras. Einmal, zweimal schlugen Kugeln dumpf in das Metall der Karosserie ein. Auf dem unebenen Boden bockte der Wagen wie ein durchgehendes Pferd. Jean wurde beinahe aus dem Jeep geschleudert, im letzten Augenblick konnte Lara den Söldner packen und zurückzerren. Aber dazu hatte sie das Lenkrad loslassen müssen, und der Wagen wurde aus der Bahn gerissen. Einen Augenblick lang glaubte Lara, jetzt sei alles aus, aber indem sie in letzter Sekunde das Lenkrad wieder herumreißen konnte und auf die Bremse trat, schaffte sie es, das Fahrzeug wieder unter ihre Kontrolle zu bekommen.

Und dann schlug keine zwanzig Schritt entfernt die erste Granate ein. Die Explosion war ohrenbetäubend, und die Schrapnelle der Splittergranate schnitten durch das Gras, wie eine Sense. Instinktiv hatte sich Lara hinter das Lenkrad geduckt, dann begriff sie, wie sinnlos dieser Reflex war. Wenn eine Granate den Wagen erwischte, dann war sie so oder so tot. Sie gab wieder Gas, schlug einen Bogen, gefolgt von einem scharfen Haken – aber die nächste Granate war nur noch etwa fünfzehn Meter entfernt.

Ein Blick zurück zeigte ihr, dass der Panzer die Landstraße verlassen hatte und mit Höchstgeschwindigkeit hinter ihr her rollte – und das bedeutete immerhin gut fünfzig km/h, schneller war ihr Jeep in diesem Gelände auch nicht. Die beiden Jeeps der kongolesischen Armee folgten dem Panzer, ihre Maschinengewehre hämmerten jetzt im Dauerfeuer.

Durch ihr Nachtsichtgerät erhaschte Lara kurz einen Blick auf den Panzerkommandanten, der hoch aufgerichtet im Turmluk stand und mit weit ausholenden Armbewegungen seine Männer kommandierte. Offenbar hatte sie die den Kampfgeist des Gegners etwas unterschätzt. Und das konnte tödlich enden. Beim Panzer blitzte es kurz auf, die Granate explodierte vielleicht zwölf Meter hinter Laras Jeep. Die Panzercrew schoss sich langsam ein.

Lara riss noch einmal das Lenkrad zur Seite, schlug einen Kurs ein, der fast rechtwinklig von der Fahrtrichtung ihrer Verfolger wegführte. Die nächste Granate explodierte beruhigende zwanzig Meter entfernt, aber ihr war klar, so konnte es nicht weitergehen. Jetzt fuhr sie wieder auf die Landstraße zu, aber sie brauchte etwas Zeit, um die Verfolger abzuhängen. Sie brauchte etwas Zeit…

Dann fiel ihr die Lösung ein. Während sie ihr Knie gegen das Lenkrad stemmte, es so einigermaßen gerade hielt und lautlos ihren nutzlosen linken Arm verfluchte, hakte sie mit der rechten Hand ihre letzte Handgranate los, riss den Sicherungsring mit den Zähnen ab und schleuderte die Granate aus dem Wagen. Mit zwei Handgranaten, die noch an Jean Roux Gürtel hingen, verfuhr sie genauso.

Die Wirkung hätte nicht besser sein können. Die Sprengkörper explodierten in schneller Reihenfolge, einer durch einen glücklichen Zufall keine zehn Schritte von dem Kampfpanzer entfernt. Natürlich konnten die Explosionen den Panzer nicht einmal ankratzen – aber für die Soldaten musste es wirken, als würden sie beschossen, vielleicht mit einem Granatwerfer. Die Jeeps verloren abrupt an Fahrt, und der Panzerkommandant duckte sich tiefer in den Turm. Der Kampfwagen stoppte zwar nicht, fuhr aber eine Ausweichbewegung, während der Kommandant durch sein veraltetes Zeiss–Nachtsichtgerät nach dem neuen Feind suchte. Der Richtschütze, der eben eine neue Granate geladen hatte, verlor sein Ziel aus den Augen und eröffnete stattdessen mit dem Bug-Maschinengewehr ein Sperrfeuer, das die möglicherweise im Hinterhalt liegenden Feinde niederhalten sollte.

Das reichte. Laras Wagen, der eben in diesem Augenblick die Landstraße überquerte, wurde von seiner Fahrerin noch einmal herumgerissen. Dann gab Lara Vollgas.

Als zwanzig Sekunden später der AMX-13 auf die Landstraße rollte, war der Jeep bereits außer Sicht. Der Panzerkommandant spuckte wütend aus – er hatte sich auf die Zunge gebissen. Kurz erwog er, ein oder zwei seiner Jeeps hinter dem Wagen hinterher zu schicken. Aber dann entschied er sich dagegen. Er wusste nicht einmal, warum man ihn heute Nacht eigentlich in den Einsatz geschickt hatte – nur, dass sein Kommandant ihm befohlen hatte, mit seinem Kampfwagen und einem Zug Soldaten Marcel Renart zur Hilfe zu eilen, dessen Hauptquartier angeblich von einer zahlenmäßig überlegenen Streitmacht mit schweren Waffen angegriffen wurde. Als ob es Aufgabe der kongolesischen Armee war, irgendeinem reichen Weißen die Haut zu retten. Der Stützpunktkommandant stand wahrscheinlich auf Renarts Gehaltsliste. Der Panzeroffizier hatte unter Mobutu gedient, danach Kabila. Aber er verabscheute Kreaturen wie Renart aus Prinzip – Söldnerkommandanten, Kriegsgewinnler und Aasgeier. Natürlich würde er seine Befehle befolgen. Aber nur das. Punktum.

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Wenig später, UN-Posten, etwa zwanzig Kilometer nordwestlich Luebo

John Coleman war nicht mehr jung. Seit nunmehr dreißig Jahren arbeitete er als Arzt, davon fast zehn Jahre im Rahmen diverser UN-Projekte. Der stämmige Australier mit dem schütteren, bereits ergrauten Haar ließ sich nicht so leicht aus der Ruhe bringen. Seine Gelassenheit hatte ihm bei unzähligen Gelegenheiten geholfen, mit Bürokraten, korrupten Beamten und ähnlichen Schwierigkeiten fertig zu werden. Er kannte den Kongo. Aber heute Nacht war er nervös. Vor weniger als einer Stunde war ein sehr seltsamer Funkspruch eingegangen und seitdem konnte Coleman keine Ruhe mehr finden. In solchen Augenblicken wünschte er sich, dass seine medizinische Station von mehr beschützt würde, als der Fahne mit dem Roten Kreuz. Ein Squad Blauhelme wäre ihm lieber gewesen. Aber so hatte er nur eine einzige Pistole, die er vor Jahren auf dem Schwarzmarkt gekauft hatte. Er vertraute seinen Mitarbeitern, aber die einheimischen Ärzte und Krankenschwestern waren eben keine Kämpfer – und in einer Krisensituation vermutlich sogar noch hilfloser als er selbst.

Momentan war alles ruhig, aber er traute dem Frieden nicht. Aus einem Reflex heraus hatte er das kleine Zimmer verlassen, das ihm als Quartier und Büro diente. Er wollte sich versichern, dass alles in Ordnung war. Sein Krankenhaus war in einem während des letzten Bürgerkriegs ausgeplünderten Gebäude der kongolesischen Verwaltung eingerichtet worden. Das Haus war zwar relativ stabil, da es noch in der Kolonialzeit erbaut worden war, aber ziemlich heruntergekommen.

Ein entferntes Geräusch ließ ihn aufhorchen. Da waren Schritte – leise, fast verstohlen. Er hätte sie wohl gar nicht bemerkt, wenn seine Sinne nicht ohnehin bis zum Äußersten gespannt gewesen wären. Die Geräusche kamen aus der Richtung der Behandlungsräume. Und dann klang es, als würde irgendetwas Schweres über den Boden gezogen. Coleman biss wütend die Zähne zusammen. Das mussten Diebe sein, schon wieder. Diese verdammten Schakale! Sie bestahlen sogar die Kranken, und es war ihnen egal, ob sie damit ihre Mitmenschen zum Tod verurteilten. John Coleman griff in die Tasche seines weißen Kittels und zog die Pistole. Er würde nicht zulassen, dass irgendwelche Aasgeier das wenige an medizinischen Geräten wegschleppten, dass man ihm bewilligt hatte.

Nur eine halbe Minute später näherte er sich vorsichtig der Quelle der Geräusche. Er hatte richtig vermutet, die Eindringlinge waren in einem der beiden Behandlungsräume. Kurz glaubte Coleman sogar ein leises Murmeln zu hören, aber er konnte die Worte nicht verstehen. Die Einbrecher schienen sich sicher zu fühlen, sie hatten sogar Licht gemacht. Es konnten nicht viele sein, höchstens zwei. So leise wie möglich pirschte sich der Arzt an. Vor der nur angelehnten Tür verharrte er kurz, holte Luft, dann hob er die Waffe und riss die Tür auf.

Sein Blick erfasste eine einzelne Gestalt, über den OP-Tisch gebeugt. Und auf dem Tisch…

Im selben Augenblick ließ sich die Gestalt nach hinten fallen, nein stieß sich vielmehr von der Behandlungsliege ab, und krachte rückwärts in Coleman. Er ging zu Boden und noch im Fallen drehte sich der Angreifer mit der Gewandtheit einer Schlange herum. Coleman wollte die Pistole herumreißen, aber irgendetwas traf seinen rechten Arm, schleuderte ihm die Waffe aus der Hand. Ein wuchtiger Hieb schleuderte seinen Kopf zurück. Er knallte mit dem Hinterkopf gegen den Betonboden. Kurz war er benommen, nahm seine Umgebung nur noch verschwommen wahr. Noch während sich sein Blickfeld langsam wieder klärte, fühlte John Coleman, wie er an der Schulter gepackt und, nicht einmal grob aber bestimmt, auf die Beine gezogen wurde. Erst jetzt kam er überhaupt dazu, seinen Gegner genauer ins Auge zu fassen.

Die erste Überraschung war, dass sein Gegenüber keine Waffe auf ihn gerichtet hatte – sondern vielmehr Colemans Pistole einfach aufhob und einsteckte. Die zweite Überraschung war, dass sein Gegenüber ein Weißer war. Und drittens war es eine Frau. Eine Frau, die allerdings aussah als wäre sie buchstäblich durch die Hölle gegangen. Sie trug einen Tarnanzug und eine Panzerweste und schien sich kaum noch auf den Beinen halten zu können. Tarnfarbe und Staub gaben ihrem Gesicht etwas unheimlich Maskenhaftes. Ihre Kleidung war blutbesudelt, und offenbar konnte sie ihren linken Arm nicht richtig gebrauchen. Das hatte sie aber nicht daran gehindert, Coleman binnen Sekunden zu überwältigen und zu entwaffnen. Die grünen Augen der Frau musterten John Coleman wachsam, aber nicht feindselig: „Alles in Ordnung? Sie sind Arzt?" Ihre Stimme klang besorgt, drängend.

„Ja, ich bin Arzt. Was zum Teufel wollen…"

„Gut. Sehen Sie sich ihn an." Damit wurde John Coleman zum OP-Tisch geschoben. Jetzt fiel ihm überhaupt erst richtig auf, dass dort jemand lag. Der Mann trug dieselbe Uniform wie die Frau, hatte aber offensichtlich weniger Glück als sie gehabt. Ein massiver Metallsplitter ragte aus seiner Brust, hatte die Panzerweste durchschlagen, als hätte man dem Mann ein Bajonett in den Leib gerammt. Der Mann regte sich nicht. Coleman warf nur einen kurzen Blick auf den Körper: „Aber der Mann ist tot, verdammt!"

„Sie können ihn sich doch mal wenigstens ansehen! Ich bezahle Sie dafür!" Die Stimme der Frau klang angespannt, fast ängstlich – als wollte sie nicht wahrhaben, was er ihr gesagt hatte.

„Geld!" Coleman schnaubte verächtlich. Wut darüber, von dieser verwundeten Frau überwältigt worden zu sein, mischte sich mit einem Gefühl von Abscheu gegenüber dem, was sie und ihr Kamerad verkörperten. John Coleman hatte keinen Zweifel, welchen Beruf die Beiden hatten. Zur UN gehörten sie jedenfalls nicht. Und wenn er sich ihre Ausrüstung betrachtete, das Auftreten und das Verhalten der Frau… Dann blieb nur eine Antwort übrig – Söldner. Colemans Stimme klang hart, Wut und Frustration über all jene Kriege, die er erlebt hatte, die immer wieder von Söldnern geschürt und angeheizt worden waren, ließen ihn seine übliche Ruhe vergessen: „Ich sage, der Mann ist tot. Und meine Aufgabe ist es, den Opfern zu helfen – nicht den Tätern."

Laras Geduldsfaden riss endgültig. Sie hatte Jean Roux aus der Festung gebracht, und es bis hierher geschafft. Sie war Renarts Männern und der kongolesischen Armee entkommen. Sie konnte jetzt nicht einfach aufgeben. Das durfte nicht das Ende sein. Plötzlich hatte sie ihre Pistole in der Hand, richtete den Lauf auf den Kopf des Arztes. Laras Hand war sehr ruhig, ihre Stimme pures Eis: „Sie werden ihn untersuchen. Oder ich jage Ihnen eine Kugel in den Kopf. Auf der Stelle…" Sie entsicherte die Waffe: „SOFORT!"

John Coleman starrte seine Gegenüber an – und er glaubte in ihren Augen seinen eigenen Tod zu sehen. Diese Frau war vielleicht am Rande des Zusammenbruchs, verwundet und allein. Aber das machte sie nur noch gefährlicher. Seine Stimme klang rau, stockend: „Ich…kann ja mal nachschauen." Langsam senkte sich die Waffe.

John Coleman beugte sich über den OP-Tisch. In den vertrauten, tausendmal angewendeten Handgriffen fand er etwas von seiner üblichen Sicherheit wieder. Er überprüfte Puls und Atmung, öffnete dem Mann die Augen und leuchtete mit einer kleinen Taschenlampe in die Pupillen. Unwillkürlich stockte Coleman, trat einen Schritt zurück: „Das gibt es doch nicht…"

„Lebt er?" Die Stimme der Frau klang jetzt merkwürdigerweise zögernd, unsicher. Aber John Coleman achtete nicht weiter darauf: „Ja – noch. Hören Sie, ich kann das alleine nicht schaffen. Verstehen Sie? Ich brauche dabei Hilfe. Das heißt, ich muss einige meiner Mitarbeiter holen. Wenn Sie mir das nicht gestatten, dann wird Ihr Freund auf jeden Fall sterben. Und stecken Sie die Waffe weg – wir können nicht vor dem Lauf einer Pistole operieren."

Die Frau nickte und gab den Weg frei. Erschöpft ließ sie sich auf einen Stuhl fallen. Sie schloss kurz die Augen, wirkte mit einmal nur noch müde. John Coleman überlegte kurz, ob er es wagen sollte, die Frau zu entwaffnen – doch nein. Er erinnerte sich zu gut daran, wie leicht sie ihn hatte überwältigen können. Außerdem, egal was er vorhin gesagt hatte, zuallererst war er Arzt. Und der Mann auf dem OP-Tisch lebte, entgegen jeder Wahrscheinlichkeit. John Coleman würde alles tun, was er konnte, um ihn zu retten. Das hatte er geschworen, als er Arzt geworden war, und das würde er halten. Sogar gegenüber einem verdammten Söldner.

Lara nahm ihre Umgebung nur noch verschwommen war. Der Arzt – sie kannte nicht einmal seinen Namen – würde Jean Roux tatsächlich operieren. Es gab also noch eine Chance. Sie bemerkte nicht die misstrauischen oder neugierigen Blicke, die man ihr gelegentlich zuwarf. Der weiße Arzt schien sie jetzt völlig zu ignorieren. Sein schwarzer Kollege und die schwarze Krankenschwester, die ihm bei der Arbeit halfen, schafften es nicht so leicht, die bewaffnete, verwundete Frau im Tarnanzug zu ignorieren, die auf einem Stuhl zusammengesunken war und halb zu schlafen schien. Es fiel Lara schwer, sich zu konzentrieren, oder auch nur halbwegs zusammenhängend zu denken. Sie war so müde… Seit etwa vierundzwanzig Stunden war sie auf den Beinen. Sie war verwundet, der Blutverlust machte sich langsam bemerkbar. Sie würde diesen Arzt bitten…

„Sie da, Söldnerin." Sie blickte auf. Der weiße Arzt stand vor ihr. Merkwürdigerweise hielt er einige zerknitterte, blutbefleckte Blätter Papier in der Hand: „Das hatte Ihr Freund unter der Panzerweste verborgen. Ich nehme an, dass war es, worum es Ihnen ging. Nehmen Sie schon. Ich hoffe, das war es wert." Er warf ihr die Papiere in den Schoß und drehte sich wieder um. Sie starrte einige Augenblicke verständnislos auf die Dokumente, begriff nicht, was der Arzt ihr hatte sagen wollen. Was hatte er gemeint? Lara rieb sich die Augen und starrte auf die Papierblätter, bis die Ziffern und Buchstaben nicht mehr vor ihren übermüdeten Augen zu tanzen schienen und stattdessen Wörter und Zahlenkolonnen bildeten. Selbst dann dauerte es einige Minuten, bis sie das Gelesene auch begreifen konnte. Diese Papiere schienen Geldtransaktionen zu belegen, große Summen, die über verschiedene Konten verschoben wurden. Immer wieder tauchte die kongolesische Nationalbank auf, aber ebenso einige der bedeutendsten Schweizer Banken, die Bank of England… Und daneben gab es peinlich genau aufgelistete Waffenbestände, Tonnen von Kriegsgerät, die angeliefert und weitergeleitet worden waren. Schnellfeuerwaffen, Raketenwerfer, Mörser, Munition – genug Waffen, um eine Armee aufzustellen.

Einige Namen wurden immer wieder genannt. Aber es brauchte einige Zeit, bis sie begriff, was Kürzel „Kab." oder „UNITA" bedeuteten. „Kab." stand für Kabila, und die UNITA war eine angolanische Guerillagruppe. Die Geld- und Waffentransfers umfassten einen Zeitraum von mehr als zehn Jahren. Es musste um viele Millionen Dollar gehen. Aber sie verstand immer noch nicht, woher Roux diese Liste haben konnte. In Renarts Basis war er eigentlich immer direkt neben ihr gewesen, hatte gar nicht die Zeit gehabt, nach irgendwelchen Papieren zu suchen. Dann begriff sie. Die Dokumente mussten in dem Koffer gewesen sein, den Jean Roux wohl Robert Anjou abgenommen hatte, bevor er den Verräter getötet hatte. Aber warum hatte Jean diese Dokumente dann aufgehoben? Und warum hatte er ihr nichts davon gesagt? Wieder und wieder überflog sie die einzelnen Seiten, suchte nach einer Antwort. Und dann fand sie sie die Lösung. 1993/ 94 waren Geldtransaktionen im Wert von mehreren Millionen Dollern verzeichnet – Geld, dass offenbar von einer französischen Bank über ein kongolesisches Konto weitergeleitet worden war. Ein Konto, auf das Renart Zugriff hatte. Das Geld ging an mehrere Konten bei der ruandischen Nationalbank. Und auf der letzten Seite tauchte an zwei Stellen ein neues Kürzel auf. Vor drei Jahren war noch einmal viel Geld auf Renarts Konten geflossen und dort geblieben. Geld, dass die Sicherheitsfirma ‚Faucon' transferiert hatte…

Plötzlich fühlte Lara, wie ihr kalt wurde, wie sich in ihrem Kopf alles zu drehen begann. Das konnte doch nicht sein – oder doch? Aber wenn das stimmte, was sie vermuten musste, was hatte Roux dann…

„Söldnerin." Sie blickte auf. Der Arzt stand wieder vor ihr. Seine dunklen Augen wirkten müde, aber energisch, seine Stimme klang leise, doch eindringlich: „Sie waren das, mit diesem Feuergefecht, nicht war? Ich habe vorhin einen Funkspruch erhalten – die kongolesische Armee ist alarmiert worden. Angeblich wurde ein Militärposten angegriffen. Von Rebellen oder Söldnern. Das waren Sie."

Lara schüttelte langsam den Kopf. Zuviel auf einmal: „Das war kein Militärposten."

„Spielt keine Rolle. Jedenfalls sind die Armee und die Gendarmerie hinter Ihnen her. Die wollen Sie haben, tot oder lebendig. Man wird nach Ihnen suchen. Verstehen Sie? Ich traue meinen Leuten. Ich kann Ihren Freund verstecken. Aber Sie können ihn keinesfalls mitnehmen. Und das Beste wäre, wenn Sie eine falsche Spur legen können."

„Wie meinen Sie das?"

„Die Armee sollte besser nicht einmal auf die Idee kommen, das Krankenhaus zu überprüfen. Zum Beispiel, weil sie sich sicher sind, dass Sie nicht einmal hier waren. Hat Sie jemand bemerkt, als Sie hier angekommen sind?"

„Nein. Nein, ich war vorsichtig."

„Kann ich mir denken. Werden Sie es tun? Werden Sie die Armee ablenken? Ansonsten stirbt Ihr Freund sowieso. Genau wie wahrscheinlich auch ich, meine Mitarbeiter, meine Patienten – falls Ihnen das irgendetwas bedeutet."

Lara starrte den Arzt an, aber sie erkannte die Wahrheit in seinen Worten. Inzwischen glaubte sie zu wissen, wie hier der Krieg geführt wurde. Aber konnte sie dem Arzt trauen? Dann begriff sie, sie hatte wieder einmal keine Wahl. Wenn die Armee sie hier aufstöberte, würden sie und Jean auf jeden Fall sterben. Und außerdem viele Unschuldige. Wenn sie nicht tat, was der Arzt sagte – dann versuchte der oder einer seiner Mitarbeiter vielleicht noch, mit der Armee einen Deal auszuhandeln. Und sie und Roux würden dabei die Ware sein.

Sie warf Jean Roux einen Blick zu, aber immer noch war da kein Zeichen, keine Regung. Er hätte genauso gut tot sein können. Es gab vieles, was sie ihn fragen wollte, was sie jetzt endlich erfahren musste. Doch zuallererst...: „Wird er es schaffen?"

Der Arzt zuckte müde mit den Schultern: „Das kann ich Ihnen nicht sagen. Vielleicht. Ihr Freund scheint mehr Leben zu haben, als eine Katze. Eigentlich müsste er längst tot sein. Er hat viel Blut verloren. Und die Wunden… Dennoch, er hat eine Chance. Aber mehr nicht."

Lara nickte wie automatisch. Hier würde sie also keine Antworten erhalten, vielleicht niemals: „Also gut. Aber wenn Sie…" Der Arzt schnaubte kurz: „Ich kenne den Text, die Drohung können Sie sich sparen. Zuallererst bin ich Arzt. Und da Sie sich schon mit der kongolesischen Armee anlegen wollen – zeigen Sie mir mal Ihre Schulter, Söldnerin. Sonst gehen Sie noch an einer Sepsis ein." Fast teilnahmslos ließ Lara es zu, dass der Arzt sich um ihre Schusswunde kümmerte. Wie er ihr knapp mitteilte, hatte sie Glück gehabt, ein sauberer Steckschuss. Binnen Kurzem war die Wunde gereinigt und verbunden: „Jetzt sollten Sie aber verschwinden, Söldnerin."

Sie nickte: „Ja…Danke."

Der Arzt schnaubte wieder: „Ich tue das nicht aus Freundschaft." Dann zögerte er kurz und sah sie noch einmal direkt an: „Hätten Sie mich wirklich erschossen, Söldnerin?"

Sie wusste keine Antwort. Stumm erwiderte Lara den Blick des Arztes. Doch dann war sie es, die als Erste den Blick abwandte. Der Arzt nickte langsam und wandte sich wieder seiner Arbeit zu. Sein Rücken versperrte Lara den Blick auf Jean Roux regloses Gesicht, als sie sich zum Gehen wandte.

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Acht Stunden später, Demba, etwa vierzig Kilometer nordwestlich von Kananga

„Das kann nicht sein." Im Gegensatz zu ihren Worten klang Laras Stimme allerdings so, als würde sie durchaus glauben, was sie gerade gehört hatte. Bryce war mehr als erleichtert gewesen, als er nach etwa vierundzwanzig Stunden Funkstille endlich wieder ein Lebenszeichen von Lara erhalten hatte. Und diesmal hatte er sich nicht lange mit Fragen aufgehalten, stattdessen hatte er sie kaum zu Wort kommen lassen, während er ihr hastig erzählte, was er herausgefunden hatte.

„Es stimmt aber, Lara. Marcel Renart war vielleicht nicht bei der Fremdenlegion, aber er war französischer Fallschirmjäger. 1961 gehörte er zu den Truppen, die gegen die Unabhängigkeit Algeriens von Frankreich putschten. Danach war in der Armee natürlich kein Platz mehr für ihn. Er wurde Söldner. Glaube ich jedenfalls. Es gibt da einige Hinweise… angeblich hat er zeitweise der OAS angehört." Also war Marcel Renart doch Soldat gewesen – und ein Terrorist und gescheiterter Putschist dazu. Die OAS war eine geheime Organisation gewesen, die gegen die Unabhängigkeit Algeriens von Frankreich mit Bomben und Terror gekämpft hatte. Mehrmals versuchte sie, den französischen Präsidenten de Gaulle zu ermorden. Einmal, Mitte der Sechziger, war ihr dies mit Hilfe eines ausländischen Killers sogar beinahe gelungen.

„Aber das ist noch nicht alles. Über seine Geschäfte konnte ich nicht viel herausbekommen, das lief wohl fast alles über den Schwarzmarkt. Aber über Renart müssen Unsummen gelaufen sein, die an diverse Warlords und Diktatoren weitergeleitet wurden. Ich glaube…"

„Ich weiß, was du glaubst." Lara starrte auf die blutgetränkten Dokumente, die neben ihr lagen. Inzwischen wusste sie es tatsächlich. Oder glaubte es jedenfalls zu wissen.

„Aber noch was ganz anderes, Lara. Ich habe mich noch mal mit den Grabungsplänen Jacksons beschäftigt. Er hatte nämlich auch Kontakte mit der UN. Und die haben ihn gebeten, für sie an einer bestimmten Stelle zu graben."

„Und das sagst du mir erst jetzt? Außerdem, wieso interessiert sich die UNO für archäologische Ausgrabungen? Das macht doch keinen Sinn."

„Weißt du, was da vor Ort für ein Chaos herrscht? Ich glaube, die eine Hälfte der Blauhelme weiß nicht, was die andere Hälfte macht. Von den zivilen Angestellten mal ganz zu schweigen. Und diese Anfrage an Pieter Jackson scheint eher informell gewesen zu sein, eine Art Gefälligkeit. Das lief anscheinend nur über einen einzigen UN-Offizier und Pieter – direkt, ohne den Rest des Ausgrabungsteams mit einzubeziehen. Oder das kongolesische Nationalmuseum. Alles sehr diskret. Es ging auch nicht um archäologische Ausgrabungen. Zumindest nicht bei der letzten Grabungsstelle. Sondern es ging darum, Beweise für einen Massenmord zu finden."

„Aber dann…"

„Genau. Irgendjemand hat gewusst, oder zumindest geahnt, was Pieter an der dritten Ausgrabungsstelle finden könnte. Genauer, er hat ihn sogar direkt drauf angesetzt. Und Pieter…"

„Pieter hat der UN natürlich gerne geholfen. Erst Recht, wenn es um die Aufdeckung eines Kriegsverbrechens ging. Vermutlich hat er das sogar für seine Pflicht gehalten."

„Du kanntest ihn besser als ich. Aber jetzt halt dich fest, ich hab den Namen des UN-Manns, der Pieter um den Gefallen gebeten hat. Capitain Josephe Montcalm, aktiver Offizier der französischen Armee, genauer der 11. Fallschirmjägerdivision, 6e Regiment Parachutiste d'Infanterie de Marine. Und weißt du, welche Einheit noch zur 11. Fallschirmjägerdivision gehört?"

„Ja." Sie wusste es. Das 2e R. E. P.

„Ist dir klar, was das bedeutet?"

„Ich bin kein Idiot."

„Und was willst du jetzt tun?"

„Ich will endlich die Wahrheit erfahren. Die haben mich zum letzten Mal belogen."

„Was soll das heißen? Lara? Lara!" Aber da hatte sie schon abgeschaltet.

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Drei Stunden später, Kananga, Sicherheitsfirma „Faucon"

Capitaine Jalouzet war alleine. Manche Dinge konnte er nicht einmal seinen Männern anvertrauen, egal wie verlässlich und loyal sie waren. Er stand am Fenster seines Büros und starrte nach draußen, aber seine Sinne waren ganz und gar auf die trockene, kühle Stimme gerichtet, die aus dem Telefonhörer schallte: „Dazu waren Sie nicht autorisiert, capitaine."

„Sie wissen, dass ich weitestgehend freie Hand erhalten habe. Eben wegen der speziellen…Natur meines Auftrages gibt es keine offizielle Autorisation für mich. Und auch keine Einschränkungen."

„Dennoch, Sie hätten sich absprechen sollen, bevor Sie endgültige Maßnahmen einleiten. Es geht hier schließlich nicht nur um Sie und mich."

„Das weiß ich, mon general. Aber Sie wissen doch, dass das zu lange gedauert hätte. Was verstehen schon Zivilisten davon… Bevor die zu einer Entscheidung gekommen wären, hätte Renart seinen Deal bereits durchgezogen und wäre uns entkommen."

„Und es ist alles vernichtet worden? Keine Spuren?"

„Keine, mon general." Hinter Jalouzet öffnete und schloss sich die Zimmertür lautlos. Von seinem Standpunkt aus konnte der Ex-Capitaine unmöglich sehen, was hinter seinem Rücken geschah.

„Der Erfolg wird Ihnen mal wieder Recht geben, Jalouzet. Ich werde Ihnen noch einmal den Rücken freihalten. Aber treiben Sie es nicht zu weit. Es wäre schade, wenn man zu der Ansicht käme, Sie wären zu unzuverlässig für Ihren Posten."

„Ich verstehe, mon general."

„Das hoffe ich. Und sagen Sie Ihren Männern – Gut gemacht."

„Jawohl, mon general." Jalouzets Gesprächpartner legte auf, doch der capitaine blieb noch ein paar Sekunden am Fenster stehen und sah nach Draußen. Als seine Stimme durch die Stille des Raumes schallte, klang sie ausdruckslos: „Wie lange stehen Sie schon da?"

„Lange genug." Laras Stimme war leise und ruhig. Gefährlich ruhig: „Ich nehme an, das war Ihr Auftraggeber."

„Richtig. Mein Kompliment, dass Sie an meinen Leuten vorbeigekommen sind. Aber was wollen Sie eigentlich hier?"

„Sie haben Ihren Chef angelogen. Sie haben nicht alle Spuren beseitigen können." Mit diesen Worten warf Lara einen Stapel Dokumente zu. Jalouzet überflog die Blätter, dann richteten sich seine dunklen, stechenden Augen wieder auf Lara: „Interessant. Aber woher haben…Jean. Sie haben diese Dokumente von Jean." Jalouzet schien keine Antwort zu erwarten. Mit der linken Hand strich er leicht über die Papiere: „Das sind natürlich nur Kopien, richtig? Die echten Dokumente… Vermutlich haben Sie die irgendwo versteckt. Was wollen Sie von mir? Sicherlich kein Geld."

„Ich will endlich die Wahrheit erfahren. Die WAHRHEIT, und nicht die Lügen und Entstellungen, mit denen Sie und Roux mich abgespeist haben."

„Sie wollen also die Wahrheit wissen? Die kennen Sie bereits. Ich habe Sie nicht angelogen. Ich habe vielleicht…ein wenig weggelassen. Manchmal ist es besser so."

„Besser für wen?"

„Auch für Sie, Croft. Manche Dinge wollen Sie vielleicht gar nicht wissen."

„Überlassen Sie diese Entscheidung mir. SIE haben Pieter Jackson dazu gebracht, die letzte Ausgrabung zu unternehmen. Nur deswegen wurde er ermordet. Weil Sie unbedingt wollten, dass er die Leichen findet. Warum? Warum konnten Sie das nicht selber machen? Warum mussten Sie Pieter da mit reinziehen? Warum mussten Unschuldige sterben?"

„Diese Frage stellen Sie? Hier? Im Kongo? Sie haben wohl noch nicht begriffen, wie es hier zugeht! Ich habe Ihren Freund…rekrutiert, eben weil er nun einmal ein Außenstehender war. Wenn eine unabhängige Forschungsexpedition ein Massengrab findet, ein richtiger Archäologe, dann hat die Sache Gewicht. Außerdem konnte ich nicht allen meinen Kontakten trauen. Wenn ich selber eine Ausgrabung organisiert hätte, dann hätte das zu viel Aufsehen erregt. Die falschen Leute wären aufmerksam geworden. Ihr Freund Pieter Jackson schien mir einfach geeigneter zu diesem Zeitpunkt. Ich dachte, Renart würde nie auf die Idee kommen, dass ausgerechnet eine archäologische Expedition seine schmutzige Vergangenheit freilegen würde."

„Und Jean Roux war Ihr Mann bei der Expedition."

„Jean? Nicht so, wie Sie denken. Er erschien geeignet, die Sicherheit der Expedition zu übernehmen. Das war mein zweiter Fehler. Mein erster Fehler war, dass ich annahm, Renart würde nie etwas von der Ausgrabung erfahren. Und ich dachte, Jean wäre gut genug, die Expedition zu schützen. Wie gesagt, mein Fehler." Lara fühlte, wie kurz in ihr Wut aufstieg – Wut auf Jalouzet. Sie erinnerte sich zu gut daran, wie Roux sein ‚Versagen' gequält hatte. Auch wenn er sie belogen hatte – das hatte er nicht nur vorgetäuscht. Und für Jalouzet war dies offenbar nicht mehr als ein unangenehmer Kalkulationsfehler. Aber sie verbarg ihre Wut, während Jalouzet fortfuhr: „Aber wie dem auch sei, es wäre dumm gewesen, Jean zuviel zu erzählen. Falls Sie es noch nicht gemerkt haben, der sergent-chef und ich…wir haben gewisse Differenzen. Sie wissen vielleicht, warum. Hätte ich ihm direkt den Auftrag gegeben – er hätte es wohl getan. Aber er hätte Fragen gestellt. Es war besser, ihn nur zur rechten Zeit ins Gespräch zu bringen, ihm über einen Mittelsmann den Tipp für einen guten Job zu bieten. Er war recht billig anzuheuern. Nach Ruanda, nach ‚Operation Hydra' konnte ich ihm nicht mehr völlig trauen. Ich hielt ihn für gut genug, ihn ins Spiel zu bringen – aber nicht für vertrauensvoll genug, um ihn im vollen Umfang einzuweihen. Für Jean war die Expedition nur ein einfacher Sicherungsauftrag. Und wozu sollte ich die Sache für ihn unnötig verkomplizieren?"

„Hätten Sie ihm die Wahrheit gesagt, dann hätte er die Expedition vielleicht besser schützen können."

„Vielleicht hätte er mir aber auch gesagt, ich sollte mich zum Teufel scheren. Außerdem, egal was er behauptet, er ist immer noch Legionär. Und Legionäre fragen nicht nach den Gründen für einen Krieg. Sie führen ihn nur – und sind bereit, mit dem Ruf ‚Vive la legion!' zu sterben."

Lara Hand verkrampfte sich um die Waffe, die sie auf Jalouzet gerichtet hielt. Ihr Mund verzerrte sich vor Abscheu, aber ihre Stimme blieb kalt: „Halten Sie den Mund! Ihre faschistoide Legionärsphilosophie finde ich ehrlich gesagt zum Kotzen. Deswegen bin ich nicht hier. Nennen Sie mir lieber einen Grund, warum ich Sie nicht auf der Stelle erschießen soll."

Jalouzet verzog abschätzig den Mund: „Bestimmt nicht mit einer Waffe ohne Schalldämpfer. Sie mögen ja gut sein, aber nicht einmal Sie kämen dann noch lebend hier raus."

„Vielleicht bin ich ja bereit, das zu riskieren."

Jalouzet schien nicht beunruhigt. Ein dünnes, kaltes Lächeln umspielte seine Lippen, auch wenn es seine Augen nicht erreichte. Ein Lächeln, das Lara zeigte, dieser Mann glaubte immer noch, alle Trümpfe in seiner Hand zu haben: „Übrigens, er wird es schaffen. Ich glaube, er kommt durch."

„Wer?" Aber sie wusste die Antwort schon.

„Jean, natürlich. Glauben Sie, es entgeht mir, wenn ein UN-Arzt einen schwer verwundeten Söldner versorgen muss, während ihm eine Frau eine Pistole an den Kopf hält? So etwas…spricht sich schnell rum."

„Was wollen Sie…"

„Roux ist einer MEINER Männer. Ich, und nur ICH bestimme, wann einer von ihnen stirbt. Oder lebt. Verstehen Sie?"

In Laras Augen stand jetzt blanke Wut. Egal, ob Roux sie nun verraten hatte. Was Jalouzet jetzt andeutete…

„Sie verdammter…"

„Der sergent-chef wurde in ein Krankenhaus…meiner Wahl verlagert. Er wird bestens behandelt. Und Sie geben mir die Papiere, die Sie haben."

„Warum sollte ich das tun? Jean…ist nicht besser als Sie. Er hat mich von Anfang an nur belogen. Er war es, der Ihnen verraten hat, wann und wie wir in Renarts Festung eindringen, nicht wahr? Machen Sie mir nicht weiß, dass Sie nur zufällig dort aufgetaucht sind. Warum hat er das getan? Wofür hat er mich verraten…"

„Verraten? Das ist Ihre Sicht der Dinge. Manche Eide, manche Bindungen sind nun einmal stärker als andere. Jean kannte seine Pflicht. Man lässt die Legion nicht einfach hinter sich. Jedenfalls kein Mann wie Jean. Das ist seine Stärke – das ist seine Schwäche. Vielleicht glaubt er die Legion zu hassen. Aber er kommt nicht von ihr los. So wie er sich selber hasst, und doch er selber bleibt, egal welchen Namen er verwendet."

„Wollen Sie mir erklären, er hat Sie nur aus alter Kameradschaft informiert? Nachdem Sie ihn vorher zusammengeschlagen haben? Oder war das auch nur gespielt?"

„Nein. Bedenken Sie, Jean war der einzige Überlebende der gesamten Expedition. Abgesehen von diesem Verräter, Robert Anjou – aber von dem wusste ich zu diesem Zeitpunkt noch nichts. Jean verschwindet nach dem Massaker einfach von der Bildfläche, taucht ein paar Monate später plötzlich wieder im Kongo auf, mit einer Frau im Schlepptau. Einer Frau, die sich offenbar in Afrika auskennt, die das Können und das Auftreten einer Kommandosoldatin hat. Dann stellt er auf einmal Fragen über Dinge, die er eigentlich nicht wissen dürfte – und die ihn nichts angehen. Zeitweise erschien mir seine Loyalität…etwas zweifelhaft. Ich musste sichergehen. Im Übrigen haben Sie natürlich Recht. Er hat nicht nur einfach aus alter Waffenbrüderschaft kooperiert. Hätte er das behauptet, ich wäre mir sicher gewesen, dass er lügt."

„Und was haben Sie ihn angeboten? Geld?"

„Sie sollten ihn inzwischen besser kennen. Jean kann ein recht komplexer Charakter sein. Er WAR einer meiner besten Leute. Ein guter Soldat. Mehr noch – ein guter Mann. Und das war sein Problem. Geld? Nein, darum ging es ihm nicht. Darum ging es ihm nie. Ich glaube, er hat eigentlich immer nur nach etwas gesucht – eine Sache, eine Idee – für die er kämpfen könnte. Das ist ein sehr deutscher Charakterzug, finden Sie nicht?" Der capitaine grinste zynisch. Langsam war Lara die Spielchen leid. Jalouzet schien dies hier fast zu genießen: „Was haben Sie ihm angeboten, Jalouzet?"

„ Was ich ihm im Gegenzug für seine Kooperation angeboten habe? Nun zuallererst sein eigenes Leben. Wie viel ihm das auch immer wert sein mag. Und Informationen. Glauben Sie wirklich, ich hätte Ihnen sonst Renarts Namen geliefert? Und was Jean sonst daran verdiente…

Er bekommt seinen ehrenvollen Abschied, die französische Staatsbürgerschaft. Wir haben Jean Rouget sterben lassen – wir können ihn genauso ehrenvoll aus der Legion entlassen. Papier ist geduldig. Und außerdem bekam Jean ein Versprechen. Das Versprechen, dass ich Sie nicht töten lasse. Und ich halte meine Versprechen."

„Was?"

„Sie waren ein Unsicherheitsfaktor. Und als ein solcher leben Sie gefährlich. Ich konnte nicht zulassen, dass Sie eventuell unseren Interessen Schaden zufügen. Indem ich wusste, was Sie taten, was Sie planten – waren Sie berechenbarer. Und damit kein Risiko mehr. Keine…Gefahrenquelle, die ausgeschaltet werden musste."

„Ich habe ihn nicht darum gebeten!" Das hatte sie eigentlich nicht sagen wollen.

„Natürlich nicht. Das hätten Sie niemals verlangt. Aber vielleicht hat er es auch deswegen getan."

Laras Hand blieb ruhig, der Pistolenlauf zielte weiter auf Jalouzet. Aber innerlich war sie alles andere als ruhig. Sie begriff gar nichts mehr, am wenigstens diesen kalt lächelnden Mann vor ihr, für den die auf seinen Kopf gerichtete Waffe gar nicht zu existieren schien. Und Jean Roux… Sie schüttelte den Kopf. Sie durfte sich nicht verwirren oder ablenken lassen, und noch weniger durfte sie Schwäche zeigen. Sie musste weitermachen: „Sie wollten, dass Renart stirbt. Spätestens seit unserem Treffen in Kananga, nicht wahr?"

„Es war eine günstige Gelegenheit. Und indem ich Sie beide auf ihn ansetzte, bekam ich zwei Späher, die Renarts Festung auskundschaften. So konnte ich mich über die Aktivitäten dort informieren lassen, ohne selber jemanden vor Ort haben zu müssen. Und sie beide, Sie und Jean – sie haben exzellente Arbeit geleistet. Als die Situation günstig war, brauchte ich nur noch meine Männer ausrücken zu lassen. Außerdem…es hat mich auch interessiert, wie gut Sie sind. Und wie gut Jean noch war."

„Und warum haben Sie nicht einfach gewartet, bis wir Renart nach draußen geschafft hatten? Wozu der Überfall? Oder warum haben Sie nicht Jean den Auftrag gegeben, Renart zu töten? Er hätte ihn mit dem Scharfschützengewehr erschießen können, ohne Risiko."

„Erstens war ich mir nicht sicher, ob Jean das für mich tun würde. Es lag ihm sehr viel daran, dass Sie von unserer kleinen Abmachung nichts erfuhren. Außerdem wollte ich nicht nur Renarts Tod. Seine Organisation sollte…exemplarisch bestraft werden. Der Angriff war eine Botschaft. Zudem mussten wir sicher gehen, dass seine Aufzeichnungen und Dokumente vernichtet wurden. Nein, der Angriff war sicherer. Ehrlich gesagt habe ich auch nicht geglaubt, dass Ihre verrückte Zwei-Mann-Aktion gelingt. Jean glaubte das übrigens auch nicht."

„Warum ist er dann mitgekommen?"

Jean grinste wieder: „Das wissen Sie doch wohl am Besten. Ich sagte doch, Jean suchte etwas, woran er glauben konnte. Etwas wofür es sich zu kämpfen lohnte. Etwas…oder jemand."

„Hören Sie doch auf! Nächstens erzählen Sie mir noch, dass er mich liebt." Lara musste den Impuls unterdrücken, Jalouzet das zynische Grinsen aus dem Gesicht zu prügeln. Aber es war zu gefährlich, sich dem Ex-Capitaine auf Schlagweite zu nähern. Auch wenn Jalouzet ruhig, fast lässig wirkte, sie unterschätzte diesen Mann nicht.

„Das haben Sie jetzt gesagt, Croft. Von Liebe verstehe ich nicht viel. Aber von Loyalität. Vielleicht denken Sie, Jean hätte Sie verraten. Das kann sein. Aber eins weiß ich mit Sicherheit – er war bereit, Ihnen zu folgen. Er war bereit, für Sie zu sterben."

„Warum wollten Sie eigentlich, dass Renart stirbt? Und erzählen Sie mir nicht, es ging nur um Geschäftsinteressen. Laut den Papieren…"

Jalouzet zuckte mit den Schultern, seine Stimme klang fast beiläufig: „Natürlich haben Sie Recht. Renart war unser Mann."

„Und das heißt, er arbeitete für den französischen Geheimdienst nicht wahr? Genauso wie Sie."

„Richtig. Warum fragen Sie eigentlich noch, wenn Sie es sowieso schon wissen?"

„Ich wollte es einfach noch mal aus Ihrem Mund wissen. Sie haben einem OAS-Mann vertraut?"

„Das ist so lange her, dass es schon fast nicht mehr wahr ist. Heute weiß kaum jemand noch, was die OAS eigentlich war. Außerdem – er half uns schon damals, einige OAS-Führer auszuschalten. Das war seine Einstiegskarte für den Geheimdienst. Er war sehr nützlich. Und ja, man wusste, wie er sich sein Startkapital besorgt hatte. Vielleicht hat sogar sein damaliger Kontaktmann an dieser Schweinerei mitverdient. Wer weiß? Der Mann ist schon lange tot. Solange Renart das tat, was man ihm sagte, hat nie jemand genauer nachgehakt. Geheimdienste und Politiker sind wie Huren. Sie steigen mit jedem ins Bett, er muss ihnen nicht gefallen. Über Renart liefen all jene Operationen, die zu riskant, zu schmutzig waren, um legal eingefädelt zu werden. Geld und Waffen für Diktatoren, Warlords und Rebellen. Im Kongo, in Ruanda, in Angola… Französische Firmen, die an Diamanten, Uran und Coltan interessiert waren, nutzten seine Kontakte."

„Und Roux? Hat er davon gewusst?"

„Spielt es eine Rolle? Er ist doch nur ein ehemaliger Legionär. Er hat Sie verraten und belogen, nicht? Waren das nicht Ihre Worte? Was bedeutet es schon, ob er auch von unseren…Geschäften mit Renart wusste?"

„HAT ER DAVON GEWUSST?"

„Nein. Über diese…Aspekte unseres Engagements wurde er nie informiert. Und Sie wissen auch ganz genau, warum. Dazu hatte der sergent-chef etwas zu unflexible Standards."

„Wollte Renart aussteigen? Haben Sie ihn deswegen getötet?"

„Wenn es nur das gewesen wäre… Wir hätten ihn ziehen lassen. Aber Renart war schon immer eine Ratte. Erst hat er seinen Eid auf die Vierte Republik gebrochen, als er sich 1961 den Meuterern anschloss. Dann verriet er seine Mitkämpfer bei der OAS. Verbrecher zwar, und Terroristen – aber auch seine Kameraden. Und schließlich wollte Renart Frankreich ein zweites Mal verraten. Er war schon seit einiger Zeit…unzuverlässig geworden. Er wirtschaftete in die eigene Tasche, betrieb Privatpolitik, lieferte Waffen und Drogen an Warlords, ohne sich mit Paris abzusprechen. Er mischte auch im Menschenhandel mit. Irgendwann kamen Paris dann langsam Zweifel, ob man Renart wirklich noch unter Kontrolle hatte. Meine Firma - ‚Faucon' - war der der letzte Versuch, Renart wieder unter Kontrolle zu bekommen. Ich sollte Kontakte mit ihm anknüpfen. Ihn wieder auf Linie bringen. Mit Geld – oder mit seiner schmutzigen Vergangenheit. Der Mord an Zivilisten, an weißen Zivilisten – das ist keine Kleinigkeit, vor allem, wenn Renart vorgehabt hätte, sich zur Ruhe zu setzen. Wenn man den Mord publik gemacht hätte, Beweise präsentieren würde… Für den Fall, dass er dennoch nicht zur Kooperation bereit gewesen wäre, sollte mit ‚Faucon' ein Gegengewicht zu Renarts Organisation geschaffen werden. Auch mit dem Ziel, sie letztlich zu ersetzen. Wir versuchten es mit Geld. Aber das brachte nichts. Wie der Versuch ausging, Renarts Vergangenheit gegen ihn ins Spiel zu bringen, wissen Sie inzwischen. Aber Renart hatte wohl langsam begriffen, dass er etwas zu hoch gespielt hatte. Er konnte sich ausrechnen, dass wir auch zu anderen Mitteln greifen konnten. Er versuchte, uns unter Druck zu setzen. Und dann wollte er uns verkaufen."

„An wen?" In Lara verdichtete sich das Unbehagen. Was ihr Jalouzet erzählte, klang plausibel. Aber WARUM erzählte er es ihr? Für dieses Wissen waren Menschen gestorben – und dennoch plauderte der Ex-Capitaine jetzt fast beiläufig darüber. Als wüsste er genau, dass dieses Wissen niemals den Raum verlassen würde…

„Überlegen Sie doch einmal. Renart war eine Ratte, aber er war nicht dumm. Er begriff, dass er sich wahrscheinlich verkalkuliert hatte – und er wusste, dass er mich nicht einfach erpressen konnte. Also musste er sich absetzen. Mehr noch, er brauchte neue Freunde. Freunde, die an all den schmutzigen und verdeckten Operationen interessiert waren, die im Laufe der letzten zwanzig Jahre über den Kongo eingefädelt wurden. Eine Macht, die viel Geld dafür zahlen würde, um Informationen in die Hände zu bekommen, mit denen man Frankreich erpressen oder diskreditieren konnte. Jemand, der stark genug war, um Jalouzet vor unserer Rache zu beschützen – und der Verwendung haben würde für seine Organisation, seine Kontakte und seine Männer."

„Die USA."

„Genauer die CIA. Wir wussten, dass Renart Kontakte zu einem Agenten in Kinshasa hatte. Als der Mann dann vor zwei Tagen plötzlich in Kananga auftauchte, waren wir natürlich alarmiert. Offenbar sollte Robert Anjou der CIA eine erste Anzahlung in Form von Dokumenten liefern, die…für das Ansehen Frankreichs nicht unbedingt förderlich gewesen wären. Als Jean den Verräter verhörte und dann diesen Koffer öffnete, da wusste er natürlich Bescheid." Jalouzet presste kurz die Lippen zusammen.

„Und da erfuhr er auch, in welchem Umfang Frankreich das ruandische System mit Geld und Waffen unterstützt hatte. Dass Frankreich den Völkermord mitfinanzierte. Dass Renart Ihr Agent gewesen war."

„Das hätte er nicht erfahren brauchen. Und noch weniger hätte er die Dokumente aufheben sollen!"

„Aber er hat Sie trotzdem informiert."

„Wie ich schon sagte, wir hatten eine Vereinbahrung. Außerdem kennt Jean seine Pflicht. Aber nun war uns war natürlich klar, dass wir sofort handeln mussten."

„Aber davon haben Sie Jean nichts gesagt, richtig?"

„Halten Sie mich für verrückt? Außerdem, wozu? Ich hatte meine Zweifel, ob er Sie in dem Fall würde täuschen können – und ich wusste nicht, was Sie dann unternehmen würden. Außerdem bestand natürlich die Möglichkeit, dass einer von Ihnen vorzeitig in Gefangenschaft geraten würde."

„Und dieser CIA-Mann? Haben Sie den auch ermordet?"

„Halten Sie mich für einen Psychopathen? Außerdem sind die Amerikaner doch immer noch unsere Freunde…" Jalouzets Stimme troff jetzt förmlich vor Sarkasmus: „…der Mann wurde wegen angeblichen Diamantenschmuggel verhaftet. In ein, zwei Tagen dürfte er spätestens wieder frei sein, und dann kann er wieder nach Kinshasa zurückkehren. Um ein paar hundert Dollar und seine Hoffnung auf eine Beförderung ärmer, aber ansonsten unversehrt."

„Warum tun Sie das, Jalouzet?"

„Warum? Für Frankreich. Alles für Frankreich. Ich habe Männer in den Tod schicken müssen und ich habe selber getötet. Bis zu den Knien sind wir durch Blut, Dreck und Scheiße marschiert. Ich habe der Grande Nation gedient, gleichgültig, wer in Paris regierte, Gaullisten oder Sozialisten. Und hätten Le Pens Faschisten gewonnen, es hätte sich nichts geändert. Nicht hier. Und auch denen hätte ich gedient. Das müssten Sie doch verstehen, Croft. Sie sind doch auch Patriotin." Der Hohn in der Stimme des capitaines war förmlich greifbar.

„Und das rechtfertigt es, mit Massenmördern zusammenzuarbeiten? Mit Kriegsverbrechern?"

„Reden Sie nicht von Moral! Im Namen der Freiheit wird weltweit Krieg geführt, wird gefoltert und gemordet. Ihr Land spielt den Lakaien für eine wild gewordene Supermacht, die unfähig ist aus ihren Fehlern zu lernen. Die Menschenrechte nur für andere als bindend betrachtet. Sie haben kein Recht, über mich zu richten."

„Gerede! Das entschuldigt nichts. Wollen Sie so Ihr Gewissen beruhigen?"

„Nein. Wozu auch? Mein Gewissen ist schon lange tot. Aber das müssten Sie doch begreifen - Demokratie, Freiheit, der Kampf gegen den Terror… Das sind nur Lügen. Oder Träume, Albträume, mit denen fast alles gerechtfertigt werden kann. Aber mit wie viel Leidenschaft wird für sie gekämpft. Geglaubt. Und gestorben. Mein Traum, meine Lüge ist die Grande Nation. Wir sind Frankreichs fremde Söhne. Wenn wir siegen, dann feiern sie uns nicht. Und wenn wir sterben, dann trauert Frankreich nicht um uns. Aber dennoch kämpfen wir Frankreichs Kriege. Wir sind das letzte Aufgebot der Grande Nation. Wieder einmal. Wie in Indochina, wie in Algerien. Ist das nicht eine Lüge, für die es sich zu kämpfen lohnt?" Eine seltsame, zynische Belustigung schwang in den Worten Jalouzets mit, war aber im nächsten Augenblick wieder verschwunden: „Sagen Sie, Croft - wie viele Menschen war Ihnen die Rache an Renart und Krueger wert? Wie viele Leben? Und Sie maßen es sich an, Richterin zu spielen?

Wir alle - Sie, Jean und ich selber, in einem Punkt sind wir uns ähnlich. Wir haben in das Herz der Finsternis gesehen. Es ist kein Ort – es schlägt in uns selbst. In einem jeden von uns. Man kann es spüren, kann es wecken. Und dann müssen wir uns entscheiden, welchen Weg wir gehen. Dann zeigt es sich, ob wir noch fähig sind, unser eigenes Gesicht in einem Spiegel zu sehen. Sie, Sie haben sich geweigert, sich davon berühren zu lassen. Bis jetzt. Jean – ist beinahe zerbrochen. Ich weiß nicht, wie er sich letztlich entscheiden wird. Und ich – ich habe es akzeptiert."

„Sie sind ja völlig wahnsinnig."

„Vielleicht. Seit mehr als dreißig Jahren kämpfe ich Kriege, die die übrige Welt geruht zu ignorieren. Aber was spielt das schon für eine Rolle…

Croft, es liegt jetzt bei Ihnen. Sie können gehen – durch diese Tür. Ich werde Sie nicht aufhalten. Dazu sind mir meine Männer zu kostbar. Aber Sie müssen sich entscheiden. Sie werden mir diese Papiere bringen, und Sie werden den Mund halten. Tun Sie das nicht…"

„Ich könnte Sie auch einfach hier und jetzt töten. Es gibt mehr als genug Gründe dafür."

„Möglicherweise könnten Sie das. Und vielleicht, vielleicht würden Sie mich auch länger als ein paar Minuten, Stunden oder Tage überleben. Doch mein Tod würde GARNICHTS ändern. Begreifen Sie es endlich. Ein anderer würde meinen Platz einnehmen. Und wenn Sie mich töten, dann stirbt auch Jean. Sie haben ihn aus Renarts Festung geschafft. Sie sind der Armee entkommen und Sie haben ihn zu einem Arzt gebracht. Das alles hätten Sie nicht tun müssen. Sie haben Ihr Leben dabei riskiert. Sie werden ihn auch jetzt nicht im Stich lassen. Sie werden mir die Dokumente aushändigen." Jalouzets Stimme klang immer noch fast beiläufig. Lara begriff – das alles schien für ihn nur ein Spiel zu sein. Ein Spiel, das er schon lange vorher geplant und vorbereitet hatte. Sie wusste nicht, was Jalouzet ernst gemeint hatte, und was nur leeres Gerede gewesen war, um sie zu verunsichern und in die Irre zu führen. Aber als sie in die stechenden Augen des capitaine sah, fröstelte sie unwillkürlich: „Warum erzählen Sie mir das alles?"

Jalouzet grinste humorlos: „Immerhin haben Sie immer noch eine Waffe auf meinen Kopf gerichtet. Reicht das nicht als Erklärung? Außerdem… Warum nicht? Sie können nichts davon beweisen. Und ich glaube, Sie geben erst dann Ruhe, wenn Sie die Wahrheit wissen. Wie lautet Ihre Entscheidung, Croft?",

„Kann ich Ihnen trauen?"

Ihre Stimme klang eisig und Jalouzets Lächeln war ebenso kalt: „Sie kennen die Antwort. Aber Sie haben wohl kaum eine Wahl. Als…Geste meines guten Willens, folgender Vorschlag: mir reicht es, wenn Sie mir den Aufbewahrungsort der Papiere erst dann verraten, wenn Sie das Land verlassen. Ich glaube…ich kann Ihnen so weit trauen, dass ich Ihnen diesen Vorsprung geben kann. Aber das sollte bald sein. Ich will Sie nicht mehr im Kongo haben. Sie haben mir schon genug Kopfzerbrechen bereitet, auch wenn Sie nützlich waren."

„Und Jean…"

„Wird bestenfalls in ein, zwei Wochen ansprechbar sein. So lange will ich Sie ganz bestimmt nicht im Land. Sie haben alles getan, was Sie tun konnten. Für Sie ist es Zeit, sich aus diesem Spiel zu verabschieden."

„Ich will ihn sehen."

„Warum? Sie werden sowieso nicht mit ihm reden können."

„Das ist meine Sache. Aber wenn Sie glauben, dass ich mich alleine auf Ihr Wort verlasse, dass er überhaupt noch am Leben ist..."

„Nun gut, dass wird sich einrichten lassen. Wann…"

„Wie wäre es mit sofort? Und wenn Sie mich begleiten, brauche ich diesmal nicht Ihre Männer zu umgehen."

Jalouzet grinste kurz: „Von mir aus. Soweit will ich Ihnen entgegenkommen. Aber dann verschwinden Sie endlich. Und kommen Sie niemals wieder."

„Und Sie haben dann gewonnen."

„Gewonnen? Ich habe nicht gewonnen. Ein paar Verräter sind tot, aber ich habe bei dem Angriff auf die Festung zwei gute Männer verloren. Wir haben ein Scharmützel gewonnen, aber den Krieg werden wir verlieren. Wir verlieren immer. Irgendwann wird auch Paris es erkennen, und dann werden sie uns abziehen. Diejenigen, die dann von uns noch am Leben sind, werden an einen anderen Ort geschickt werden, in einen anderen schmutzigen Krieg. Diejenigen, die gefallen sind, wird man vergessen. Aber wir haben es selber ja nicht anders gewollt." Der Hohn und der Zynismus in Jalouzets Stimme galt vermutlich ebenso sehr sich selbst, wie er für Lara bestimmt war.

„Wer sagt mir, dass Sie Jean nicht einfach töten, wenn Sie die Papiere haben? Immerhin weiß er mehr als genug über Ihre schmutzigen Geschäfte."

Jalouzet schüttelte den Kopf: „Das glauben Sie mir vielleicht nicht, doch ich bin weder Sadist, noch Psychopath. Ich töte, wenn es nötig ist. Und ich schätze, ich dürfte mich eher auf Jeans Verschwiegenheit verlassen können, als auf Ihre. Abgesehen davon, wer würde einem abgehalfterten Fremdenlegionär schon glauben? Auch er hat keine Beweise. Und er steckt selber zu tief mit drin. Ich glaube nicht, dass er reden würde. Er ist nicht der Mann dazu."

Das klang plausibel. Aber wenn Jalouzet nicht gerade seinen nihilistischen Philosophien nachhing, klang das meiste was er sagte auf eine verdrehte Art und Weise plausibel. Während sie weiter die Waffe auf ihn gerichtet hielt, überlegte Lara fieberhaft, was sie tun sollte. Sollte sie auf sein Angebot eingehen? Und wenn nicht, was sollte sie dann tun? Sie war verwundet, ihre Ausrüstung hatte sie verloren. Die Chancen waren gegen sie. Entschloss sie sich zum Kampf, stand sie alleine gegen den französischen Geheimdienst. Jalouzet hatte zudem beste Kontakte zur kongolesischen Armee und Gendarmerie. Außerdem gab es da noch die Überreste von Renarts Organisation, die auf sie vermutlich auch nicht gerade gut zu sprechen sein würden. Und Jean würde wahrscheinlich sterben.

Das gab den Ausschlag. Das hatte er nicht verdient. Langsam senkte sie die Waffe: „Also gut. Wir haben eine Übereinkunft. Aber eines sage ich Ihnen, Jalouzet. Wenn wir uns noch einmal begegnen…"

„Das glaube ich nicht. Aber ich weiß, was Sie sagen wollen. Ich werde daran denken."

Sie wollte sich schon halb zum Gehen wenden, winkte Jalouzet zu, ihr zu folgen, als eine Handbewegung des capitaines sie innehalten ließ. Einen Augenblick lang glaubte sie, er würde nach einer Waffe greifen. Doch Jalouzet fasste nur nach einem einzelnen Blatt Papier und schob es über den Tisch: „Das ist übrigens für Sie, Croft."

Sie trat wieder an den Tisch. Den capitaine immer noch misstrauisch im Auge behaltend, überflog sie rasch, was auf dem Papier stand. Überrascht riss Lara die Augen auf. Damit hatte sie bestimmt nicht gerechnet: „Sie wollen WAS?"

„Das ist eine große Ehre. Nur wenigen Männern – und noch weniger Frauen - wurde sie zuteil. Aber ich glaube, Sie haben sie sich verdient."

Lara schüttelte den Kopf. Sie war sich nicht sicher, ob Jalouzet dies jetzt ernst meinte, oder ob das ein weiterer seiner bizarren Scherze war: „Legionär ehrenhalber? Eine Ehre? Soll ich mich darüber freuen? Zu was macht mich das? Zu einem Ihrer Soldaten, die Sie in den Tod hetzen, wann immer das ‚Interesse Frankreichs' es nötig erscheinen lässt? Die Sie manipulieren, benutzen, als wären es keine Menschen?"

„Sie sagten es schon, diese Männer sind Soldaten. Sie haben ihr Schicksal selbst gewählt und einen Eid auf die Legion geschworen. Légionnaires, vous etes là pour mourir - Legionäre, ihr seid hierher gekommen, um zu sterben. Mit diesen Worten wurden sie bei ihrem Eintritt in die Legion begrüßt. Und das ist keine leere Phrase.

Natürlich erwarte ich nichts dergleichen von Ihnen, aber Sie haben auf jeden Fall hervorragende Arbeit geleistet. Sie sind gut, Croft. Verdammt gut. Und vor allem – Sie haben einem meiner Männer das Leben gerettet. Und dafür…danke ich Ihnen."

Mit einem leichten Gefühl der Irrealität begriff Lara, dass capitaine Jalouzet seine Worte ernst meinte. Er war ihr tatsächlich dankbar, dass sie Jean gerettet hatte. Und er schien fast so etwas wie Hochachtung vor ihr zu empfinden. Und dennoch hatte er nicht gezögert, Jean wie eine Schachfigur zu benutzen. Und er hätte wohl auch nicht gezögert, sie zu töten. Nicht aus Sadismus, sondern weil er es für notwendig hielt, für seine Pflicht. Und genau das war es, was ihr Angst einflößte. Sie sah den capitaine an, aber wie schon zuvor konnte sie in seinen Augen nichts lesen. Eine Frage hatte sie noch, eine Frage, die ihr selber schon einmal ähnlich gestellt worden war: „Wenn ich nicht auf Ihr Angebot eingegangen wäre… Hätten Sie dann Jean getötet? Einen Ihrer eigenen Leute?"

Capitaine Pierre Jalouzet sah sie ausdruckslos an. Er zuckte leicht mit den Schultern. Seine Stimme war bar jeder Emotionen, kalt und undeutbar: „Mais c'est le Congo." So ist eben der Kongo.

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Zwei Stunden später, UN-Krankenhaus, Kananga

Der capitaine hatte Draußen gewartet. Sardonisch hatte er bemerkt, dass er sich in Krankenhäusern unwohl fühlte. Einmal mehr hatte Lara begreifen müssen, dass Jalouzet offenbar über beträchtliche Mittel und gute Verbindungen verfügte – Jean Roux wurde hier auf einmal als ein französischer Blauhelm-Soldat geführt, der bei einem Unfall verletzt worden war. Niemand schien dies in Frage zu stellen.

Sie war nicht lange geblieben. Es hatte ihr einen Stich gegeben, den ehemaligen Fremdenlegionär so zu sehen, angeschlossen an medizinische Geräte, bewusstlos, reglos – fast wie tot. Als hätte er aufgegeben. Die Ärzte hatten ihr mitgeteilt, dass Jean frühestens in ein paar Wochen aufwachen würde. Wenn überhaupt, denn er war noch nicht außer Lebensgefahr.

„Sind Sie zufrieden, Croft?"

Lara sah den capitaine an und schüttelte nur den Kopf. Pieter Jacksons Mörder waren tot. Sie selber hatte überlebt. Und Jean Roux hatte immerhin noch eine Chance. Am Ende hatte sie die Wahrheit erfahren, alle jene schmutzigen, blutbesudelten Geheimnisse, die Männer wie Jean Roux, Jalouzet, Tounkare, Renart, Krueger und Anjou miteinander verbanden wie ein tödliches Spinnennetz. Deswegen hatte Pieter sterben müssen. Er und so viele andere Menschen. Sie kannte die Gründe für Mord, Massenmord, Verrat und Lüge. Der capitaine hatte Recht gehabt. Wenn sie gesiegt hatte, dann war es ein schaler Sieg, zu teuer erkauft. Es blieb ihr nichts als ein bitterer Geschmack im Mund. Alle Gefühle waren nur noch Asche.

„Fragen Sie nicht nach dem Sinn, Croft. Denn den gibt es nicht in diesem Krieg. Er ist verloren gegangen, in Strömen von Blut und Tränen ertrunken." Jalouzets harte, fast grausame Stimme ließ sie aufblicken. Sie nickte knapp. Dann wandte sie sich um und ging. Hier gab es nichts mehr für sie zu tun.

Ungewollt, ungebeten tauchte wieder Pieter Jacksons Gesicht vor ihrem inneren Auge auf, wie er ihr an jenem Morgen vor fast drei Monaten begeistert von seiner Arbeit berichtet hatte. Damals hatte er ihr nicht sagen wollen, wonach er eigentlich im Kongo gesucht hatte, bevor er von Jalouzet in diesen wahnsinnigen Schattenkrieg um Diamanten, Waffen und Macht verwickelt worden war Wie hatte er es ausgedrückt? ‚wenn ich Recht habe, dann wird das hier eine Sensation für unser Fachgebiet. Das kann die Entstehungsgeschichte des Menschen verändern.'

Was auch immer Pieter gefunden hatte, es musste bei der Vernichtung des Ausgrabungslagers zerstört worden sein. Für Pieter mochte es sein Lebenswerk gewesen sein, für Kruegers Männer war es wohl nur wertloser Abfall gewesen. Es war alles so sinnlos.

Und Jean Roux? Er hatte sie belogen, aber er war bereit gewesen, für sie zu sterben. Aber was bedeutete das eigentlich – bei einem Mann, dem das eigene Leben fast wertlos zu sein schien. An seinen Händen klebte zu viel Blut – aber sie konnte den Fremdenlegionär nicht hassen. Jedenfalls wohl kaum so sehr, wie er sich selber verabscheute. Am Ende war auch er nur benutzt und ausgespielt worden. Und er hatte es gewusst. Dennoch schien er gleichzeitig immer noch der Legion, Frankreich und Jalouzet eine absurde Loyalität entgegenzubringen. Auch das ergab keinen Sinn.

Sie hätte niemals hierher kommen sollen…

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Einige Zeit später, Irgendwo

Die Luft in dem Zimmer war trocken und verbraucht, der dumpfe Geruch erinnerte an ein ungeöffnetes Grabmal. Die Fenster waren geschlossen, schwere Vorhänge sperrten das Licht aus. An den Wänden reihten sich riesige Bücherschränke, die kaum Platz ließen für eine schmale Stahltür. Neben den Bücherschränken komplettierten ein massiger Schreibtisch und ein breiter Lehnstuhl die Ausstattung. Der Mann, der in dem Lehnstuhl saß wirkte zerbrechlich, zusammengesunken unter der Last der Jahre. Er war alt, das spärliche Haar war weiß und wirkte brüchig. Das Gesicht und die dünnen Finger waren von Altersflecken gezeichnet. Die farblosen Augen lagen tief in den Höhlen.

Auf dem Tisch hatte eine ungeduldige Hand Bücher und Papiere beiseite gefegt. Momentan befanden sich auf der Schreibfläche nur zwei Gegenstände. Das eine Objekt schien nicht recht in diese Umgebung zu passen – es war ein Laptop der letzten Generation.

Der Mann lächelte dünn, mit blutlosen, verwelkten Lippen. Dann, jäh und ungewollt, lachte er jäh auf. Es war so grotesk. Generäle und Geheimdienstler, Agenten und Abenteurer, Söldner und Legionäre – sie kämpften, töteten und starben, ohne zu wissen warum. Für hohle Worte und für schnödes Geld warfen sie ihr Leben weg, und begriffen nicht, dass sie letztlich alle – ALLE - nur Marionetten gewesen waren, störrische Marionetten allerdings, die die Fäden nicht erkannten, an denen sie hingen.

Letztlich war alles nach Plan verlaufen. Er hatte gewusst, dass dieser britische Archäologe geeignet gewesen war. Pieter Jackson hatte sich als erfahren genug erwiesen, um seinen Zweck zu erfüllen, und als naiv genug, um keine Gefahr zu sein. Natürlich wäre es einfacher gewesen, wenn Jackson nicht Skrupel bekommen hätte. Als er angefangen hatte, an seinem EIGENTLICHEN Auftrag zu zweifeln, war sein Tod besiegelt gewesen. Er hatte Jackson von Anfang nicht getraut. Es hatte sich als Vorteil erwiesen, dass dieser lächerliche capitaine Jalouzet für seinen unwichtigen Streit mit Marcel Renart auf die schwachsinnige Idee gekommen war, ausgerechnet Pieter Jacksons Expedition zu benutzen. Das hatte eine perfekte Möglichkeit eröffnet, Pieter Jackson zu…neutralisieren, ohne selber aktiv zu werden.

Und dass es letztlich auch Marcel Renart erwischt hatte… Das war bedauerlich, der Mann war gelegentlich nützlich gewesen. Aber auch er war entbehrlich und hatte mit seinem Tod außerdem jede Spur getilgt.

Jalouzet und seine Söldner würden niemals erkennen, dass es um mehr gegangen war, als irgendwelche läppischen Spionageaktionen. Niemand konnte besser Lügen verbreiten, als der, der sie für die Wahrheit hielt.

Die einzige, die einmal, wenn auch nur vage, geahnt hatte, worum es eigentlich ging, war die Abenteurerin gewesen. Aber auch dieses Problem war bereinigt worden. Jede Vermutung, die diese Croft vielleicht einmal gehabt hatte, war getilgt worden durch das, was Männer wie Marcel Renart und Pierre Jalouzet in ihrem beschränkten Geist für die ‚wahren Gründe' hielten.

Und das war gut so, denn sonst hätte auch Croft sterben müssen. So aber würde sie am Leben bleiben – und irgendwann vielleicht noch einmal von Nutzen sein. Genauso nützlich, wie ihr Freund Pieter Jackson nützlich gewesen war. Der ja leider Gottes zur rechten Zeit gestorben war, bevor er seine Entdeckung der Weltöffentlichkeit hatte präsentieren können. Dank der Ausgrabungsstelle drei – diesem unbedeutenden Massengrab – fragte keiner mehr, was Pieter Jacksons eigentlich an den anderen Ausgrabungsstellen gefunden hatte. Alle wichtigen Zeugen waren tot. Und das war auch gut so. Eigentlich hätte es nicht besser kommen können.

Der alte Mann ließ seinen Blick zu dem zweiten Objekt wandern, das auf der Schreibfläche des Tisches lag. Ein Schädel, von Jahren und Jahrhunderten gebleicht. Auf den ersten Blick war es der Schädel eines Menschen. Aber nur auf den ersten Blick, denn kein Mensch hatte Raubtierfänge statt der Zähne. Die Knochen des Schädels wirkten zudem unnatürlich massiv. Auch jetzt noch, nach Jahrhunderten in der Erde, hätte man mit einem Hammer auf diese Schädeldecke einschlagen können, und hätte doch höchstens einige Knochenfragmente absplittern können. Nein, dies war gewiss nicht nur der Schädel eines Menschen. Dieses Wesen war mehr gewesen, viel mehr. Langsam, behutsam streckte der alte Mann die Hand aus und fuhr sachte, fast zärtlich über die massive, gewölbte Schädeldecke. Den Kopf leicht zur Seite geneigt schien er einer leise flüsternden Stimme zu lauschen, die nur er hören konnte.

Ende

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Das war es für's erste. Ich hoffe, die Geschichte hat gefallen. Das war meine erste fanfiction von so einer Länge. Im Laufe des Schreibens habe ich deshalb wohl einige ursprünglich geplante Szenen umgebaut, weggelassen u. neue eingefügt. Ich hoffe, dass es dennoch nicht zu viele Logikfehler gab.

Auch wenn ich mich natürlich einiger Klischees bedient habe, hoffe ich dennoch, dass die Figuren halbwegs plausibel u. nicht zu eindimensional herüberkamen.

Ob ich irgendwann noch eine Fortsetzung schreibe, muss ich mir noch überlegen – je nach dem, ob ich eine passende Story finde (u. genug Zeit)…