Titel: In der Dunkelheit
Autor: Roeschen
Zusammenfassung: In einer Welt von Terror wird Ginny von Todessern gefangen genommen. Ihre Lage scheint hoffnungslos, bis sie dem Sohn des Dunklen Lords begegnet...
Disclaimer: Harry Potter gehört mir zwar nicht, aber dafür gehört mir meine Geschichte!
Kapitel 1
Ginny kuschelte sich in ihren Sitz und blickte aus dem Fenster. Während die Landschaft draußen an ihr vorbeiflog, begann sie sich auf zu Hause zu freuen. Auch wenn sie heute Morgen noch ein wenig traurig darüber gewesen war, dass ihr fünftes Schuljahr zu Ende gegangen war, war sie seit Weihnachten nicht mehr zu Hause gewesen.
Und sie hatte ihre Eltern und älteren Brüder so sehr vermisst.
Glücklich, dass sie ihre Familie bald wiedersehen würde, malte sie sich aus, was sie über den Sommer alles tun würde. Als ihr einfiel, dass sie in wenigen Wochen ihren sechzehnten Geburtstag feiern würde, lächelte sie. Vielleicht konnte sie ihre Eltern sogar überreden ihr zu erlauben eine kleine Party zu organisieren.
Auf Lunas Koffer schauend, der neben ihr auf den Sitzen lag, wunderte sie sich, wo ihre Freundin so lange blieb. Es konnte nicht so lange dauern ein ausgeliehenes Buch zurückzubringen, oder?
Das eintönige Rattern des Zuges machte sie müde und Ginny schloss die Augen. Sie war kurz davor einzuschlafen, als der Zug mit quietschenden Rädern abrupt zum Stehen kam.
Unsanft aus ihren Träumen gerissen, wurde sie in den gegenüberliegenden Sitz und in die Arme von Hermione Granger, der Freundin ihres Bruders Ron, geschleudert.
„Entschuldige, Hermione.", sagte sie und das Buch aufhebend, welches Hermione gelesen hatte, richtete sie sich auf.
Hermione nahm das Buch und schüttelte den Kopf.
„Macht doch nichts. Was ist passiert?"
Ron, der aus seinem Schlummer erwacht war, schaute inzwischen aus dem Fenster.
„Todesser! Sie greifen den Zug an!"
Ginny starrte Hermione und ihren Bruder an. In den Gesichtern der beiden sah sie die gleiche Angst, die sie fühlte.
Sie wusste, welche Qualen die Todesser ihren Opfern zufügten. Sie verschonten niemanden. Ihren Zauberstab so fest umklammernd, dass ihre Knöchel weiß hervortraten, spürte sie, wie eisige Kälte in ihr hochkroch.
„Was sollen wir tun?", fragte sie mit zitternder Stimme.
„Wir könnten uns im Abteil einschließen.", schlug Ron vor.
„Wie? Oder weißt du einen Zauberspruch, der sie davon abhalten würde hereinzukommen?" entgegnete Hermione bissig und runzelte nachdenklich die Stirn.
„Ich glaube, das Beste wäre zu versuchen aus dem Zug zu fliehen.", sagte sie nach einem Moment.
Als laute Schreie durch den Zug hallten, zuckten sie alle zusammen. Hermione wurde bleich. Sie zögerte kurz, aber dann öffnete sie die Abteiltür und ging hinaus. Ron und Ginny folgten.
Sie traten direkt ins Chaos.
Augenblicklich wurden sie von einer riesigen Menschenmenge mitgerissen. Unter den Schülern war Panik ausgebrochen. Sie alle wollten so schnell wie möglich aus dem Zug entkommen. Der enge Korridor verschlimmerte die Situation zusätzlich. Ginny wurde von ihrem Bruder und Hermione getrennt.
„Ron, Hermione!", schrie sie.
Doch es war unmöglich ihnen zu folgen. Sie war nicht stark genug die Schüler, die sie umringten, beiseite zustoßen. Das Letzte, das sie von Ron sah, war ein Aufflackern von rotem Haar. Aus der Ferne hörte sie ihn ihren Namen brüllen.
Dann war sie in der Menge von hysterischen und weinenden Schülern allein. Ihr Herz raste. Sie hatte das Gefühl zu Tode erdrückt zu werden. Das Atmen wurde ihr schwer. Grauenvolle Schreie tönten durch den Zug und sie erhaschte einen Blick auf schwarze Umhänge. Todesser!
Im nächsten Augenblick standen sie nur ein paar Meter von ihr entfernt. Das Gedränge wurde noch heftiger. Ginny jedoch nahm es gar nicht wahr, als sie erstarrte.
„Crucio!"
Als würde es im Zeitlupentempo geschehen, sah sie zu, wie einige von den Unverzeihlichen Flüchen getroffen wurden und zu Boden fielen. Sie verschwanden umgehend unter den Füßen der anderen Schüler, die sie in dem Versuch den Todessern zu entkommen einfach überrannten.
Ginny erkannte, dass sie gefangen waren. Dass alle Schüler den Korridor für ihre Flucht gewählt hatten, erwies sich nun als verhängnisvoller Fehler.
„Avada Kedavra!"
Das blendende grüne Licht verfehlte sie um Zentimeter. Stattdessen traf es ein kleines Mädchen. Mit einem überraschten Ausdruck auf ihrem Gesicht fiel sie nach hinten. Ginny war sich nicht einmal bewusst, dass sie schrie. Ihr Blick flackerte hinüber zu den lachenden Todessern. Das Verlangen sie ebenfalls zu verfluchen war übermächtig. Aber es war unmöglich. Sie hatte keine Bewegungsfreiheit. Ihre Arme waren dicht an ihren Körper gepresst.
Als die Todesser wieder ihre Zauberstäbe erhoben, schoss ihr nur ein Gedanke durch den Kopf.
Sie musste aus dem Zug herauskommen! Sie wollte nicht sterben.
Eine Welle von Übelkeit schwappte über sie. Ihr Herz schlug so schnell, dass sie sich schwindelig fühlte. Mit aller Macht kämpfte sie gegen eine nahende Ohnmacht an. Sie durfte ihr Bewusstsein nicht verlieren. Nicht jetzt. Nicht wenn sie überleben wollte. Mehr oder weniger versuchend ihr Gleichgewicht zu halten, wurde sie von ihren Mitschülern mitgerissen. Sie stolperte über irgendein Hindernis, taumelte und wurde von irgendwem in ein Abteil gestoßen. Während sie auf die Sitze sank, überschlugen sich ihre Gedanken. Was sollte sie nur tun?
Als sie ihren Kopf hob, fiel ihr Blick auf das Fenster.
Das Fenster! Sie sprang auf und durchquerte rasch das kleine Abteil. Doch sie konnte das Fenster nicht öffnen. Es klemmte.
Ginny konnte ihr Pech nicht fassen. Der Gedanke an ihren Zauberstab ließ sie neue Hoffnung schöpfen, die jäh schwand, als sie feststellte, dass sie ihren Zauberstab nicht mehr in der Hand hielt. Sie musste ihn verloren haben, dachte sie fassungslos. Und sie hatte es noch nicht einmal bemerkt. Einen Blick zur Abteiltür werfend, wurde ihr klar, dass es geradezu selbstmörderisch wäre sich wieder in das Getümmel zu stürzen.
Mit oder ohne Zauberstab, es blieb dabei, ihre einzige Chance den Zug einigermaßen unbeschadet zu verlassen, war das Fenster. Erfolglos am Griff zerrend, war sie den Tränen nahe. Warum musste das Fenster auch ausgerechnet jetzt klemmen? Jetzt, wo es so bitter nötig war, dass sie den Zug verließ?
„Du willst doch nicht etwa fliehen, oder?"
Ginny wirbelte herum.
Als der Zauberer einen Schritt näher trat, wich sie bis ans Fenster zurück. Fettige Haare fielen dem Todesser in die Stirn. Er musterte sie von oben bis unten. Lust blitzte in seinen Augen auf.
Oh, bitte nicht, dachte sie, als er auf sie zutrat. Ein verzweifelter Versuch an ihm vorbeizukommen, scheiterte kläglich. Der Griff, mit dem er sie packte war schmerzhaft. Ginny wehrte sich, wie noch nie in ihrem Leben, als er sie auf die Sitze drückte, doch sie wusste, dass sie keine Chance hatte.
„Halt endlich still!", zischte er und Ginny dachte, dass sie ihm den Gefallen bestimmt nicht tun würde. Seine große, hackenförmige Nase näherte sich, als eine laute Stimme durch den Zug hallte.
„Der Orden kommt! Appariert sofort!"
Im Stillen dankte sie dem unbekannten Rufer. Über ihr fluchte der Zauberer und schlug sie hart ins Gesicht. Für einen Moment Sterne sehend, schmeckte Ginny Blut in ihrem Mund. Sie spürte kaum, wie er ihren Arm ergriff. Das seltsame Gefühl einer Apparation traf sie unvorbereitet.
Während sein Blick panisch umherirrte, versuchte Ron den immer schlimmer werdenden Schmerz in seinem Arm zu ignorieren. Allmählich vermutete er, dass er gebrochen war. Einmal war er heftig gegen eine der Abteiltüren geschleudert worden. Doch da hatte er noch keinen Schmerz verspürt. Als er endlich aus dem Zug gestolpert war, hatte er begriffen, dass er auch Hermione verloren hatte. Er wusste nicht, wie lange er schon nach den Mädchen suchte.
Und immer noch hatte er weder Hermione noch Ginny gefunden.
Das Geschrei seiner Mitschüler, die hin und herliefen, die Rufe der Mitglieder des Phönixordens, die mittlerweile eingetroffen waren, reizten ihn bis aufs Blut. Außer sich vor Angst, funkelte er sie wütend an. Dafür, dass sie viel zu spät gekommen waren, hasste er sie alle.
Wenn Hermione und Ginny etwas geschehen war…
Ron schloss die Augen, als er sich erinnerte. Immer noch sah er das blendende grüne Licht vor sich, sah seine Mitschüler zu Boden fallen. Er presste die Zähne zusammen und fuhr fort sich umzuschauen. Überall hatten sich die Schüler zu kleinen Grüppchen zusammengefunden. Viele weinten und den Rufen nach zu urteilen, die durch die Menge schallten, war er nicht der Einzige, der jemanden verloren hatte.
„Ron!"
Er schwang herum. Und endlich erblickte er sie.
„Hermione!"
Sie fielen sich in die Arme. Für einen langen Moment klammerten sie sich aneinander.
„Vorsicht. Mein Arm.", schaffte Ron zu sagen, als brennender Schmerz durch seinen Arm schoss und schwarze Punkte vor seinen Augen tanzten.
„Ron, du bist verletzt! Setz dich hin. Du bist ja ganz weiß im Gesicht."
„Nein, ich muss zuerst Ginny finden. Hast du sie gesehen?"
Hermione schüttelte den Kopf.
„Ihr geht es bestimmt gut, Ron."
Hermione versuchte ihn zu beruhigen, doch sie konnte das leichte Zittern in ihrer Stimme nicht unterdrücken. Sie hatte gesehen, wie einige Schüler ermordet worden waren und selbst wenn sie sich dagegen wehrte es auch nur in Betracht zu ziehen, wusste sie, dass Ginny sich unter ihnen befinden könnte.
„Was ist, wenn sie…?"
Jäh abbrechend, starrte Ron sie an, seine Augen voller Verzweiflung. Hermione legte behutsam ihre Arme um ihn. Sie konnte ihn nur festhalten und mit aller Macht beten, dass Ginny unverletzt war.
Über ihre eigenen Füße stolpernd, wäre Ginny gefallen, hätte der Todesser sie nicht so fest gehalten. Schnell richtete sie sich auf und versuchte mit ihm Schritt zu halten. Sein Griff war eisern, doch jeder Gedanke zu protestieren, erstarb auf ihren Lippen.
Ihre Augen waren starr auf das Schloss gerichtet, glitten über die mächtigen schwarzen Mauern hinweg. Die Kuppeln der Türme schienen im Sonnenlicht wie Feuer zu lodern.
Sie wusste, wo sie war.
Es war die Hölle auf Erden. Dieser Ort war legendär. Es war das Schloss – das wichtigste Hauptquartier – des Dunklen Lords. Hier lebte er mit seinem Sohn.
Die Existenz des Sohnes war allgemein bekannt, doch bis jetzt hatte er sich in keinem der Kämpfe gezeigt. Er wurde sogar mehr als der Dunkle Lord gefürchtet. Es wurde gesagt, dass er sogar noch grausamer und mächtiger war als sein Vater.
Ob dies der Wahrheit entsprach oder nicht, Ginny wusste, dass es keinen Unterschied machte. Kein Gefangener, der in das Hauptquartier des Dunklen Lords gebracht wurde, hatte diesen Ort jemals wieder verlassen.
Sich erinnernd, wie ihre Eltern und älteren Brüder über dieses Schloss gesprochen hatten, erschauderte sie. Ihre Eltern und Brüder, abgesehen von Ron, waren alle Mitglieder im Phönixorden und manchmal, wenn ihre Familie über Dinge gesprochen hatte, die den Orden betrafen, hatte sie heimlich zugehört. Der richtige Name des Schlosses war längst vergessen, nun wurde es nur noch das Schloss des Todes genannt.
Der Name hätte nicht zutreffender sein können. Und auch sie würde innerhalb dieser Mauern sterben.
„Pass auf!"
Die harsche Stimme erschreckte sie. Gegen die plötzliche Schwäche ankämpfend, die beinahe dazu geführt hätte, dass ihre Beine unter ihr nachgaben, unterdrückte sie ein Schluchzen.
Wenig später gingen sie durch ein Tor und betraten das Schloss. Doch sie durchquerten die schwach erleuchtete Halle nicht. Der Todesser wandte sich nach links. Die steinerne Treppe war breit genug, dass sie nebeneinander gehen konnten. In die Dunkelheit starrend, die sie am Fuße der Treppe erwartete, schluckte Ginny schwer. Einen langen, engen Gang erreichend, fröstelte es sie. Es war kalt in den Kerkern. Die Luft war feucht.
Ein qualvoller Schrei ließ sie heftig zusammenzucken. Der Todesser lachte und beschleunigte seine Schritte. Sie hörte einen zweiten Schrei und dann herrschte Stille. Kurz darauf spähte der Todesser in eine offenstehende Zelle und fragte:
„Hat er endlich geredet, Elaine?"
Eine der anwesenden Frauen drehte sich um und zog eine dünne Augenbraue hoch.
„Natürlich.", sagte sie und fügte verächtlich hinzu:
„Am Ende reden sie alle."
Ginny bekam nicht ein Wort von der folgenden Unterhaltung zwischen den Todessern mit. Wie erstarrt, konnte sie ihre Augen nicht von dem Zauberer abwenden, der zu ihren Füßen lag. Seine Gesichtszüge waren so entstellt, dass sie nicht mehr zu erkennen waren. Überall war Blut. Es war unmöglich festzustellen, wie viele Wunden seinen Körper bedeckten. Als Ginny den Knochen sah, der aus seinem Knie ragte, schwankte sie. Sie hätte sich auf der Stelle übergeben, hätte der Todesser, der sie gefangen genommen hatte, nicht gerade diesen Moment gewählt um zu gehen.
Hustend, kämpfte sie gegen den Brechreiz an. Währenddessen öffnete der Todesser mit einem Schlenker seines Zauberstabes eine andere Zelle und warf sie hinein. Sie landete hart auf dem Boden.
„Ich komme später wieder. Dann werden wir ein bisschen Spaß miteinander haben.", hörte sie ihn sagen.
Die Zellentür fiel ins Schloss und sie war allein. Sie setzte sich auf, beugte sich zur Seite und erbrach sich. So sehr sie es auch wollte, sie konnte weder den toten Zauberer vergessen, den sie soeben gesehen hatte, noch das kleine Mädchen, das an ihrer Stelle mit dem Todesfluch getroffen worden war.
Eine Weile später kroch sie erschöpft zur gegenüberliegenden Wand und lehnte sich dagegen. Immer noch war ihr schlecht. In einer Ecke erblickte sie ein Bündel Stroh. Doch als sie sah, dass es mehr rot als gelb war, presste sie eine Hand auf ihren Mund.
Sie schloss die Augen und zwang sich tiefe, gleichmäßige Atemzüge zu nehmen. Es dauerte lange bis Ginny sie wieder öffnete. Abgesehen von dem Stroh war ihr Gefängnis völlig kahl. Ein winziges Fenster spendete ein wenig Licht.
Sie zog ihre Knie zu sich und umfasste sie mit ihren Armen. Ihr war so kalt, dass ihre Zähne aufeinanderschlugen. Tränen traten in ihre Augen, sie begann zu weinen. Sie konnte die Wahrheit nicht verleugnen. Sie wusste, dass es kein Albtraum war, aus dem sie am nächsten Morgen wieder erwachen würde.
Sie war allein. Niemand würde ihr helfen. Sie würde ihre Familie nie wiedersehen. Nie wieder würde sie die Sonne sehen, würde niemals wieder in den Himmel hinaufsehen. Als sie sich an die Worte erinnerte, die der Todesser zu ihr gesagt hatte, rollte sie sich zu einer kleinen Kugel zusammen.
Sie wusste, was sie erwartete, wusste, was mit ihr geschehen würde. Und ihre völlige Hilflosigkeit dieses Schicksal zu verhindern, erfüllte sie mit entsetzlicher Angst. Wie Espenlaub zitternd, war sie sich nicht einmal der Tränen bewusst, die über ihr Gesicht liefen.
Es war der Schmerz, der sie aus ihrer Betäubung riss. Auf ihre Hände schauend, betrachtete Molly Weasley die halbmondförmigen Abdrücke, die ihre Fingernägel auf ihren Handflächen hinterlassen hatten, als könnte sie nicht verstehen, wie sie dort hingekommen waren. Sie saß immer noch im Wohnzimmer. Wie viel Zeit vergangen war seit Arthur sie sanft gedrängt hatte sich in den Sessel zu setzen, wusste sie nicht. Es schien so lange her zu sein und doch konnte es noch nicht einmal eine Stunde gewesen sein.
Sie war in der Küche gewesen und hatte das jeweilige Lieblingsessen ihrer beiden jüngsten Kinder zubereitet, als Arthur hereingestürmt war. Sie hatte sofort gewusst, dass etwas Schreckliches passiert war. Er hatte ihr kaum gesagt, dass Todesser den Hogwarts Zug angegriffen hatten, da war sie schon appariert.
Zusammen mit Arthur hatte sie nach ihren Kindern gesucht. Verzweifelt ihre Namen rufend und gleichzeitig versuchend nicht mit all den Leuten, die herumliefen, zusammenzustoßen, hatte sich eiskalte Angst in ihr ausgebreitet.
Ron hatten sie schnell gefunden. Sobald sie ihn und Hermione gesehen hatte, hatte sie ihn so fest wie möglich umarmen wollen, doch Ron war schnell zurückgewichen, während er seinen verletzten Arm gehalten hatte. Unbeholfen hatte sie ihm über den Kopf gestrichen, hatte ihn geküsst. Sie hatte ihn berühren müssen, hatte sich überzeugen müssen, dass es ihm abgesehen von seinem gebrochenen Arm gutging. Er hatte sich an sie geklammert. Im ersten Moment hatten seine Worte keinen Sinn ergeben. Erst nach einer Weile hatte sie begriffen, dass er Ginny nirgendwo hatte finden können.
Hatte sie es da schon gewusst?
Ron und Hermione in der Obhut ihrer älteren Söhne, die mittlerweile ebenfalls eingetroffen waren, zurücklassend, hatten Molly und Arthur ihre Suche fortgesetzt. Sie hatten Ginny nicht gefunden. Und schließlich hatten sie sich die toten Kinder angesehen. Arthur hatte ihr das ersparen wollen, doch sie hatte den Kopf geschüttelt. Sie hatte es wissen müssen.
Als klar wurde, dass Ginny nicht unter ihnen war, war ihre Erleichterung so immens gewesen, dass sie auf die Knie gesunken war. Ihre Erleichterung war jedoch nur von kurzer Dauer gewesen. Die Erkenntnis, dass Ginny von einem Todesser entführt worden sein musste, hatte sie mit voller Wucht getroffen. Ihre Tochter, ihr kleines Mädchen, entführt und in den Händen von Voldemort und seiner Anhänger.
„Molly, der Orden wird sich gleich versammeln. Möchtest du mitkommen?"
Sie fühlte seine Hand auf ihrer Schulter.
„Ja, natürlich.", hörte sie sich mit einer Stimme sagen, die nicht ihr zu gehören schien und stand auf.
Seiner Frau nachblickend, lehnte sich Arthur schwerfällig gegen den Türrahmen. Niemals zuvor in seinem Leben hatte er sich so hilflos gefühlt. Und immer wieder stellte er sich dieselbe Frage. Warum?
Warum sein Töchterchen, warum sein jüngstes Kind? Warum ausgerechnet sie? Natürlich liebte er seine Söhne, aber Ginny war sein Ein und Alles. Er hatte es nie gezeigt – zumindest hoffte er das – aber seine kleine Tochter liebte er am meisten.
„Dad, geht es dir nicht gut?"
Langsam drehte sich Arthur um und sah seinen ältesten Sohn Bill an, der ihn mit einem besorgten Gesichtsausdruck betrachtete.
„Wie soll es mir gut gehen, wenn meine Tochter wahrscheinlich gerade vergewaltigt und gefoltert wird?"
Bill wurde aschfahl und Arthur wusste, dass es nicht fair gewesen war, das zu sagen. Er bedauerte seine Worte, doch er konnte sich nicht dazu überwinden, sich zu entschuldigen. Seine Gedanken waren woanders. Auch wenn er es nie zugeben würde, wünschte er sich tief in seinem Herzen, dass es einen seiner Söhne getroffen hätte.
„Ich bin fertig, wir können jetzt gehen.", sagte Molly, als sie zu ihnen kam.
Allein in seinem Büro, trat Albus Dumbledore zu seinem Fenster und sah hoch in den strahlendblauen Himmel. Plötzlich zornig, dass die Sonne immer noch schien, wandte er sich brüsk um und kehrte zu seinem Schreibtisch zurück. Er setzte sich und stützte sein Kinn in seine Hände. Die Trauer, die er fühlte, war unerträglich. Wieder durchlebte er den heutigen Tag, sah sich selbst, wie er sich abmühte den Schülern und deren Eltern Beistand zu leisten.
Sie hätten damit rechnen sollen, doch nicht einer von ihnen hatte daran gedacht, dass auch der Zug angegriffen werden könnte. Auch er selber nicht. Für ihre Nachlässigkeit hatten sie einen hohen Preis bezahlt, einen viel zu hohen.
Zweiunddreißig Schüler waren getötet worden und sechs Schüler wurden vermisst. Aber zu glauben, dass diese im Hauptquartier des Dunklen Lords überleben würden, war eine Illusion.
Albus wusste, dass sie verloren waren. Sie konnten ihnen nicht helfen.
Auf seine Hände starrend, fragte er sich, wie er je mit den Schuldgefühlen leben sollte, die ihn niederdrückten. Wenn sie es nur vorausgesehen hätten, dann hätten sie es verhindern können. Doch sie hatten es nicht, dachte er und machte sich die bittersten Vorwürfe. Sie waren nicht in der Lage gewesen ihre Schüler zu beschützen, wie es ihre Pflicht gewesen wäre.
Seufzend, rieb er sich die Stirn. In ein paar Minuten würden die Mitglieder des Ordens eintreffen. Was sollte er zu den Eltern sagen, die ihre Kinder verloren hatten? Was konnte man in so einem Fall sagen? Dass es ihnen Leid tat?
Solche Worte schienen kaum angemessen. Und doch würde er etwas sagen müssen.
Müde lehnte er sich in seinem Stuhl zurück. Er hatte das Gefühl jeden einzelnen Tag seines langen Lebens zu spüren. Er war einfach zu alt. Seit über zwanzig Jahren herrschte ein erbarmungsloser Krieg und ein Ende war nicht abzusehen. Obwohl er, sein Orden und diejenigen Auroren und Ministeriumsmitarbeiter, die sich ihnen nach der Zerstörung des Ministeriums vor acht Jahren angeschlossen hatten, stets alles Menschenmögliche getan hatten, war es ihnen bisher noch nicht gelungen der Dunklen Seite einen entscheidenden Schlag zu versetzen. All ihre Siege hatten wenig Wirkung gehabt.
Er hatte die Hoffnung längst verloren, dass der Krieg je aufhören würde. Voldemort war einfach zu mächtig. Und selbst wenn es ihnen gelingen sollte ihn wie durch ein Wunder zu besiegen, würde der Krieg kein Ende finden. Denn da war immer noch die besorgniserregende Tatsache, dass der Dunkle Lord einen Sohn hatte, der sicherlich sogleich den Platz seines Vaters einnehmen würde.
Albus hatte die Geschichten über den jungen Lord gehört, wie auch die unzähligen Gerüchte. Ob sie der Wahrheit entsprachen, wusste niemand. Selbst sein Spion Severus Snape hatte ihn bis jetzt nicht gesehen. Der Grund hierfür mochte sein, dass er nicht zum Inneren Kreis des Dunklen Lords zählte. Wie es aussah, hatten bis jetzt nur die vertrauenswürdigsten Anhänger des Dunklen Lords ihn zu Gesicht bekommen.
Severus hatte ihnen nur erzählt, dass eine beunruhigend große Anzahl der Todesser den jungen Lord mehr fürchtete als Voldemort selbst. Bis zum heutigen Tage war der junge Lord bei keinem einzigen Kampf anwesend gewesen und hatte allen Anschein nach das Schloss des Todes nicht verlassen.
Dass er sich im Schloss versteckte, war ein weiteres Geheimnis, das ihn umgab. Vielleicht wollte Voldemort seinen Sohn vor Gefahren schützen und hatte ihm verboten den Kämpfen beizuwohnen. Das wäre wenigstens eine plausible Erklärung, dachte Albus und fragte sich, ob es überhaupt noch einen Sinn hatte Voldemort und seine Anhänger zu bekämpfen.
Wenn Severus' Berichte tatsächlich die Wahrheit widerspiegelten, dann war die Welt an die Dunkelheit verloren. Wie sollte es ihnen nur gelingen zwei mächtige Feinde zu besiegen?
