Kapitel 2
Als die ersten Sonnenstrahlen anfingen über den schmutzigen Boden zu wandern, öffnete Ginny müde die Augen. Hatte sie überhaupt geschlafen? Die Nacht war ihr endlos lang erschienen. Sie hatte auf die Rückkehr des Todessers gewartet, doch er war nicht gekommen. Schwerfällig setzte sie sich auf. Das musste die schlimmste Nacht gewesen sein, die sie je erlebt hatte. Angst und die bittere Kälte hatten sie wach gehalten, ganz zu schweigen von den Worten, die der Todesser zu ihr gesagt hatte und deren Bedeutung sie nicht hatte vergessen können. Und jedes Mal wenn sie doch eingenickt war, war es nur für kurze Zeit gewesen.
Albträume hatten sie gequält. Sie hatte von dem toten Zauberer geträumt und von dem gleißenden grünen Licht des Todesfluches. Wieder war sie im Zug gewesen und hatte das kleine Mädchen gesehen, das sie in ihrem Traum vorwurfsvoll angeschaut hatte.
Ihr Gesicht zum Sonnenlicht hebend, welches durch das kleine Fenster schien, schlang Ginny ihre Arme fest um sich. Ihr war eiskalt, doch sie war froh über das Licht. In der Nacht war es stockduster in ihrer Zelle gewesen. Nicht einmal ihre eigene Hand vor Augen hatte sie gesehen.
Die Stille hatte ihr jedoch noch mehr zugesetzt als die undurchdringliche Dunkelheit. Die einzigen Geräusche in der Zelle waren ihre eigenen gewesen. Sie hätte nie gedacht, dass ihre Atemzüge so laut sein konnten.
Ginny stand auf und streckte sich. Sie fühlte sich wie gerädert. Ihr ganzer Körper schien wehzutun. Ihr Arm, wo sie der Todesser festgehalten hatte und ihr Nacken sowie ihre Wange schmerzten am meisten. Sie rieb ihre Arme, ging ein paar Schritte umher und versuchte sich ein bisschen aufzuwärmen. Doch es nützte nichts. Ihr war einfach zu kalt und sie war viel zu hungrig und durstig um warm zu werden. Sie wickelte ihren dünnen Umhang fester um sich und setzte sich wieder hin.
Die Kälte, der Durst und der Hunger waren jedoch nicht das Schlimmste. Es war das Warten, die Ungewissheit, was geschehen würde. Dass die Todesser sie töten würden, war ebenso ein beängstigender Gedanke wie die Möglichkeit, dass sie sie am Leben lassen würden um sie als Spielzeug zu benutzen.
Ginny vergrub ihren Kopf in den Armen. Sie war machtlos gegen die Tränen, die in ihre Augen stiegen. Sie konnte es nicht ertragen. Das Warten machte sie wahnsinnig. Wie sollte sie nur eine weitere Nacht überstehen, wenn sie jeden Moment fürchtete, ihr Entführer würde ihre Zelle betreten? Sie starrte die Wände an und wünschte sich fast, dass sich die Tür zu ihrer Zelle öffnen würde.
Sie hatte keine Kraft mehr sich auszumalen, was mit ihr geschehen würde und doch konnte sie nicht aufhören darüber nachzudenken. Würde er überhaupt kommen? Was, wenn er sie vergessen würde? Wenn er sie in ihrer Zelle lassen würde, bis sie tot war? Vielleicht wäre das sogar das gnädigste Schicksal, dachte sie. In ein paar Tagen würde sie verdursten. Und dann wäre es vorbei.
Aber ich will noch nicht sterben! schrie sie lautlos, während die Verzweiflung sich ihrer wieder mit voller Wucht bemächtigte.
Hilf mir, bitte, hilf mir doch irgendwer, betete sie und kämpfte gegen den Drang an aufzustehen, gegen die Zellentür zu schlagen und so laut zu schreien, wie sie konnte. Sie wusste nicht, was schlimmer war, zu verdursten oder zu Tode gefoltert zu werden.
Sie bemühte sich diese Gedanken zu verdrängen, doch es war vergeblich. Unwillkürlich gewahrte sie, dass sie leicht hin und her schaukelte. Ihre Augen auf das Fenster richtend, begann sie leise zu summen und irgendwann zu singen. Wie gering der Trost auch war, sich an Lieder zu erinnern, die sie schon längst vergessen geglaubt hatte, half ihr nicht ständig daran zu denken, was die Anhänger des Dunklen Lords ihr antun würden.
Das Erste, was Ron auffiel, als er die Treppe hinunterging, war die gespenstische Stille. Es war diese ungewohnte Stille, die ihm mehr als alles andere bewusst machte, was gestern geschehen war. Seine Eltern und Brüder saßen bereits am Frühstückstisch. Niemand begrüßte ihn und auch Ron sagte nichts. Er setzte sich leise und warf einen verstohlenen Blick auf seine Familie. Wie auch ihm, war ihnen allen deutlich anzusehen, dass sie in der vergangenen Nacht kaum geschlafen hatten.
Mit einem mühsam unterdrückten Gähnen, griff Ron nach der Teekanne. Während er an seinem Tee nippte, ließ er seine Augen lustlos über den Tisch wandern. Doch er hatte keinen Hunger. Seine Familie schien auch keinen Appetit zu haben, wie er feststellte, als er sich umschaute.
Als sein Löffel auf den Tisch fiel und die alles durchdringende Stille durchbrach, die über ihnen hing, fuhr er zusammen.
„Ginny.", flüsterte er lautlos.
Er wusste nicht einmal, ob seine kleine Schwester noch am Leben war. Von klein auf hatten sie sich nah gestanden. Da zwischen ihnen nur ein Jahr und ein paar Monate Altersunterschied bestand und sie die Jüngsten gewesen waren, hatten sie, als sie noch klein gewesen waren, immer miteinander gespielt. Die Zwillinge hatten einander gehabt und ihre älteren Brüder hatten keine Lust gehabt mit ihnen zu spielen.
Und nun befand sich Ginny in der Gewalt der Todesser. Wenn er seine Augen schloss, konnte er Ginny immer noch vor sich sehen, wie sie verzweifelt versuchte ihnen zu folgen, hörte ihre Stimme, die seinen Namen schrie. Er war nicht fähig gewesen sie zu beschützen.
Wenn sie doch nur ihn mitgenommen hätten! Warum hatte er nicht ihre Hand festgehalten? Warum hatte er nicht irgendetwas getan?
Als Ron aufsah, traf sich sein Blick mit dem seines Vaters. In dessen Augen vermeinte er Hass zu sehen. Niedergedrückt von Schuldgefühlen, ließ Ron den Kopf hängen. Ein Stuhl schrammte über den Fußboden und Bill stand auf. Wortlos verließ er die Küche. In Abständen von ein paar Minuten verließen auch Arthur und seine Söhne das Haus. Ron und seine Mutter blieben zurück. Die Stille nicht mehr aushaltend, sprang Ron auf und flüchtete in sein Zimmer hinauf.
Jeden Schritt, der Severus Snape näher zur großen Halle brachte, verfluchte er innerlich. Sein Doppelleben als Spion war eine ständige Gratwanderung und zuweilen wusste er selbst nicht mehr, auf welcher Seite er stand. Zu entscheiden, welche Informationen er weitergeben konnte, ohne von Voldemort als Spion entlarvt zu werden oder von Dumbledore als Überläufer angesehen zu werden, bereitete ihm mitunter schlaflose Nächte. Es gab Zeiten, in denen er sich nur wünschte, dass eine Seite endlich siegen würde.
An Albus denkend, knirschte er mit den Zähnen. Der Anführer des Phönixordens hatte ihm doch tatsächlich den Auftrag gegeben, herauszufinden was mit den entführten Schülern geschehen war. Als ob ihr Schicksal nicht von vorneherein feststand.
Man brauchte kein Genie zu sein um zu wissen, dass die Vermissten in irgendeiner Zelle gefoltert wurden.
Severus kannte jeden der entführten Schüler und obwohl er es nicht zugeben wollte, traf ihn ihr Schicksal. Es wäre besser für sie gewesen, dachte er, hätten sie ihr Leben im Zug gelassen. Ihr Ende wäre weniger qualvoll gewesen.
Er schüttelte den Kopf und fragte sich was Albus sich nur dabei gedacht hatte. Er würde ihnen ohnehin nicht helfen können. Selbst wenn er sie ausfindig machen sollte – was ziemlich unwahrscheinlich war, bedachte man die beträchtlichen Ausmaße der Kerker – er würde sie nicht befreien können. Auch wenn er willens gewesen wäre sein Leben für sie zu opfern, das Risiko war einfach zu groß.
Der Gedanke, es könne ihm gelingen sämtliche Wachposten in den Kerkern außer Gefecht zu setzen, war schlichtweg abwegig. Als er kurz darauf vor der großen Halle zum Stehen kam, seufzte er. Tief Luft holend, fügte er sich ins Unvermeidliche und ging hinein.
Wann sie mit dem Singen aufgehört hatte, wusste Ginny nicht, aber es hatte sie nur noch durstiger gemacht. Gegen die Wand gelehnt, hatte sie an die steinerne Decke gestarrt. Die Zeit war unendlich langsam vergangen. Bei jedem lauteren Geräusch, das in ihre Zelle gedrungen war, war sie zusammengezuckt. Erst nach einer Weile hatte sie begriffen, dass die Geräusche von draußen kamen. Die dicken Mauern in den Kerkern waren anscheinend die Erklärung dafür, dass sie keine Schreie gehört hatte.
Sie fuhr sich mit der Zunge über ihre trockenen Lippen und gähnte. Sie war so müde, doch an Schlaf war nicht zu denken. Einen Blick auf ihre Armbanduhr werfend, sah sie, dass es bereits Spätnachmittag war. In ein paar Stunden würde es wieder dunkel werden.
Als die Tür zu ihrer Zelle aufgerissen wurde, sprang sie auf die Füße. Ihr Entführer bedachte sie mit einem spöttischen Lächeln. Mit zwei Schritten war er bei ihr. Er ergriff ihren Arm und warf sie zu Boden. Benommen, wollte sie sich aufrichten, doch er lag bereits auf ihr.
Erst als er sie brutal küsste, begann sie sich mit aller Kraft zu wehren. Er hob eine Hand und schlug ihr abermals ins Gesicht. Sie fing an zu schreien. Während sie mit ihm rang, spürte sie, wie Schwindel sie erfasste. Doch sie konnte nicht anders. Auch wenn sie wusste, dass es vielleicht klüger gewesen wäre sich zu ergeben, konnte sie sich nicht dazu zwingen stillzuhalten.
„Solltest du nicht auf deinem Posten sein?"
Die Stimme, die jäh erklang, war eisig. Wie durch ein Wunder ließ ihr Entführer sie augenblicklich los, sprang auf und fing an zu stammeln.
„Doch, ja, Mylord. Verzeiht mir. Es wird nie wieder geschehen."
Er hatte seine Entschuldigung kaum vorgebracht, als er zu Boden sank und sich vor Schmerzen krümmte. Nun war er es, der schrie. Bis ins Innerste erschüttert, setzte sich Ginny langsam auf. Sie lehnte sich gegen die Wand und rang nach Atem. Sie war völlig erschöpft. Es hatte fast ihre ganze Kraft gekostet gegen den Zauberer zu kämpfen. Und immer noch spürte sie seine Lippen auf den ihren, spürte, wie er sie anfasste.
Die Schreie verstummten und dieselbe kalte Stimme sagte:
„Geh, und sieh zu, dass es nicht wieder geschieht."
Der Todesser erhob sich schwankend, verbeugte sich tief und eilte aus der Zelle.
Ginnys Hände krallten sich in den weichen Stoff ihres Umhangs. Zögernd schaute sie hoch und blickte geradewegs in die smaragdgrünsten Augen, die sie je gesehen hatte. Ihr Herz machte einen Satz. Sie hatte nicht den geringsten Zweifel an seiner Identität. Sie war überzeugt, dass es der junge Lord war.
Der Sohn des Dunklen Lords war sehr groß, hatte schwarzes schulterlanges Haar und eine seltsame Narbe auf der Stirn, die einem Blitz ähnelte. Er sah jung aus. Er war wahrscheinlich nur ein oder zwei Jahre älter als sie. Über seiner schwarzen Robe trug er einen langen Umhang. Um seinen linken Arm hatte sich eine kleine Schlange gerollt. Das Reptil war schwarz und hatte rote Quadrate auf seinem Rücken.
Plötzlich kam ihr zu Bewusstsein, dass er sie genauso eingehend betrachtete, wie sie ihn. Unter seinen Blicken begann sie sich unbehaglich zu fühlen.
„Steh auf.", sagte er schließlich.
Ginny tat es. Zwar hatte sie mit ihrem Entführer kein Mitleid gehabt, aber zu wissen, dass der junge Lord nicht abgeneigt war die Unverzeihlichen Flüche zu benutzen, jagte ihr Angst ein. Wenn sie zudem die vielen Legenden über ihn glaubte, wäre es geradezu töricht ihm nicht zu gehorchen.
„Folge mir."
Er drehte sich um und verließ die Zelle. Ginny stolperte hinter ihm her. Was hätte sie auch sonst tun sollen?
Während sie gestern die Treppe hinuntergegangen war, ging Ginny sie nun hinauf. Sie verließen die Kerker und durchquerten die Halle. Jeder Todesser, dem sie begegneten, ging ihnen nicht nur sofort aus dem Weg, sondern verbeugte sich tief vor ihnen, sehr tief.
Der junge Lord schenkte ihnen keinerlei Beachtung, als er sie durch das Schloss führte. Unzählige Gänge und drei Treppen später hatte Ginny jegliche Orientierung verloren. Vor einer Tür blieb er stehen und hob eine Hand. Die Tür glühte in einem goldenen Licht und öffnete sich.
Ginny folgte ihm und trat in einen großen, gemütlich eingerichteten Raum. Fast das gesamte Mobiliar war schwarz. In mehreren Bücherregalen standen hunderte von Büchern. Während sie sich immer noch umschaute, ging der junge Lord zu einem der Sessel und setzte sich. Er beugte sich hinab und wartete bis seine zischelnde Schlange zu Boden geglitten war. Einen Moment später war sie unter dem Tisch verschwunden.
„Setz dich.", forderte er sie auf, als er sich aufrichtete.
Zaghaft trat Ginny näher und ließ sich langsam in den Sessel sinken, der dem jungen Lord gegenüber stand. Ihren Blick richtete sie auf das matt schimmernde Holz des Tisches. Ihr Herz schlug schnell. Als ein leises Geräusch ertönte, ruckte ihr Kopf hoch. Mitten im Zimmer war ein Hauself erschienen.
„Ja, Mylord?", fragte er mit piepsiger Stimme.
„Bring uns etwas zu essen."
Sekunden später kehrte der Elf mit einem Tablett zurück. Als der Hauself ihr ein Glass mit Tee reichte, konnte Ginny es nicht fassen, dass ihr Abendbrot serviert wurde.
„Danke.", sagte sie leise.
Der heiße Tee wärmte sie und löschte ihren Durst. Als sie das Glas geleert hatte, goss ihr der kleine Hauself prompt eine zweite Tasse ein.
„Nimm dir doch etwas.", sagte der junge Lord.
Ginny zuckte leicht zusammen. Ohne seinem Blick zu begegnen, streckte sie ihre Hand nach dem Teller aus. Auch wenn sie so hungrig war wie nie zuvor, bekam sie kaum einen Bissen hinunter. Als sie so viel gegessen hatte wie sie konnte, fühlte sie sich jedoch besser. Ihr Schwindel hatte ebenfalls nachgelassen. Ihre zweite Teetasse haltend, bemerkte sie, dass ihre Hände zitterten. Obwohl es hier drinnen warm war, fror sie. Es war so kalt gewesen in ihrer Zelle.
„Wie heißt du?"
Aufschauend, trafen sich ihre Augen mit smaragdgrünen. Rasch wandte Ginny sich ab.
„Ginny.", entgegnete sie mit leiser Stimme.
Immer noch ruhte sein Blick auf ihr und sie spürte, wie sie rot wurde.
„Du frierst. Wenn du möchtest, kannst du ein heißes Bad nehmen. Das Badezimmer ist dort drüben."
Seine Stimme war kühl und gleichmäßig. Sie konnte nicht erkennen, was er dachte. So nickte sie nur, stand auf und ging zu der Tür, auf die er gedeutet hatte. Sie wäre ohnehin nicht fähig gewesen ein Wort herauszubringen.
Als sie die Tür hinter sich verschlossen hatte, lehnte sie sich dagegen. Ihre Gedanken überschlugen sich. Sie verstand es nicht. Warum bot er ihr das alles an?
Eine Weile lang zögerte sie, doch dann zog sie sich aus. Kurz darauf glitt sie in das heiße Wasser. Mit einer Grimasse betrachtete sie die blauen Flecken, die ihren Arm zierten. Auch wenn die Kälte sie allmählich verließ, konnte sie sich nicht beruhigen. Sie wusste einfach nicht, was sie erwarten sollte.
Ihre Augen flackerten zur Tür. Da sie die Befürchtung hegte, er könne hereinkommen, versuchte sie sich zu beeilen. Als unerwarteterweise eine Hauselfe auftauchte, schrak sie zusammen. In seinen Händen trug das kleine Wesen ein paar Handtücher und ein seidenes weißes Nachthemd. Die Elfe legte die Sachen auf den Boden, hob ihre eigene Kleidung auf und verschwand.
Mit einem Gefühl dunkler Vorahnung, starrte sie auf das Nachthemd. Würde der junge Lord sie vergewaltigen?
Der Gedanke war naheliegend. Unwillkürlich fragte sie sich, ob es so ein Glück für sie gewesen war, dass er sie aus den Händen des Todessers gerettet hatte. Seine kalte Berechnung schien ihr sogar irgendwie bedrohlicher.
Doch wie sie die Situation auch drehte und wendete, ihr fiel kein genialer Fluchtplan ein. Plötzlich wurde ihr schwarz vor Augen. Sich zwingend langsam ein und auszuatmen, stieg sie aus der Badewanne und setzte sich auf den Rand. Wenig später nahm sie eines der Handtücher und trocknete sich ab. Dann bückte sie sich und hob das Nachthemd auf.
Ohne es richtig wahrzunehmen, streifte sie es über ihren Kopf. Als das kühle Material sie umhüllte, musste sie einen Schauder unterdrücken. Sie wandte sich um und schaute in den ovalen Spiegel, der an der Wand hing. Es war ihr, als ob eine Fremde ihr entgegenblickte. Ihr schmales Gesicht war aschfahl. Ihre Augen, welche riesengroß wirkten, waren umrandet von dunklen Schatten. Sie streckte ihre Hände aus und hielt sich am Waschbecken fest. Sie zitterte immer noch. Aber diesmal war es vor Furcht.
Was sollte sie nur tun? Sie konnte schließlich nicht für immer hier im Badezimmer bleiben. Es blieb dabei, sie war dem jungen Lord ausgeliefert. Und dieses Mal würde ihr niemand helfen.
Sie machte einen Schritt auf die Tür zu und hielt inne. Wie lange sie dort stand, wusste Ginny nicht, doch mit jeder weiteren Minute, die verging, fühlte sie sich schlechter. Und doch stieg unwillkürlich eine wilde Entschlossenheit in ihr auf. Sie wollte leben. Vielleicht, dachte sie, wird er mich nicht töten, wenn ich mich seinen Wünschen füge.
All ihren Mut zusammennehmend, öffnete sie die Tür. Der junge Lord saß immer noch in seinem Sessel. Als sie in den Raum trat, schaute er sie an. Unsicher, was sie tun sollte, tappte Ginny über den weichen Teppich und wollte sich gerade hinsetzen, als sie seine Stimme hörte.
„Komm her."
Er deutete auf den Platz neben sich und rückte beiseite. Angespannt setzte sie sich. Kalte Finger legten sich unter ihr Kinn und sie zuckte zusammen. Wieder sah sie in seine smaragdgrünen Augen. Sie versuchte in ihnen zu lesen, doch sie waren wie Spiegel. Sie verrieten nichts. Er beugte sich vor und küsste sie. Während ihr Herz so schnell schlug, dass es schmerzte, spürte sie seine Hand um ihre Taille und ihr Entschluss alles geschehen zu lassen, geriet ins Wanken.
Doch sie wusste, dass sie keine Chance gegen ihn hatte. Er war sehr viel stärker und mächtiger als sie und sie war so erschöpft, so ausgelaugt. Und selbst wenn sie es gewagt hätte sich gegen ihn zu wehren, hätte es sie lediglich ihrem eigenen Tod nähergebracht.
Wenigstens waren seine Küsse sanft und nicht brutal wie diejenigen, die sie von ihrem Entführer erhalten hatte. Nichtsdestotrotz konnte sie nicht die Tränen unterdrücken, die ihr in die Augen stiegen.
Als er sich von ihr löste, fasste er ihre Hände und zog sie hoch. Er war ungefähr eineinhalb Köpfe größer als sie und als ihre Beine unter ihr nachgaben, was es gut, dass er sie festgehalten hatte. Mit ihr in den Armen, durchquerte er den Raum und stieß mit einem Fuß eine andere Tür auf.
Das Schlafzimmer war in ein mattes Licht getaucht. Vor dem großen Himmelbett, welches sich in der Mitte des Zimmers befand, blieb er stehen. Einen Moment später fand sie sich auf der weichen Decke wieder. Er entledigte sich seiner Robe, warf sie achtlos auf den Boden und streckte sich neben ihr aus.
Er zog sie an sich und küsste sie. Mit einer Hand machte er eine seltsame Bewegung und ihr Nachthemd verschwand. Er hatte gezaubert ohne seinen Zauberstab zu benutzen, dachte sie fassungslos, als er sich auf sie legte. Sein Gewicht nahm ihr den Atem. Obwohl sie vor Angst erstarrt war, begann sie langsam etwas anderes zu empfinden.
Seine Küsse waren so sanft, seine Berührungen federleicht, als er sie behutsam streichelte. Seine Fingerspitzen zeichneten kleine Kreise auf ihre Haut. Ihre Anspannung ließ nach. Während Ginny in seine wunderschönen smaragdgrünen Augen starrte, die sie auf unheimliche Weise festzuhalten schienen, wunderte sich ein Teil von ihr, wie dies sein konnte. Sie sollte keine Freude an seinen Zärtlichkeiten haben, doch er erweckte Gefühle in ihr, die sie nie zuvor empfunden hatte.
Als er in sie eindrang, verspürte sie jäh einen scharfen Schmerz. Tränen rollten ihre Wangen hinunter. Er hielt inne und wischte ihr mit einer Hand sanft die Tränen fort. Langsam begann er sich zu bewegen und zu ihrem Erstaunen schwand nicht nur ihr Schmerz, sondern auch ihre Angst.
Die Schreie des Mädchens weckten ihn. Er beugte sich über sie, erhellte das Zimmer mit seiner Magie und schüttelte sie an der Schulter. Ihre Augen flogen auf und starrten ihn an. Schließlich sagte er:
„Schlaf weiter."
Er drehte sich wieder auf die andere Seite und brach seinen Zauber. Dunkelheit senkte sich auf sie herab, doch seine Müdigkeit war verflogen. Stattdessen lag er wach und lauschte den unregelmäßigen Atemzügen des Mädchens. Als er sich an die Erleichterung erinnerte, die er gerade eben flüchtig in ihren angsterfüllten Augen aufleuchten gesehen hatte, rührte sich irgendetwas in ihm.
Seine Gedanken wanderten zurück zu den Kerkern. Er wusste noch nicht einmal, warum er heute Nachmittag dorthin gegangen war. Eigentlich hatte er keinen speziellen Grund gehabt.
Die verzweifelten Schreie hatten ihn zu Ginnys Zelle geführt. Es war das dunkelrote Haar gewesen, das ihn dazu bewogen hatte, stehen zu bleiben und sich einzumischen. Etwas, das er nie zuvor getan hatte. Und dann hatte sie ihn angeschaut. Doch warum er sie in seine Gemächer gebracht hatte, konnte er sich immer noch nicht erklären.
Unruhig setzte er sich auf, sah zur Seite und musterte das schlafende Mädchen im hellen Licht des Mondes, welches durch das halbgeöffnete Fenster strömte. Die Erkenntnis, dass Ginny ihn an seine Mutter erinnert hatte, traf ihn wie ein Schlag. Seine Mauern brachen, verdrängte Erinnerungen stürmten auf ihn ein, wie auch der Hass, den er so lange in sich vergraben hatte.
Er bekam keine Luft mehr. Er sprang aus dem Bett und taumelte zum Fenster. Die Nachtluft, die er so tief wie möglich einatmete, tat ihm wohl. Für eine Weile starrte er auf die dunklen Schatten der Bäume. Allmählich wurde er ruhiger. Er trat wieder ans Bett und schaute Ginny nachdenklich an, doch er konnte es einfach nicht mit Bestimmtheit sagen, ob sie seiner Mutter dem Aussehen nach ähnelte oder nicht.
Aber irgendetwas an ihr hatte ihn wachgerüttelt und hatte es geschafft die Gleichgültigkeit, die ihn umgab zu durchbrechen. Als er sich erinnerte mit welcher Angst in ihren dunkelbraunen Augen sie ihn angeblickt hatte, fühlte er Bedauern und ein leichtes Schuldgefühl in sich aufsteigen. Sicher, während er die anderen Frauen ohne einen weiteren Gedanken zu verschwenden vergewaltigt hatte, hatte er sich bemüht Ginny nicht unnötig wehzutun. Ihr konnte er schließlich keine Schuld geben, noch hasste er sie.
Kurz darauf zuckte er die Schultern und kroch zurück unter die Decke. Er wusste, dass die Zeit endlich gekommen war. Sie würden bezahlen. Sie würden alle dafür bezahlen. Und er würde sich rächen können. Als er an die Decke starrte, ballte er seine Hände zu Fäusten. Warum nur hatte er so viel Zeit verstreichen lassen? So lange war er untätig gewesen. Er hätte schon längst etwas unternehmen können.
Doch es war noch nicht zu spät. Während ein leichtes Lächeln seine Lippen umspielte, hing er seinen Gedanken nach. Er brauchte nur noch einen brauchbaren Plan. Dann würde er seinen Rachefeldzug in die Tat umsetzen. Er würde seinen Schwur halten.
