Müdigkeit

„Verdammt, wo habe ich es hingelegt?"

Jack fluchte leise und wühlte schon zum dritten Mal seinen Rucksack durch. Er stieß auf seine nutzlos gewordene Geldbörse, Kugelschreiber, kaputte Glasflaschen und seine zerbrochene Krawattennadel.

Nur das Buch blieb verschwunden.

Langsam wurde er unruhig. Er war sich nicht mehr sicher, wann er es zuletzt gesehen hatte, doch es musste vor seiner Begegnung mit Sawyer und Kate gewesen sein.

Es wäre ihm verdammt unangenehm, wenn es jemand fände und da es genug Glückspilze auf der Insel gab, war die Gefahr recht groß.

Er stand auf und Schmerz fuhr durch seinen Nacken. Diese Verspannung hatte er nun seit mehreren Tagen und langsam machte er sich Sorgen; er hatte die dumpfe Vermutung sich irgendwann einige Rückenwirbel geprellt zu haben, das Letzte, was er jetzt gebrauchen konnte.

„Ach Unsinn, es ist nichts", wies er sich selbst zurecht, fuhr kurz mit der Hand um seinen Hals und setzte sich wieder.

Eine entspannte Ruhe durchfloss ihn, als er für einen kurzen Moment die Augen schloss und sich von der Schwärze gefangen nehmen ließ. Doch es hielt nicht lange vor, ein leiser, halbunterdrückter Schmerzensschrei riss ihn aus seinem Dämmerzustand.

Blitzschnell richtete er sich auf und sah sich um.

In de Nähe des Wasserfalls hockte eine schwarze Gestalt, die leise stöhnte.

Jacks erster Gedanke war „Wildschwein", doch dann fiel ihm ein, dass Wildschweine nicht stöhnen können.

Er schob sich vorwärts, suchte seine Taschenlampe, während die Geräusche immer lauter und gepresster wurden.

Als er nah genug bei dem Schatten stand, machte er die Lampe an – und wäre fast zurückgestolpert, als ein nackter Oberkörper nebst blutüberströmten Arm sichtbar wurde.

„Sawyer?"

„Nein, Huckleberry Finn", kam es zurück, anscheinend unter Schmerzen. Jack lachte kurz.

„Was tust du hier? Und was hast du mit deinem Arm angestellt?"

Sawyer zuckte zurück, als Jack nach seiner Hand griff.

„Lass das. Verschwinde, Doc, geh jemanden retten, der das auch will."

Jack achtete nicht auf seinen Protest, er zog Sawyer einfach auf den Boden und klemmte sich die Taschenlampe zwischen die Zähne.

„Du darfst den Verband nicht abnehmen, solange der Druck noch ausreichend ist", sagte er, natürlich sehr undeutlich. Sawyer war es egal, er versuchte sich aufzurichten.

„Doc, welcher Teil von „Hau ab" ist zu schwer für dich?", blaffte er ihn an und hob den Arm.

Sein Gesicht zuckte zusammen vor Schmerz, dennoch murmelte er: „Ich hab dir schon gesagt, ich würde dich sterben lassen."

Jack zuckte die Schultern.

„Das ist der Unterschied zwischen dir und mir. Ich lasse dich nicht sterben."

Sawyer machte große Augen und ließ es zu, dass Jack seinen Arm wieder inspizierte.

„Der Verband ist locker, deswegen steigert sich die Blutung wieder. Ich werde einen anderen anlegen. Könnte wehtun", schloss er seine Untersuchung und fuhr Sawyers Oberarm entlang, bis zur Schulter.

„Tut das weh?"

„Du hast wohl ein schlechtes Gewissen, wegen dem, was du mit Allah durchgezogen hast, was?"

„Ich hab gefragt, ob das wehtut", wiederholte Jack und achtete nicht auf Sawyers Sticheleien.

„Nein, verdammt."

„Gut. Bleib hier und beweg dich nicht."

Jack stand auf, wieder knackte es hässlich in seinem Rücken, doch er ignorierte es und ging.

Sawyer lehnte sich feixend zurück. Sein Plan ging auf und der Schmerz in seinem Arm, war das allemal wert. Er beobachtete Jack, wie er Verbände hervorkramte, sog jede Bewegung in sich auf.

Er wusste nicht mehr, wann er auf diese „Idee" gekommen war. Eigentlich hatte alles als das Spiel begonnen, das er trieb, um einen Keil zwischen Jack und Kate zu treiben. Was ihm auch gelungen war.

Doch kaum hatte er bekommen, was er wollte, war sein Interesse an Kate erloschen und er lechzte nach etwas neuem.

Seine Wahl fiel auf Jack.

Nicht weil Sawyer, wie er Kate erklärt hatte, schon gegen ihn gespielt hatte, sondern weil er wusste, dass Jack schwach war.

Niemand schein das zu merken, alle hielten ihn für den großen Anführer, den Helden.

Aber Sawyer wusste es besser.

Er kannte solche Typen, wie Jack, Leute, sie sich und anderen ständig etwas beweisen mussten, nie aufgeben konnten, immer versuchten, für alle da zu sein und sich dabei selbst vergaßen.

Und genau dieses Vergessen war es, was sie so schwach machte.

Manche versteckten es, andere merkten es gar nicht und wieder andere gingen daran zugrunde. Zu welchem dieser drei Jack gehörte, wusste Sawyer nicht und das faszinierte ihn.

Faszinierte in so sehr, dass er um Jack spielte, oder, anders ausgedrückt, alles daran setzte, um ihm nah zu sein, so nah es eben ging.

Doch das war nicht alles und Sawyer gestand sich lächelnd ein, dass die Insel auch bei ihm Wirkung zeigte, denn hinter seiner eiskalten Berechnung steckte diesmal noch etwas anderes.

Sawyer konnte nicht bestreiten, dass Jack schön war.

Es war eine verborgene, unterschwellige Erotik, die von dem lieben Doc ausging, eine Erotik derer er sich nicht einmal bewusst war. Er war hoch gewachsen und schlank, bei weitem nicht so durchtrainiert wie Sawyer, aber durchaus muskulös, mit breitem Kreuz.

Seine Bewegungen waren wohlüberlegt und zeigten Kraft, fast als würde sich eine Raubkatze bewegen. Die Stirn war hoch und die tief liegenden Augen leuchteten oft, wenn er lächelte und Sawyer schwor sich, dieses Leuchten heute Nacht heraufzubeschwören.

Wenn Jack endlich mal auftauchen würde.

„Doc?", rief er und lobte sich für die gelungene Mischung aus Sorge und „Ist-mir-doch-egal", die in seiner Stimme lag.

„Ich komme, Sawyer, ertönte die Antwort und tatsächlich, Jack erschien, eine Binde in der einen Hand und eine Flasche in der anderen. Er schien müde zu sein, denn er bewegte sich vorsichtig und schüttelte in Abständen den Kopf. Er kniete sich neben Sawyer und sein Gesicht verzog sich vor Schmerz.

„Pass auf, ich muss den Verband noch einmal komplett lösen, das wird wehtun. Versuch nicht zu schreien oder dich zu bewegen, verstanden?"

Die Müdigkeit schien wie weggeblasen, als Jack ihm Anweisungen gab.

„Ja, Doc, ich bin nicht dämlich", gab Sawyer schnippisch zurück und spannte sich an.

„Natürlich nicht. Fertig? Okay…jetzt!"

Jack löste den Knoten, der Verband wurde locker. Schmerz durchzuckte Sawyers Arm, er biss sich heftig auf die Lippen, verkrampfte sich, stoßweise atmend.

So schnell es ging zog Jack den Verband fest, presste die Arterie ab und befestigte das neue Material um die Wunde.

„Fertig", sagte Jack und lehnte sich zurück. Sawyer keuchte immer noch, doch bis auf ein dumpfes Pochen spürte er nichts mehr. Er stützte sich auf den gesunden Arm.

„Ich wusste doch, warum ich Ärzte hasse", meinte er, doch der andere schien ihm nicht zu zuhören. Er saß da, die Beine angewinkelt und rieb über seinen Nacken.

„He…alles in Ordnung, Doc?", murmelte Sawyer und setzte sich vollend auf. Jack schüttelte sich.

„Was? Ja, alles okay, ich bin nur verspannt. Du solltest dich hinlegen, Sawyer, und nicht zuviel bewegen, dann sollte es keine Probleme geben." Plötzlich hielt er inne und starrte Sawyer an.

„Wieso fragst du mich, wie es mir geht?"

Sawyer grinste.

„Was meinst du, was die Anderen mit mir anstellen würden, wenn du wegstirbst, während ich neben dir sitze? Und jetzt zieh dein Hemd aus."

Jack klappte der Kiefer nach unten.

„Ich soll bitte was?", fragte er und schaute ihn befremdet an.

„Dein Hemd sollst du ausziehen. Wie soll ich dich sonst massieren?"

Jack japste, dann schüttelte er den Kopf – und bereute es dank der Schmerzen sofort wieder.

„Du willst was?", sagte er und leichte Röte überzog seine bleichen Wangen. „Das meinst du doch hoffentlich nicht ernst, oder?"

Sawyer verdrehte die Augen.

„Doch, ich meine das todernst. Sagt ihr mir nicht immer, ich solle auch mal was geben, statt immer nur zu nehmen? Hier bin ich und versuche etwas zu geben. Also zieh dein Hemd aus."

Sawyers Blick durchbohrte Jack und der wusste nicht, welcher Teufel ihn ritt, als er tatsächlich sein Hemd über den Kopf streifte und es zur Seite legte.

„Ich muss wahnsinnig sein", sagte er und drehte sich um, doch Sawyer war nicht zufrieden.

„Leg dich gefälligst hin, oder denkst du, ich will dich zwischen meinen Beinen haben? Mach schon."

Jack zuckte die Schultern, als würde er über seine eigene Dummheit staunen und legte sich auf den kühlen Stein, die Arme gekreuzt, den Kopf darauf gebettet.

„Zufrieden?", murmelte Jack, doch Sawyer zischte ihn nur an.

„Willst du das ganze Lager aufwecken? Sei still, Doc."

Sawyer richtete sich auf die Knie und ließ die Finger knacken. Er hielt einen Moment inne und fuhr mit den Augen Jacks Körper nach: Breite Schultern, ein durchtrainierter Rücken und

schmale Hüften, die in der Blue Jeans verschwanden.

Wenn du wüsstest, was ich jetzt alles mit dir anstellen könnte, dachte er, doch es blieb bei dem Gedanken und er legte sanft die Hände an Jacks Schultern. Unter seinen kühlen Fingern schienen die verspannten Muskeln zu glühen.

Langsam und mit kreisenden Bewegungen ließ er seine Hände über den Körper vor ihm gleiten, mal mit wenig, dann mit mehr Druck. Jack nickte nur leicht, er schien halb im Schlaf.

„Woher kannst du das?", murmelte er leise.

„Du wirst lachen, Doc, doch es gibt eine Spezies Mensch, genannt Frauen, die auf so was steht."

Jack schmunzelte.

„Als ich das letzte Mal geschaut habe, war ich durchaus noch männlich", erwiderte er, doch Sawyer ahnte, dass er ihm dankbar war.

Er lächelte indes nur sein kleines Lächeln und arbeitete sich nach unten, löste die harten, überanstrengten Muskeln an der Seite des Brustkorbs.

Er sagte es selbstverständlich nicht, doch das Vergnügen, das ihm diese Aktion bereitete, war himmlisch.

Er mochte das Gefühl von Jacks nackter Haut unter seinen Fingern, er mochte es, dessen immer ruhiger werdenden Atem zu hören und zu fühlen.

Es war seltsam, aber das Gefühl der Befriedigung, welches er bei Kates Kuss verspürt hatte, stellte sich jetzt nicht ein, stattdessen überkam ihn eine große Ruhe und die Wärme von Jacks Körper ging langsam auf ihn über.

Was ist nur los mit mir? fragte er sich, doch es war nur halbherzig und er lehnte sich entspannt lächelnd zurück.