Kapitel 3
Das helle Licht weckte Ginny. Sie öffnete die Augen und setzte sich auf. Sie war allein. Der junge Lord war verschwunden.
Sie sank zurück in die weichen Kissen und starrte an die Decke. Gedanken stürmten auf sie ein. Sie dachte an ihre Familie und erkannte zu ihrer Bestürzung, dass sie nicht wusste, ob ihr Bruder, Hermione und Luna den Überfall auf den Zug überlebt hatten. Tiefe Scham überkam sie. Sie hatte nicht ein einziges Mal an sie gedacht. Bitte, lass sie am Leben sein! betete sie still und blinzelte gegen Tränen an. Welche Sorgen sie sich alle um sie machen mussten. Und ihre Eltern, sie mussten außer sich sein vor Angst.
Ach, was hätte sie nicht alles dafür gegeben nun bei ihnen und im Fuchsbau in Sicherheit zu sein.
Aber sie war es nicht. Es hatte keinen Sinn darüber nachzudenken. Sie musste stark sein, musste das Beste aus ihrer Situation machen und alles in ihrer Macht stehende tun um zu überleben. Vielleicht würde sie einen Weg finden um zu entkommen.
Sich an diese Hoffnung klammernd, stand sie auf und wickelte die Decke um sich. In der offenen Terrassentür stehend, atmete sie die frische Morgenluft ein. Der Park war in gleißendes Sonnenlicht getaucht und der Ausblick war so schön, dass es kaum vorstellbar war, dass an diesem Ort Kerker existierten, in denen Menschen schreckliche Qualen erlitten.
Sie hörte Vögel zwitschern, spürte den Wind leicht über ihr Gesicht streichen und für einen Moment vergaß sie, wo sie war.
Als ihr Blick auf zwei Todesser fiel, die auf die Festung zu marschierten, wurde Ginny zurück in die Wirklichkeit gerissen. Sie lehnte sich aus dem Fenster und schaute hinunter. Enttäuscht, seufzte sie. Der Weg aus dem Fenster war definitiv nicht für eine Flucht geeignet, es sei denn sie wollte sich alle Knochen brechen.
Sie drehte sich um und erblickte ein Gewand, welches über einem der Sessel hing. Sie hob die dunkelgrüne Robe auf und bewunderte den feinen, seidenen Stoff. War das Gewand für sie? Da sie ihre eigene Kleidung nirgendwo entdecken konnte, war das ziemlich wahrscheinlich.
Während sie ins Badezimmer ging, wanderten ihre Gedanken zu dem jungen Lord, von dem sie noch nicht einmal den Namen kannte. Immer noch konnte sie nicht begreifen, dass er so sanft zu ihr gewesen war. Sie wusste, dass sie ihm für immer dankbar sein würde. Auch wenn sie gestern noch gezweifelt hatte, ob es nicht doch besser gewesen wäre, hätte er sie in den Kerkern gelassen, so hatten sich all ihre Zweifel in Luft aufgelöst. Sie war sich sicher, dass ihr Entführer keinerlei Rücksicht auf sie genommen hätte.
Aber konnte sie erwarten, dass der junge Lord immer freundlich zu ihr bliebe oder würde er sie zurück in die Kerker bringen, wenn er sein Interesse an ihr verlor?
Schnell unterdrückte sie diesen ungebetenen Gedanken und schaute in den Spiegel. Ihre Wange schillerte in allen möglichen Farben, aber wenigstens sah sie nicht mehr so abgehärmt aus wie am vergangenen Abend.
Nachdem sie sich angezogen hatte, verließ sie das Badezimmer. Als sie an den gedeckten Tisch trat, sah sie, dass der junge Lord bereits gegessen hatte. Sie lächelte dem Hauselfen zu, der sie mit einer kleinen Verbeugung begrüßte und setzte sich. Doch sie sprang gleich wieder auf. Sie lief zur Tür und griff nach der Klinke. Die Tür war verschlossen.
Sie kehrte zum Tisch zurück und sank auf einen der Stühle. Was für ein Dummkopf sie war. Selbst wenn die Tür nicht verschlossen gewesen wäre und sie den Weg zurück in die Halle gefunden hätte, was dann? Sie hatte es nie gelernt, wie man apparierte, ganz zu schweigen davon, dass die Schutzzauber höchstwahrscheinlich nur Todessern erlaubte das Schlossgelände zu verlassen.
Aber dann richtete sie sich auf und atmete tief ein. Sie war immer noch am Leben, sie war nicht gefoltert worden. Sie sollte dankbar sein hier zu sein und nicht in ihrer kalten, dunklen Zelle. Allein der Gedanke an die Kerker jagte ihr einen Schauder über den Rücken. Sie wusste, dass sie bisher unglaubliches Glück gehabt hatte.
Als der Hauself ihr eine Tasse Tee vor die Nase hielt, merkte sie, wie hungrig sie war. Die Auswahl war reichlich und sie langte kräftig zu. Sobald sie fertig war, räumte der Hauself den Tisch ab und verschwand. Ginny blickte sich ratlos um. Was sollte sie tun?
Ein Geräusch ließ sie zur Tür schauen. Als der junge Lord hereinkam, stand Ginny auf und wartete angespannt. Sie sah ihn nicht an, aber sie spürte seinen Blick auf ihr ruhen.
„Du solltest nicht versuchen zu fliehen. Du würdest nicht weit kommen. Wenn dich nicht die Wachposten aufhalten würden, dann die Hauselfen. Aber nun komm. In einer Viertelstunde findet eine Versammlung statt und ich will, dass du mich begleitest.", sagte er.
Bevor Ginny wusste, was sie tat, fragte sie:
„Was für eine Versammlung?"
„Eine Todesser Versammlung."
Natürlich, dachte Ginny, während sie gegen die ansteigende Panik ankämpfte. Sie würden sie dort nicht umbringen? Oder?
„Dir wird nichts geschehen."
Sie zuckte zusammen und sah auf. Obwohl sie sich nicht sicher war, ob sie ihm vertrauen konnte, nickte sie leicht.
Sie verließen das Zimmer und dieses Mal versuchte sich Ginny den Weg zu merken, als sie dem jungen Lord folgte. Nach einer Weile kamen sie zu einem großen Saal, der von zahlreichen Fackeln, die an den dunklen Wänden hingen, erleuchtet wurde.
Ginny erstarrte, als sie die versammelten Todesser und den Dunklen Lord erblickte, der auf einem prunkvollen Thron saß und von dort aus auf seine Anhänger heruntersah.
Sie konnte unmöglich dort hineingehen, nicht zu all den Mördern, dachte sie. Doch dann spürte sie, wie eine starke Hand ihren Arm ergriff und sie vorwärts zog. Die meisten Todesser verbeugten sich, einige wenige warfen ihnen nur neugierige Blicke zu.
Unwillkürlich rückte Ginny näher an den jungen Lord heran. Als sie die Mitte des Saals erreicht hatten, erhob sich der Dunkle Lord.
„Was für eine Überraschung dich hier zu sehen, mein Sohn. Welchem Umstand verdanken wir deine Anwesenheit?"
In seiner kalten Stimme schwang ein seltsamer Unterton mit. Der Griff mit dem der junge Lord ihren Arm hielt, verstärkte sich.
„Denkst du nicht, dass es an der Zeit ist, dass ich dir helfe die Welt zu regieren, Vater?"
Die roten schlangenähnlichen Augen des Dunklen Lords weiteten sich. Vater und Sohn starrten sich an.
Ginny trat unbehaglich von einem Fuß auf den anderen. Ein vorsichtiger Blick zur Seite machte ihr klar, dass sie nicht die Einzige war, die nicht wusste, was vor sich ging. Wie es schien, wagte es niemand sich auch nur zu bewegen oder ein Geräusch zu machen.
Als die Stille beinahe schon zum Zerreißen gespannt war, erklang ein unheimliches Zischen. Es dauerte einen Moment bis Ginny begriff, dass der Dunkle Lord und sein Sohn sich in Parsel unterhielten. Wenn sie die Schlangensprache doch ebenfalls verstehen würde! Zu hören, was die beiden gerade sagten, wäre bestimmt interessant.
Als ihr Gespräch zum Ende kam, nahm der Dunkle Lord seinen Zauberstab und zauberte einen zweiten Thron neben seinen. Mit einer Geste seiner Hand bedeutete er seinem Sohn sich zu setzen. Der junge Lord ließ sie los und ging zu seinem Vater. Da Ginny nicht wusste, was sie tun sollte, folgte sie ihm, stellte sich neben seinen Thron und rieb sich mit einem lautlosen Seufzer den Arm. Morgen würde sie garantiert blaue Flecken haben.
Als der Dunkle Lord zu sprechen begann, hob sie den Kopf.
„Meine treuen Anhänger! Für diejenigen von euch, die noch nicht die Ehre hatten meinen Sohn kennen zu lernen, lasst mich euch Henry Riddle, meinen Sohn und Erben vorstellen."
Sofort erhob sich halblautes Geflüster und Gemurmel. Der Dunkle Lord schenkte seinen Dienern jedoch keine Beachtung. Stattdessen neigte er seinen Kopf zu Henry und sagte mit leiserer Stimme, so dass nur Henry und Ginny ihn verstehen konnten:
„Ich bin froh, dass du endlich zu Verstand gekommen bist, Henry. Es hat lange genug gedauert."
„Es tut mir leid, Vater. Ich weiß, ich hätte schon längst zu dir kommen sollen."
„Ja, das hättest du."
Während Ginny ihnen zuhörte, richteten sich Voldemorts Augen plötzlich auf sie. Sie vergaß zu atmen. Eisige Kälte ergriff sie. Schnell schaute sie auf ihre Füße.
„Wer ist das?"
„Sie ist niemand Wichtiges, nur meine Geliebte."
Zu Ginnys grenzenloser Erleichterung wandten beide ihre Aufmerksamkeit bald den versammelten Todessern zu.
„Severus, komm nach vorne."
Die Stimme des Dunklen Lords hallte durch den großen Saal und kurz darauf stand Severus Snape vor ihnen und verbeugte sich. Jäh zog Ginny die Luft ein.
Sie blickte geradewegs in das vertraute Gesicht ihres Zaubertranklehrers. Zwar hatte sie gewusst, dass er ein Spion war – sie hatte es vor ungefähr zwei Jahren zufällig mit angehört, als ihre Eltern es in einem ihrer Gespräche einmal erwähnt hatten – aber nichtsdestotrotz war sie erschüttert ihm hier gegenüberzustehen. Professor Snape erkannte sie sofort und für den Bruchteil einer Sekunde leuchtete Bestürzung in seinen Augen auf. Eine Gefühlsregung, die sie ihm nie zugetraut hätte.
„Ja, Mylord?"
„Sag mir, gibt es irgendwelche Neuigkeiten?"
„Nichts von Bedeutung, Mylord. Sie sind vollauf damit beschäftigt um ihre Toten zu trauern und sich Sorgen um die vermissten Schüler zu machen. Einige Mitglieder des Ordens haben über einen Plan gesprochen unser Hauptquartier anzugreifen. Ich glaube jedoch kaum, dass Dumbledore solch einem Plan jemals zustimmen würde."
„Selbstverständlich nicht. Er weiß genau, dass es ihnen niemals gelingen würde meine Festung zu erobern. Ja, den Zug anzugreifen war wirklich eine brillante Idee. Wie schade, dass ihr vom Orden überrascht worden seid. Ihr habt bei weitem zu wenige umgebracht. Warum habt ihr eigentlich nicht gegen den Orden und die Auroren gekämpft, wie ich es befohlen hatte? Hattet ihr so eine Angst vor ihnen, dass ihr so schnell wie möglich fliehen musstet? Nott! Du warst der Anführer dieser Mission. Komm her. Snape, du kannst zurückgehen."
Severus Snape verbeugte sich und kehrte zu den anderen Todessern zurück. Stattdessen kam ein kleiner blonder Mann nach vorne.
„Also, Nott? Warum haben du und die anderen nicht gekämpft?"
„Ich…Mylord…Ich dachte…"
„Du dachtest? Du dachtest Nott? Du hast nicht zu denken, du hast meinen Befehlen zu folgen."
Der Dunkle Lord hob seinen Zauberstab, ließ ihn aber sogleich wieder sinken.
„Solch eine Nachlässigkeit muss bestraft werden. Henry, würdest du das vielleicht übernehmen?"
Henry hob mit lässiger Bewegung wortlos die Hand und Nott fiel schreiend auf die Knie. Als der junge Lord den Fluch kurz darauf aufhob, mühte sich Nott schwerfällig auf die Beine und verbeugte sich schwankend.
„Ich hoffe, Nott, du schenkst meinen Befehlen in Zukunft mehr Aufmerksamkeit. Doch nun lasst uns ein anderes Problem erörtern. Ihr alle wisst, dass Dumbledore und sein Orden mir im Wege stehen und dass sie schon viel zu oft meine Pläne durchkreuzt haben. Bis jetzt sind all unsere Versuche sie zu vernichten gescheitert und ich weiß auch warum. Wir haben stets den gesamten Orden angegriffen. Zukünftig werden wir jedoch versuchen die Mitglieder des Ordens zu trennen und sie einzeln anzugreifen. Ich halte diese Strategie für sehr viel Erfolg versprechender.
Severus, du wirst mir eine Liste mit den Namen aller Mitglieder, ihren Adressen, ihren Schwächen und ihrer Bedeutung im Orden erstellen. Dann werden wir sehen, ob wir diese wertlosen Kreaturen nicht vernichten können."
Sie sind nicht wertlos! schrie Ginny lautlos. Vor Wut und Angst zitternd, ertrug sie es kaum dem Dunklen Lord zuzuhören, wie er plante ihre Familie, ihre Lehrer und die anderen Leute, die sie kannte, umzubringen.
Sie sah zu Professor Snape hinüber. Ihre Augen trafen sich. Was würde er tun? Während sie sich fragte, ob er diese Liste schreiben würde, begriff sie, wie gefährlich seine Tätigkeit als Spion in Wirklichkeit war. Ein falscher Schritt und sein Geheimnis könnte entdeckt werden. Und der Dunkle Lord würde gegenüber einem Diener, der ihn verraten hatte, sicherlich keine Gnade walten lassen.
Als Snape sich umdrehte, sah auch Ginny zum anderen Ende des Saales. Vier Todesser zerrten einen Mann, eine Frau und zwei Kinder mit sich. Sie kamen näher und einer der Todesser sagte:
„Wir haben sie in der Nähe des Schlosses gefunden. Was sollen wir mit ihnen machen, Mylord?"
Der Dunkle Lord musterte die verängstigten Gesichter der kleinen Muggelfamilie, die offensichtlich nicht die leiseste Ahnung hatte, wo sie sich gerade befand und wandte sich dann an seinen Sohn.
„Henry, willst du sie nicht bei uns willkommen heißen?"
In seiner Stimme lag gespannte Erwartung. Der junge Lord hob abermals die Hand. Als die Schreie des Vaters abebbten und er bewegungslos am Boden lag, fing die Mutter an sich vor Schmerzen zu krümmen. Die Schreie der kleinen Kinder, die sich gegen die Griffe der Todesser wehrten, trafen Ginny bis ins Mark. Die Lehne des Thrones so fest umfassend, dass ihre Knöchel weiß hervortraten, flackerte ihr Blick kurz zu dem Dunklen Lord hinüber. In seinen Augen glitzerte eine seltsame Zufriedenheit, die sie nicht verstand.
Als eines der Kinder vor Schmerzen zu schreien begann, war Ginny nicht fähig sich die Quälerei länger anzusehen.
„Nein, hör auf! Hör auf!"
Sie wollte zu dem braunhaarigen Jungen laufen, doch ein fester Griff um ihren Arm verhinderte das und bewirkte, dass sie neben Henrys Thron hart auf ihre Knie fiel. Die qualvollen Schreie des Kindes jedoch verstummten.
Ginny wurde bewusst, was sie getan hatte und erstarrte. Damit rechnend, dass sie für ihr Verhalten bestraft werden würde, sah sie unwillkürlich zu Henry hinauf. Er schüttelte unmerklich den Kopf, ehe er seine Aufmerksamkeit wieder seinem Vater zuwandte.
„Sehr gut, Henry. Ich bin stolz auf dich."
Leiser fügte der Dunkle Lord hinzu:
„Kümmere dich um deine Geliebte. Anscheinend hat sie noch viel zu lernen."
„Mach dir keine Sorgen. Ich werde es ihr beibringen."
Henrys kalte gleichgültige Stimme hörend, erschauderte Ginny.
„Werft sie in die Kerker und kehrt auf eure Wachposten zurück.", sagte der Dunkle Lord an die vier Todesser gewandt. Diese verbeugten sich, hoben die Familie vom Boden auf und schleiften sie mit sich aus der Halle.
Ginny schaute hilflos zu und betete inbrünstig, dass wenigstens die Kinder irgendwie überleben würden.
„Da du dich endlich dazu entschlossen hast deinen rechtmäßigen Platz einzunehmen, denke ich, es wäre nun an der Zeit, dass du das Dunkle Mal erhältst, mein Sohn."
Henry ließ sie los und sagte:
„Wenn du es erlaubst, würde ich gern mein eigenes Zeichen haben, Vater."
„Dein eigenes Zeichen?", wiederholte der Dunkle Lord, das leise Geflüster seiner Anhänger ignorierend.
Während sie sich anstarrten, stand Ginny langsam auf.
„Es ist deine Entscheidung, Henry. Schwebt dir etwas Bestimmtes vor?", sagte der Dunkle Lord schließlich.
„Ja."
In der Luft entstand ein Bild. Als es deutlich zu erkennen war, betrachtete Ginny es erstaunt. Drei weiße Lilien formten einen Kreis. In der Mitte glühte ein Blitz. Lilien? Die Bedeutung des Blitzes konnte sie erraten, aber warum ausgerechnet Blumen?
Für einen Moment verweilte das Bild in der Luft. Dann löste es sich auf. Ginny warf dem Dunklen Lord einen schnellen Blick zu und vermeinte eine Spur von Angst in seinen Augen zu sehen. Sie schüttelte den Kopf. Es musste eine Sinnestäuschung ihrerseits gewesen sein. Warum sollte der Dunkle Lord seinen Sohn auch fürchten?
„Gut, für heute war das alles. Die Versammlung ist beendet. Severus, du wirst mir die Liste so schnell wie möglich erstellen. Ihr könnt gehen."
Der Dunkle Lord stand auf und beugte sich zu Henry hinab.
„Komm nach dem Mittagessen in mein Arbeitszimmer. Ich möchte noch mit dir sprechen."
Ohne eine Antwort abzuwarten, ging er auf eine unscheinbare Tür zu. Auch die Todesser verließen einer nach dem anderen die Halle. Vereinzelte warfen ihnen noch neugierige Blicke zu, aber kurze Zeit später waren Ginny und Henry allein.
„Komm, lass uns in den Park gehen.", sagte Henry und erhob sich.
Erleichtert, dass er ihr vorheriges Verhalten mit keinem Wort erwähnte, folgte Ginny ihm schweigend. Als sie kurz darauf einen der Wege entlanggingen, hob sie ihr Gesicht der Sonne entgegen, die strahlendhell am Himmel leuchtete und genoss deren Wärme.
„Du kennst Severus Snape, nicht wahr?"
Leicht verwundert nickte sie.
„Ja, er ist mein Zaubertranklehrer in Hogwarts."
Der junge Lord blieb stehen und schaute sie an.
„Ist er ein Spion?"
Vor Schreck zuckte Ginny zusammen. Das hatte sie nicht erwartet. Was sollte sie nur sagen? Auf gar keinen Fall konnte sie Snape verraten. Während sie fieberhaft nach einer Antwort suchte, hob Henry ihr Kinn und zwang sie seinem Blick zu begegnen. Er schien fähig zu sein bis auf den Grund ihrer Seele zu sehen.
„Ich verstehe.", sagte er und nahm seinen Spaziergang wieder auf.
Nicht wissend, wie sie seine Bemerkung auffassen sollte, starrte Ginny ihm nach, ehe sie an seine Seite eilte. Wusste er, dass der Professor ein Spion war? Hatte sie ihm die Wahrheit unbewusst verraten? War Professor Snape nun in Gefahr? Wenn ja, dann musste sie ihn irgendwie warnen! Fragte sich nur wie. Sie hatte nicht die geringste Idee, wie sie das anstellen sollte.
Begreifend, dass es unmöglich war, wenigstens zum gegenwärtigen Zeitpunkt, schaute sie auf zwei goldene Schmetterlinge, die durch die Lüfte tanzten.
Wie sie schon heute Morgen gesehen hatte, war der Park wunderschön. Doch sie konnte nicht vergessen, wo sie war. Sie ließ ihre Augen umherschweifen und selbst wenn sie es besser wusste, suchte sie nach einem Weg zu entkommen.
Als sie einem Weg folgten, der von Kastanienbäumen gesäumt wurde, blieb Ginny plötzlich wie angewurzelt stehen. Vor ihr erstreckte sich ein gewaltiger, glitzernder See. Die hohe Mauer, welche die Festung umgab, fehlte hier jedoch. Merkwürdig, dachte sie und schaute über den See zu den Wiesen und dem Wald. Sie müsste nur durch den See schwimmen und sie wäre frei.
Sie wandte den Kopf und zögerte. Doch ihre Neugierde war stärker als ihre Angst.
„Henry?"
Der junge Lord sah sie an. Seine Augen verengten sich. Dann schüttelte er den Kopf.
„Nenn mich Harry."
Verständnislos nickend, fragte sie:
„Warum fehlt hier die Mauer?"
„Falls du mit dem Gedanken spielst zur anderen Seite zu schwimmen, muss ich dich enttäuschen. Erstens würdest du nicht durch die Schutzzauber kommen– sie sind unsichtbar, aber glaube nicht, dass sie nicht existieren – und zweitens ist der See verzaubert. Von hier sieht es nicht besonders weit aus bis zum anderen Ufer, nicht wahr? Sollte man allerdings versuchen den See zu überqueren, würde er die Ausmaße des Pazifiks annehmen."
Nun ja, sie hatte ohnehin nicht geglaubt, dass der See ihr zur Freiheit verhelfen würde.
Als Harry begann weiterzugehen, warf sie trotzdem noch einen sehnsüchtigen Blick auf die Wiesen und den Wald, der sich am Horizont erstreckte.
Nachdem der Dunkle Lord seine Anhänger entlassen hatte, verließ Severus langsam den Saal. Seine Gedanken kreisten um das eben Geschehene. Ginny Weasley neben dem jungen Lord stehen zu sehen, war ein Schock für ihn gewesen und er hatte prompt den unverzeihlichen Fehler begangen die Kontrolle über seine Gesichtszüge zu verlieren.
Auch wenn es ihm schnell gelungen war seine Überraschung und Angst, das Mädchen könnte im Augenblick des Erkennens etwas Unüberlegtes tun, zu verbergen, konnte er nur hoffen, dass niemand seinen Gesichtsausdruck bemerkt hatte.
Als er sich an ihre farbenprächtige Wange erinnerte, überkam ihn Mitleid. Es war offensichtlich, dass sie geschlagen worden war und er würde seinen Zauberstab in einem Stück verschlucken, sollte seine Vermutung, dass der junge Lord das Mädchen in sein Bett geholt hatte, nicht zutreffend sein. Schön genug war Ginny Weasley schließlich. Ein Umstand, der im Hauptquartier des Dunklen Lords nur zum Nachteil sein konnte.
Wenigstens war sie noch am Leben und nach ihrem Aussehen nach zu urteilen, war sie auch nicht übermäßig gefoltert worden, etwas, das ihn ziemlich erstaunte, wenn er bedachte, wer Anspruch auf sie erhoben hatte.
Wie von selbst richteten sich seine Gedanken auf den jungen Lord, dem er bis zum heutigen Tage nicht begegnet war. Nach allem was diejenigen Todesser berichtet hatten, denen eine Begegnung mit dem Erben des Dunklen Lords nicht erspart geblieben war und nach allem was er gesehen hatte, konnte Severus dafür nur dankbar sein. Besonders Bellatrix Lestrange und Narcissa Malfoy schienen den Zorn des jungen Lords auf sich gezogen haben.
Trotz der Tatsache, dass die beiden Frauen niemals ein Wort über ihre Situation verloren hatten, wusste jeder im Schloss Bescheid, ausgenommen der Dunkle Lord, wie er vermutete.
Mit einem Seufzer erinnerte er sich an die Nacht, in der er gesehen hatte, wie Narcissa Malfoy aus den Gemächern des jungen Lords getaumelt war. Als sie auf die Knie gesunken war, hatte er ihr helfen wollen. Er würde den Ausdruck in ihren Augen, als sie vor ihm zurückgewichen war, nie vergessen. Im Gegensatz zu Bellatrix mochte er Narcissa und so hatte er in jener Nacht geduldig gewartet bis sie bereit gewesen war sich von ihm helfen zu lassen.
Während er sich um ihre Verletzungen gekümmert hatte, hatte er vorsichtig zu denken gegeben, ob es nicht sinnvoll wäre dem Dunklen Lord davon zu berichten und ihn zu bitten seinem Sohn Einhalt zu gebieten.
Zwar bestrafte auch ihr Gebieter sie und seine Flüche waren alles andere als schmerzlos, aber er tat es nur, wenn er einen Anlass fand unzufrieden mit ihren Diensten zu sein, doch nie zu seinem eigenen Vergnügen. Dies behielt er sich für die Gefangenen vor. Außerdem hatte der Dunkle Lord keinesfalls die Absicht seine Anhänger so zuzurichten, dass sie nicht mehr in der Lage waren zu kämpfen.
Er hatte jedoch kaum zu Ende gesprochen, als Narcissa ihn mit schreckgeweiteten Augen am Kragen gepackt und ihn mit heiserer, flehender Stimme beschworen hatte, davon abzusehen.
‚Wenn du das tust, Severus, wird er uns beide umbringen und unser Gebieter wird uns nicht helfen, auch wenn er es wüsste. Er würde unter keinen Umständen riskieren wollen, dass…Severus, versprich mir, dass du es nicht tun wirst. Du würdest eine Katastrophe heraufbeschwören!'
Letztendlich hatte er es ihr versprochen, auch wenn er den Sinn ihrer Worte nicht verstanden hatte. Doch all seine Versuche herauszubekommen was genau Narcissa gemeint hatte, waren gescheitert. Sie hatte ihm keine weiteren Informationen geliefert und er hatte begriffen, dass sie den jungen Lord mehr fürchtete als jeden anderen.
Seitdem hatte er sich oft gefragt, was der Dunkle Lord Narcissas Meinung nach nicht riskieren wollte. Er hatte es nie herausgefunden.
Als er Hogwarts erreichte, dachte er an die Ordensversammlung, die am Nachmittag stattfinden würde und wo er den Eltern von Ginny Weasley und einigen der anderen entführten Schüler begegnen würde.
Eine Begegnung, die er nicht herbeisehnte. Er hasste ihre hoffnungsvollen Blicke, hasste es ihre Hoffnung zu zerstören. Und ob die Neuigkeit über ihre Tochter und Schwester die Weasleys freuen würde, war er sich nicht einmal sicher.
Und dann gab es noch die beunruhigende Tatsache, dass sich der junge Lord endlich gezeigt hatte; ein Zauberer, der noch nicht einmal einen Zauberstab brauchte. Zweifelslos würde er zukünftig auch an den Kämpfen teilnehmen und Severus konnte die dunkle Vorahnung nicht unterdrücken, dass es der junge Lord sein würde, welcher der Dunklen Seite den Sieg bescheren würde.
Mit einem schweren Seufzer, machte er sich auf den Weg in sein Quartier, den Umstand verfluchend, dass immer er es sein musste der schlechte Nachrichten überbrachte.
Wie unwirklich doch alles war, dachte Ginny, als sie am frühen Nachmittag auf Harrys kleinem Balkon saß und einen Teller mit einem Stück Erdbeerkuchen in den Händen hielt. Die roten Erdbeeren betrachtend, hätte sie beinahe laut aufgelacht. Das würde ihr bestimmt keiner glauben!
Der Drang zu lachen verschwand jedoch genauso schnell, wie er gekommen war. Traurig dachte sie an ihre Familie und Freunde. Zwar würde Professor Snape ihnen erzählen, dass sie lebte, aber sie wusste, es würde die Sorge ihrer Familie nicht mindern. Wenn sie ihnen nur einen Brief schreiben könnte! Nur ein paar kurze Zeilen, sie würden ausreichen.
Jäh setzte sie sich auf. Was, wenn sie Harry fragen würde, ob er es ihr erlauben würde? Sie hatte nichts zu verlieren.
Ihr Verhalten während der Versammlung hatte schließlich auch keine Konsequenzen nach sich gezogen, noch ihre Frage nach dem See. Wenn er sie dafür hätte bestrafen wollen, hätte er es längst getan, oder?
Andererseits hatte er das Kind und dessen Eltern gefoltert. Immer noch konnte sie sein ausdrucksloses Gesicht vor sich sehen, die kalten smaragdgrünen Augen, die nichts verrieten. Hatte ihn der Schmerz des Jungen wirklich kaltgelassen? Aber wenn ihm die Gefühle anderer gleichgültig waren, warum hatte er sich dann so viel Mühe gegeben, ihr nicht weh zu tun?
Warum behandelte er sie nicht wie eine Gefangene, deren Leben nichts wert war?
Dir geschieht nichts. Er hatte sein Wort gehalten, dachte sie, auch wenn sie nicht verstand, weshalb er sie zu der Versammlung mitgenommen hatte. Und doch hatte er seinem Vater gesagt, dass sie ihm nichts bedeutete. War es die Wahrheit gewesen oder hatte er sie schützen wollen? Als sie sich erinnerte wie Voldemort sie betrachtet hatte, schien der Gedanke nicht mehr so abwegig. Zwar konnte sie nicht sagen, was genau sie in seinen roten Augen gesehen hatte, aber es hatte ihr Angst eingejagt.
Und vielleicht hatte Harry die Muggelfamilie nur gefoltert, weil ihm das sein Vater befohlen hatte. Auch wenn das die Tat nicht rechtfertigte, konnte sie ihm die Schuld dafür geben, dass er der Sohn Voldemorts war? Er war im Hauptquartier des Dunklen Lords aufgewachsen und war zu einem Schwarzen Zauberer erzogen worden. Er kannte nichts anderes.
Sie schlang die Arme um sich. Trotz der wärmenden Sonne war ihr kalt. Sie wollte es gern glauben, doch eine kleine Stimme in ihr warnte sie davor. Zornig schüttelte sie den Kopf. Wenn sie nur wüsste, was sie Harry gegenüber empfand. Mochte ihr Verstand ihr sagen, dass sie ihn hassen sollte, ihr Herz sagte etwas anderes. Zu groß war ihre Dankbarkeit.
Und warum sollte sie es auch nicht glauben? dachte Ginny trotzig. Alles war besser als zu verzweifeln und Harry hatte ihr die Hoffnung gegeben, dass sie überleben würde.
Ja, sie würde ihn darum bitten einen Brief schreiben zu dürfen. Sobald er von seinem Treffen mit seinem Vater zurückkehren würde, würde sie es tun. Nach seinem bisherigen Verhalten ihr gegenüber zu urteilen, war das Schlimmste was ihr geschehen konnte ein simples Nein.
Einem kleinen Schmetterling zuschauend, gelang es ihr sogar zu lächeln. Während sie ihren Erdbeerkuchen aufaß, wanderten ihre Gedanken unwillkürlich zu der Versammlung zurück. Auch wenn der Dunkle Lord versucht hatte seine Überraschung zu kaschieren, so war sich Ginny sicher, dass er mit dem Erscheinen seines Sohnes nicht gerechnet hatte, etwas, das sie nicht verstehen konnte.
Harry hatte doch sicherlich bereits an den Versammlungen seines Vaters teilgenommen oder täuschte sie sich in dem Punkt?
Als ihr einfiel, dass der Dunkle Lord Harry seinen Anhängern vorgestellt hatte und Harry ihn um Verzeihung gebeten hatte, dass er nicht früher gekommen war, runzelte sie die Stirn. Das sprach eindeutig gegen ihre Annahme. Und dann ihr Verhalten! Sie hätte schwören können, dass etwas in der Beziehung der beiden nicht stimmte. Jedes Mal, wenn sie sich angestarrt hatten, war es ihr so vorgekommen, als ob sie einen Kampf ausgefochten hatten.
Dass sie mit ihrer Einschätzung richtig lag, konnte gut möglich sein. Es war schwer sich den Dunklen Lord als liebevollen Vater vorzustellen.
Sie sah in den wolkenlosen Himmel und schüttelte unwillig den Kopf. Es war zwecklos darüber nachzudenken. Sie wusste viel zu wenig von Harry und seinem Vater und doch konnte sich nicht anders als sich zu fragen, wer wohl Harrys Mutter war.
Das Erscheinen der Hauselfe schreckte sie auf. Sie gab ihr ihren Teller und schenkte dem kleinen Wesen ein Lächeln. Sie konnte der Hauselfe nicht vorwerfen, dass sie Harry heute Morgen von ihrem Versuch die Tür zu öffnen berichtet hatte. Sie hatte keine Wahl gehabt.
Mit einem leisen Seufzer stand Ginny auf und sah in den Park hinaus. Wenn sie sich auf die Zehenspitzen stellte, konnte sie durch das Blätterwerk der großen Bäume sogar den See erkennen. Und auch wenn die Angst nicht gänzlich von ihr gewichen war, so war doch die Hoffnung zu ihr zurückgekehrt.
„Haben Sie sie gesehen?"
Severus schloss flüchtig die Augen, als er, kaum, dass er durch die Tür getreten war, fast von Molly Weasley überrannt wurde. Nach Worten suchend, rettete ihn die Stimme Albus Dumbledores davon eine Antwort geben zu müssen.
„Molly, bitte setz dich. Severus wird in Kürze alles erklären."
Dem Anführer des Ordens dankbar zunickend, ging Severus zu seinem Platz. Albus ließ währenddessen seinen Blick über die vielen versammelten Zauberer und Hexen wandern und nickte:
„Gut, ich denke, wir sind vollzählig. Dann können wir anfangen. Severus, würdest du uns nun bitte erzählen, ob du etwas herausgefunden hast?"
Severus, der sich entschlossen hatte die Wahrheit zu sagen, begann mit seiner Berichterstattung. Er vermied es jedoch in die Richtung der Weasleys zu blicken. Als er geendet hatte, herrschte betroffenes Schweigen. Molly hatte ihren Kopf an die Schulter ihres Mannes gelegt und schluchzte. Arthur saß bewegungslos auf seinem Stuhl, sein Gesicht war aschfahl. Plötzlich hob Molly ihren Kopf und starrte mit wildem Blick umher, während die Tränen immer noch ungehindert ihre Wangen hinunterliefen.
„Wir müssen Ginny befreien. Albus, wir können sie nicht dort lassen! Ich werde hier nicht herumsitzen und nichts tun, während meine Tochter von diesem Bastard gequält wird!" rief sie aus.
„Molly, es tut mir leid, aber wir können nicht…."
Weiter kam Albus nicht. James Potter stand auf und hieb seine Faust auf den Tisch. Mit blitzenden Augen beugte er sich vor.
„Natürlich kannst du! Aber das Schicksal anderer hat dich noch nie sonderlich interessiert, nicht wahr? Es ist dir völlig gleichgültig, wenn andere Menschen leiden oder verschwinden! Und deine sinnlosen Entschuldigungen kannst du dir sparen!"
„James, beruhige dich. Es ist nicht wahr, dass…"
„Es ist nicht wahr? Du hast nichts getan, oder? Du hast mir nicht geglaubt, dass Lily niemals so etwas tun würde! Du hast damals nicht den kleinsten Finger gerührt! Auch diesmal hast du nicht vor, auch nur irgendetwas zu unternehmen, nicht wahr? Du bist ein erbärmlicher Feigling, nichts als ein Feigling, Dumbledore!", brüllte James.
Dann wirbelte er herum, stürmte aus dem Raum und schlug die Tür mit beträchtlicher Wucht hinter sich zu. Sirius Black, James Potters bester Freund stand ebenfalls auf und folgte ihm. Auch seine anderen Freunde Remus Lupin und Peter Pettigrew erhoben sich und gingen zur Tür. Remus hatte indes noch die Zeit Albus Dumbledore einen entschuldigenden Blick zuzuwerfen, dann verließ auch er den Raum.
