Kapitel 4
Nachdem Sirius Black, Remus Lupin und Peter Pettigrew die Versammlung verlassen hatten, eilten sie die Treppe herunter. Da sie eine ungefähre Vorstellung hatten, wo sich James befand, brauchten sie nicht lange zu suchen. Sie fanden ihren Freund in der Nähe des Hogwarts Sees. Er saß auf einer Bank und starrte auf das Wasser. Sie traten näher, doch James rührte sich nicht. Ihre Gegenwart schien er nicht wahrzunehmen.
Remus seufzte traurig.
Seit Lily verschwunden war, die Frau, die er mehr als alles andere auf der Welt geliebt hatte, hatte sich James völlig verändert. Jemand, der ihn in Hogwarts gekannt hatte, hätte ihn nicht mehr wieder erkannt, würde er James jetzt treffen. Seit jenem schicksalhaften Tag hatte James weder gelacht noch gelächelt. Jegliche Lebensfreude war ihm abhanden gekommen.
Remus ließ sich neben James auf der Bank nieder und während er seinen Blick ebenfalls auf den See richtete, wanderten seine Gedanken in die Vergangenheit.
Sie waren alle so glücklich gewesen, als sie von Hogwarts abgegangen waren; vier Freunde, die geglaubt hatten, dass sie alles erreichen könnten, was sie wollten und dass ihnen die ganze Welt offen stand. Zusammen waren sie nach Godric's Hollow gezogen, einem kleinen Haus, welches James von seinen Eltern zu den Abschlussprüfungen geschenkt bekommen hatte. Ohne zu realisieren, wie gefährlich es werden würde, hatten sie die Ausbildung zum Auroren angefangen, sogar Peter, was alle – ihn selber eingeschlossen – überrascht hatte.
Ein Auror zu sein war hoch angesehen und die glanzvolle Uniform hatte bestimmt auch dazu geführt, dass sie diesen Beruf gewählt hatten. Auch ihr Drang Abenteuer zu erleben hatte eine Rolle gespielt. Selbstverständlich waren sie gegen den Dunklen Lord und seine Todesser gewesen, doch den Krieg hatten sie nicht sehr ernst genommen, jedenfalls am Anfang.
Das Leben war damals großartig gewesen und sie hatten es in vollen Zügen genossen.
Zwei Jahre nachdem sie Hogwarts verlassen hatten, hatte James die Liebe seines Lebens Lily Evans geheiratet.
Während sie Auroren wurden, hatte sich Lily entschieden eine Heilerin zu werden. Wenige Wochen nach James' und Lilys Hochzeit waren sie dem Phönixorden beigetreten. Sie hatten ihre Ausbildung abgeschlossen und plötzlich war der Krieg bitterer Ernst geworden. Das Begreifen, wie naiv und sorglos sie alle gewesen waren, war ein schmerzhafter Schock gewesen.
Godric's Hollow wurde ihre Zuflucht. Dort hatten sie die Toten, die Gefolterten und all die schrecklichen Erlebnisse, die ihnen Albträume bescherten, für eine Weile vergessen können; dort hatten sie trotz allem noch ein gewisses Glück gefunden.
Als James' und Lilys Eltern jedoch in Abstand von einer Woche ermordet worden waren, war auch in Godric's Hollow die Trauer eingezogen. Auch seine eigene Familie war nicht lange danach tot aufgefunden worden. Es war eine schwere Zeit gewesen. Doch sie hatten einander gehabt. Sie waren füreinander da gewesen und hatten sich gegenseitig Halt gegeben.
Wenn sie den Krieg und die Angst einfach nicht mehr ertragen hatten, waren sie in den Garten von Godric's Hollow gegangen und hatten versucht noch einen Sinn im Kampf gegen Voldemort zu sehen, ein Kampf, der jeden Tag mehr Tote forderte.
Es war Lily gewesen, die ihnen stets Mut gemacht hatte, Lily, die selbst in den dunkelsten Stunden die Hoffnung nicht aufgegeben hatte. Es war Lily gewesen, die Godric's Hollow zu einem wirklichen Zuhause für sie alle gemacht hatte. Bis zu jenem Tag, an dem sie verschwunden war und sich alles geändert hatte.
Nach einem hastig hinuntergeschlungenen Frühstück hatten sie sich von Lily verabschiedet und waren zum Ministerium aufgebrochen, um zu ihren Pflichten als Auroren zurückzukehren. Zu diesem Zeitpunkt hätte keiner von ihnen ahnen können, dass sie Lily zum letzten Mal sehen würden. Als sie Stunden später nach Godric's Hollow zurückgekehrt waren, hatten sie das Haus leer vorgefunden. Erst hatten sie sich keine Sorgen gemacht, da es häufig vorkam, dass Lily bis spät nachts arbeiten musste.
Irgendwann nach Mitternacht war James dann doch nach St. Mungo appariert und hatte zu seiner größten Bestürzung erfahren, dass Lily dort überhaupt nicht erschienen war.
Wieder zurück in Godric's Hollow hatte James das gesamte Haus auf den Kopf gestellt. Eine Nachricht hatten sie nicht gefunden, dafür hatten sie jedoch entdeckt, dass Lilys Koffer, ihre Lieblingskleidung und andere persönliche Dinge von ihr ebenfalls verschwunden waren.
Obwohl im ganzen Haus keinerlei Anzeichen für irgendwelche Gewalteinwirkung gefunden werden konnte, war James überzeugt davon gewesen, dass Lily von Todessern entführt worden war.
In derselben Nacht hatte James den Phönixorden informiert.
Albus Dumbledore hatte James' Meinung jedoch nicht geteilt. Seiner Ansicht nach war Lily freiwillig fortgegangen. Von James' Plan das Hauptquartier des Dunklen Lords anzugreifen, hatte er nichts hören wollen. Alle Versuche James' den Anführer des Phönixordens umzustimmen, waren gescheitert. Albus war hart geblieben und hatte mit seiner Weigerung James' Hass auf sich gezogen. Bis zum heutigen Tag hatte James ihm sein damaliges Verhalten nicht verziehen.
Wenn Remus ehrlich war, hatte er Albus' Argumentation nachvollziehen können. Das Schloss des Todes anzugreifen wäre reinster Selbstmord gewesen und doch…
Hätte auch nur die kleinste Chance bestanden, dass sie Lily hätten befreien können, er wäre mitgegangen.
Denn auch er hatte nicht eine Sekunde geglaubt, dass Lily aus freien Stücken fortgegangen war. Sie hatte James geliebt. Sie hätte ihn niemals verlassen. Abgesehen davon hatte sie immer Bescheid gesagt, wenn sie irgendwo hingegangen war. Solch ein gedankenloses Verhalten hätte nie und nimmer zu Lilys Charakter gepasst.
Zwar sprachen Lilys fehlende Sachen und die nicht vorhandenen Zeichen eines Überfalls klar gegen eine Entführung und Remus hatte sich auch nie erklären können, wie Lily es bei einer Entführung geschafft haben sollte ihre Kleidung mitzunehmen, aber etwas anderes zu glauben wäre ihm wie ein Verrat an Lily vorgekommen.
Irgendwie hatte damals nichts einen Sinn ergeben. Bis heute wussten sie nicht, was an jenem Tag wirklich geschehen war. Und wahrscheinlich würden sie es auch nie erfahren.
In seiner Verzweiflung war James zu seinem größten Erzfeind aus Schultagen Severus Snape gegangen und hatte ihn um Hilfe gebeten. Als dieser ihnen Tage später mit dunklen Schatten unter den Augen gesagt hatte, er hätte Lily in Voldemorts Kerkern nicht gefunden, hatte es James nicht glauben wollen und hatte Severus sogar angefleht ihn ins Hauptquartier Voldemorts mitzunehmen.
Severus hatte ihn nur schweigend angesehen. Dass Lily höchstwahrscheinlich bereits tot war, hatte er nicht gesagt. Er hatte es nicht gebraucht.
Eine Zeitlang hatten sie befürchtet, James würde Selbstmord begehen. Schließlich hatten sie jedoch begriffen, dass James das nie tun würde, solange er noch einen Rest Hoffnung hegte, eines Tages die Wahrheit herauszufinden und Lily vielleicht wieder zu finden. Solange er ihren toten Körper nicht gesehen hatte, weigerte er sich zu glauben, dass seine Lily nicht mehr am Leben war. Keiner von ihnen hatte das Herz gehabt ihm zu sagen, wie unwahrscheinlich dies war.
Die Jahre waren vergangen und sie hatten mehr oder minder gelernt mit dem Verlust Lilys fertigzuwerden. Doch James hatte seine Hoffnung nicht aufgegeben.
Remus' Blick flackerte zu James hinüber, der immer noch bewegungslos auf das Wasser starrte und wusste, dass sein Freund bis an sein Lebensende weiter hoffen würde. Er schaute hinüber zu Sirius und Peter und war nicht überrascht zu sehen, dass beide in ihre eigenen Gedanken vertieft waren.
Es war stets das Gleiche.
Wenn James an Lily dachte und in seine beängstigende wortlose Starre verfiel, saßen sie schweigend neben ihm. Am Anfang hatten sie noch versucht mit ihm zu sprechen und ihn zu trösten. Doch sie hatten schnell erkannt, dass ihre Bemühungen keinen Sinn hatten. Jedes ihrer Worte war für James bedeutungslos, wenn er sich nach Lily verzehrte.
Und so saßen Remus, Sirius und Peter auch an diesem warmen Sommertag zusammen und erinnerten sich an eine junge rothaarige Frau mit strahlend grünen Augen.
Allerdings jeder auf eine andere Weise.
Die Weasleys waren kaum ins Wohnzimmer getreten, als Ron schon auf seine Eltern und Brüder zulief und sie mit Fragen bestürmte. Der Nachmittag war ihm unendlich lang vorgekommen. Sein Zorn auf seine Eltern, die ihm verboten hatten zu der Ordensversammlung mitzukommen, weil er angeblich noch zu jung war, war zwar noch nicht verraucht, aber im Augenblick war das nebensächlich.
Da seine Eltern nicht dazu in der Lage schienen, übernahm es Bill seinem jüngsten Bruder die Neuigkeiten mitzuteilen. Ron hörte schweigend zu. Jedes Wort traf ihn bis ins Mark. Seine Schwester war die Geliebte des jungen Lords!
Er sah in die blassen Gesichter seiner Brüder, schaute zu seiner Mutter, die lautlos weinte und wusste, dass es die Wahrheit war. Überwältigt von Schmerz und Schuldgefühlen schloss Ron die Augen.
Arthur Weasley legte währenddessen mechanisch einen Arm um die Schultern seiner Frau. Die ganze Zeit war er äußerlich ruhig geblieben, doch fiel es ihm immer schwerer den Sturm, der in seinem Inneren wütete zu unterdrücken. Das Gefühl der Hilflosigkeit drohte ihn zu ersticken. Das Weinen Mollys wurde unerträglich.
Ohne seiner Familie noch einen Blick zuzuwerfen, verließ er mit schnellen Schritten das Wohnzimmer und ging in den Garten. Dort marschierte er geradewegs auf die alte morsche Eiche zu und schlug seine Faust gegen den Baum.
Jahre zuvor hatte er den Kopf über James Potter geschüttelt, als dieser beabsichtigt hatte das Schloss des Todes anzugreifen.
Arthurs Lachen klang bitter. Was für eine Ironie! Was für ein Narr er doch damals gewesen war! Nun verstand er James, verstand es in einer Intensität, die er nie für möglich gehalten hätte.
Für seine Tochter würde er alles wagen, würde er willig sein Leben aufs Spiel setzen. Sogar tausend schwarze Zauberer würde er angreifen, um Ginny zu retten. Er starrte verzweifelt auf seine blutende Hand. Wenn es nur etwas gäbe das er tun könnte!
James Potter! Er würde Potter besuchen. Vielleicht konnte er doch etwas tun. Wenn es ihm gelänge James zu überreden ihm zu helfen, könnten sie vielleicht einen Angriff auf das Hauptquartier des Dunklen Lords organisieren. Sicherlich würde James immer noch bereit sein alles zu riskieren, um seine Frau zu finden.
Ein winziger Funke von Hoffnung glomm in ihm auf. Er erhob sich und apparierte nach Godric's Hollow.
Das laute Klopfen riss Hermione Granger aus ihren Gedanken. Erschrocken sprang sie von ihrem Sessel auf, ergriff ihren Zauberstab und wirbelte herum. Doch es war nur eine kleine vertraute Eule.
Die Ereignisse im Zug mussten ihr stärker zugesetzt haben, als sie gedacht hatte. Zornig versuchte sie die Erinnerungen zu verscheuchen. Sie ging zum Fenster und holte Rons Eule herein.
Rons Brief war kurz, doch hatte er dermaßen unleserlich geschrieben, dass sie eine Weile brauchte um seine Handschrift zu entziffern. Sobald sie das letzte Wort gelesen hatte, sank sie auf ihr Bett. Das Blatt Pergament flatterte zu Boden. Erschüttert starrte sie den Brief an, machte aber keine Anstalten ihn aufzuheben.
Ginny! Auch wenn die Erleichterung darüber, dass ihre Freundin noch am Leben war im ersten Moment alle anderen Gefühle verdrängt hatte, jetzt ergriff sie kalte Angst. Würde sie das rothaarige fröhliche Mädchen jemals wieder sehen?
Hermione erschauderte, als Bilder von einer gefolterten Ginny durch ihren Kopf schossen. Sie bückte sich, hob Rons Brief hoch, betrachtete ihn und fasste einen raschen Entschluss.
Sie würde zum Fuchsbau gehen. Ron brauchte sie. Wie sie ihn kannte, würde er sich selbst die Schuld geben und sich die größten Vorwürfe machen, dass Ginny entführt worden war und nun auf die Gnade des jungen Lords angewiesen war.
Hermione stand auf und verließ ihr Zimmer. Zwar würden ihre Eltern nicht begeistert sein, aber sie hoffte dennoch, dass sie es verstehen würden. Ron in seiner Verzweiflung und seinem Kummer allein zu lassen, würde sie nicht fertig bringen. Mochte ihre Gegenwart auch nicht viel nutzen, so konnte sie wenigstens für ihn da sein.
Als es kühler wurde und die Sonne hinter den Wolken verschwand, verließ Ginny den Balkon und ging wieder hinein. Zwar warf sie einen Blick auf die vielen Bücher, doch momentan stand ihr der Sinn wahrlich nicht danach zu lesen und so setzte sie sich einfach in einen der Sessel. Sie zog die Knie zu sich, umschlang sie mit den Armen und schloss müde die Augen. Die laut zugeschlagene Tür ließ Ginny zusammenzucken. Nervös schaute sie zu Harry.
Obwohl sein Gesicht ausdruckslos war, schien er wütend zu sein. Das Treffen mit seinem Vater war wohl nicht zu seiner Zufriedenheit verlaufen.
Seine abrupten Bewegungen beobachtend, als er seinen Umhang über die Lehne des nächstbesten Sessels warf und einem Hauself befahl Abendessen zu bringen, hätte Ginny weinen können. Wie sollte sie jetzt den Mut aufbringen ihn zu bitten einen Brief schreiben zu dürfen?
Ginny war so sehr damit beschäftigt sich zu einer Entscheidung durchzuringen, dass sie kaum mitbekam, was sie aß. Tue es endlich, sagte sie sich. Heute Morgen beim See hast du ihn schließlich auch gefragt. Ja, da war er aber auch noch nicht zornig. Sie konnte sich seiner Reaktion nicht sicher sein.
Doch Harry beachtete sie nicht. Er richtete nicht ein Wort an sie. Stattdessen stand er auf und trat ans Fenster. Sein Verhalten und der Gedanke an ihre Familie bewogen Ginny schließlich dazu tief Luft zu holen und zu fragen:
„Harry?"
Er wandte sich um und sah sie an.
„Ja?"
„Könnte ich…könnte ich bitte einen Brief an meine Familie schreiben?"
Ginny stolperte fast über ihre eigenen Worte, doch sie schaffte es seinem durchdringenden Blick standzuhalten. Der Versuch in seinem Gesicht zu lesen, scheiterte kläglich. Aber dann nickte Harry leicht.
„Wenn du möchtest. Da, auf meinem Schreibtisch findest du Pergament und Federkiele."
Während Harry sich wieder zum Fenster wandte, blieb Ginny vor Überraschung noch einen Moment still sitzen. Dass Harry ihr tatsächlich seine Erlaubnis geben würde, hatte sie nicht zu hoffen gewagt. Nachdem sie sich Pergament und einen schwarz glänzenden Federkiel geholt hatte, kehrte sie zu ihrem Platz zurück und fing an zu schreiben. Ginny war so versunken in ihre Tätigkeit, dass sie nicht bemerkte, wie Harry sich wieder umdrehte und sie schweigend beobachtete.
Auch wenn Harry Ginnys Lächeln mehr erahnen konnte denn sehen, bereute er seine Entscheidung nicht. Vielleicht würde sie ihm tatsächlich helfen können. Wenn er jemanden hätte, dem er vertrauen könnte, würde es so Vieles vereinfachen. Aber konnte er Ginny vertrauen? Würde er dazu überhaupt fähig sein?
Unwillig schüttelte er den Kopf. Obwohl er dieses Mädchen, das ihn aus seiner Lethargie gerissen hatte, erst seit einem Tag kannte, konnte er einfach nicht aufhören über sie nachzudenken. Was für eine Ironie des Schicksals es war, dass Ginny nun in derselben Position war, wie seine Mutter vor so vielen Jahren. Und doch war es nicht zu vergleichen. Harry wusste, dass Voldemort seiner Mutter niemals erlaubt hätte einen Brief zu schreiben.
Die Erinnerungen, die plötzlich auf ihn einstürmten, rissen ihn mit sich fort. Er schloss die Augen und lehnte sich hilfesuchend gegen die Wand, während Bilder seiner Mutter in ihm aufstiegen. Er sah das Strahlen in ihren smaragdgrünen Augen, als er es zum ersten Mal geschafft hatte seinen Namen zu schreiben. Wie stolz sie auf ihn gewesen war! Sie war aufgesprungen und hatte ihn durch die Luft geschwungen.
Er sah sie beide in ihrem geheimen Rosengarten, sah ein kleines schwarzhaariges Kind, welches seiner Mutter aufgeregt zeigte, was es für neue Zaubersprüche gelernt hatte; erinnerte sich, wie sie sich vor ihm versteckt hatte und wie sie mit ihm durch den Park gelaufen war. Er erinnerte sich an kalte Winter, in denen sie ihn mit Schnee überhäuft hatte, an Abende, die sie vor dem munter flackernden Feuer gesessen hatten und er fasziniert ihren Geschichten gelauscht hatte. Beinahe konnte er ihr glockenhelles Lachen hören, vermeinte ihre Arme zu fühlen, die ihn fest umarmten.
All die Jahre war es ihm gelungen die Erinnerungen tief in sich zu begraben. Doch jetzt verspürte er wieder den unbeschreiblichen Schmerz, der seiner Kindheit so ein jähes Ende gesetzt hatte.
Und auch wenn sich jeder einzelne Augenblick dieses einen Tages, an dem er seine Mutter für immer verloren hatte, unauslöschlich in seine Seele eingebrannt hatte, hatte er es bisher erfolgreich vermieden sich zu erinnern. Doch der gestrige Tag hatte das schlagartig geändert.
Ein Schluchzen wollte in ihm hochsteigen. Das Atmen wurde ihm schwer, eisige Kälte ergriff ihn. Und er wusste, dass er sich ablenken musste. Schnell. Bevor er nicht mehr fähig sein würde die Erinnerungen und die Schuldgefühle zurückzudrängen. Er würde nicht an diesen Tag denken, konnte es nicht.
„Bist du fertig mit deinem Brief?"
Harrys scharfe Stimme ließ Ginny erschrocken hochsehen. Als er auf sie zukam, erhob sie sich und während sie ihm den Brief reichte, erstarrte sie. Wie hatte sie nur so leichtsinnig sein können! Harry würde ihren Brief bestimmt lesen und sie hatte geschrieben, dass Professor Snape in Gefahr war.
Doch Harry machte keine Anstalten das Pergamentblatt auseinander zu falten. Stattdessen marschierte er zum Fenster. Er riss es ungeduldig auf, lehnte sich hinaus und stieß ein kurzes Pfeifen aus. Wenig später schwebte ein schwarzer Phönix ins Zimmer und landete grazil auf Harrys Arm.
Fassungslos sah Ginny zu, wie Harry dem magischen Vogel ihren Brief übergab und flüchtig über das glänzende Gefieder strich. Phönixe waren so selten, dass es schon fast einem Wunder gleichkam einen zu sehen. Albus Dumbledore war der Einzige, den sie kannte, der ebenfalls einen Phönix besaß.
Harrys Phönix trillerte kurz und flog wieder in den Park hinaus. Während Harry das Fenster schloss, richtete Ginny ihre Augen auf Harry. Sie konnte es immer noch nicht fassen, dass er ihren Brief nicht gelesen hatte. Als er sich umwandte und sie ansah, senkte sie schnell den Blick. Vielleicht hatte sie doch die Wahrheit geschrieben. So oder so, ihre Familie würde ihren Brief erhalten und sie würden wissen, dass es ihr gut ging.
Ginny hob den Kopf und lächelte Harry an.
„Danke.", sagte sie leise.
Harry nickte und trat zu ihr. Als er sich zu ihr herabbeugte, wich sie nicht zurück.
Ruhelos wälzte sich Bill Weasley auf den Rücken und starrte an die Decke. Es war schon spät, doch er konnte keinen Schlaf finden. Seine Gedanken kamen einfach nicht zur Ruhe. Seine Familie zerbrach vor seinen Augen und es gab nichts, was er dagegen tun hätte können.
Der Abend war entsetzlich gewesen. Nicht lange nach ihrer Rückkehr von der Ordensversammlung war seine Mutter zusammengebrochen. Während Charlie und er sich um sie gekümmert und zu Bett gebracht hatten, hatte sein Vater ohne auch nur ein Wort zu sagen das Haus verlassen. Er war noch nicht wieder zurückgekehrt.
Bill konnte nur hoffen, dass er nicht irgendetwas Unüberlegtes tat. Allmählich wich die Wut auf seinen Vater und machte tiefer Sorge Platz. Wenn er nur wüsste, wo Arthur hingegangen war!
Nie zuvor in seinem Leben hatte er sich so hilflos gefühlt. Wieder sah er Rons Gesicht vor sich, als er ihm erzählt hatte, was sie von Severus Snape erfahren hatten. Er wusste, dass Ron sich die Schuld an den Geschehnissen gab, doch er hatte es nicht über sich gebracht mit Ron zu sprechen und ihm klarzumachen, dass er für Ginnys Entführung nicht verantwortlich war.
Unvermittelt setzte sich Bill auf, begriff, dass er sich selbst die Schuld gab. Und das war auch der Grund, der ihn davon abhielt mit seinem Bruder zu sprechen. Zwar sagte ihm sein Verstand, dass er nichts hätte tun können um den Angriff zu verhindern, sein Gefühl sagte ihm jedoch etwas anderes. Er war der älteste. Solange er sich erinnern konnte, hatte er auf seine jüngeren Geschwister aufgepasst und sein Möglichstes getan um sie vor jedweden Gefahren zu schützen.
Es war dieser Druck, diese Ungewissheit, die sie langsam zerstörte, wie auch ihre Schuldgefühle, die wohl jeder von ihnen mit sich herumtrug. Dass es unsinnig war, welche zu haben, spielte dabei keine Rolle. Sie alle wussten, dass sie nichts hätten tun können, aber wann ließ sich ein Gefühl schon von der Vernunft leiten?
Die Zwillinge, die sonst immer ein Herz und eine Seele gewesen waren, hatten sich bereits zwei Mal heftig gestritten und auch Percy benahm sich merkwürdig. Charlie war ebenfalls nicht mehr derselbe. Bill drehte sich zur Seite und schaute zu Charlie hinüber. Es sah so aus, als ob er schlief. Bill ließ sich jedoch nicht täuschen. Er kannte seinen Bruder gut genug, um zu erkennen, dass dieser nur so tat.
Bill wollte etwas sagen, doch kam kein Laut über seine Lippen. Selbst wenn er gewusst hätte, was er sagen sollte, es hätte nichts geändert. Es gab keinen Trost für sie. Noch konnten sie etwas tun, um Ginny zu befreien. Die Erkenntnis war bitter.
Sie würden Ginny nie wieder sehen und Bill wusste, dass seine Familie an Ginnys Entführung zerbrechen würde.
All die Jahre hatten sie überlebt, hatte es der Krieg nicht geschafft sie in die Knie zu zwingen. Zusammen hatten sie allen Schrecknissen des Krieges getrotzt. Bis jetzt. Zu wissen, dass sich Ginny in der Gewalt des jungen Lord befand und sie nichts tun konnten, um ihr zu helfen, machte ihn wahnsinnig.
Wie weh es auch tat, er konnte seine Augen nicht vor der Realität verschließen. Das Schloss des Todes offen anzugreifen war unmöglich. Seine kleine Schwester war verloren. Die einzige Hoffnung würden Severus Snapes Berichte sein.
Geistesabwesend blätterte Albus Dumbledore durch die verschiedenen Papiere, die sich in wilder Unordnung auf seinem Schreibtisch türmten. Die Ordensversammlung hatte ihn stärker mitgenommen, als er sich eingestehen wollte.
Immer noch sah er Mollys Gesicht vor sich, spürte die anklagenden Blicke der übrigen Weasleys und der Eltern der anderen getöteten und vermissten Schüler.
Auch James' Wutausbruch ließ ihm keine Ruhe. James' Worte hatten ihn tief verletzt.
Es war nicht wahr, dass ihm Lilys Verschwinden nichts ausgemacht hatte, noch war ihm ihr Schicksal gleichgültig gewesen, wie James behauptet hatte. Er hatte Lily gern gehabt. Sie war einer der begabtesten Schülerinnen gewesen, die Hogwarts je gehabt hatte und später eine der fähigsten Mitglieder des Ordens. Als Lily spurlos verschwunden war, hatte er sich natürlich Sorgen um sie gemacht. Alles hatte jedoch darauf hingewiesen, dass sie Godric's Hollow freiwillig verlassen hatte.
Über den Grund, der sie zu diesem Schritt bewogen hatte, konnte er nur Mutmaßungen anstellen. Sie war Heilerin gewesen. Sie war jeden Tag mit grauenvollem Leid konfrontiert worden, hatte oft bis zur völligen Verausgabung gearbeitet. Vielleicht hatte sie alldem entfliehen wollen, vielleicht war ihr die schwere Bürde der Verantwortung, die sie im Orden getragen hatte, zu viel geworden.
Albus wusste es nicht. Damals hatte er jedoch keine Notwendigkeit gesehen eine ganze Gruppe von Leuten auszuschicken, um ein verschwundenes Mitglied zu suchen, während sie doch jeden gebraucht hatten – und immer noch brauchten – um gegen Voldemort und seine vielen Anhänger zu kämpfen.
Selbst wenn er sich geirrt haben sollte und Lily Potter tatsächlich entführt worden war, hätte es keinen Unterschied gemacht. So bedauerlich es auch war, er hätte keinen seiner Verbündeten entbehren können, um nach Lily zu suchen.
Ein Krieg forderte nun einmal Opfer. Und mochte es auch grausam sein einen einzelnen Menschen zu opfern, um das Überleben Anderer zu gewährleisten, war dies in Kriegszeiten eine Notwendigkeit.
Jedenfalls war dies stets seine Überzeugung gewesen. Aber James wollte das nicht verstehen.
Albus fuhr sich mit einer Hand müde über die Stirn und dachte an Severus' Bericht. Der Umstand, dass der junge Lord endlich in Erscheinung getreten war, beunruhigte ihn zutiefst. Nun waren alle Zweifel ausgeräumt. Der junge Lord hatte keinerlei Skrupel Unschuldige zu foltern und wahrscheinlich sogar zu töten. Er war ein würdiger Nachfolger Voldemorts.
Zwar hatte Albus im Grunde nichts anderes erwartet, doch die Aussicht auch noch gegen den jungen Lord kämpfen zu müssen, der laut Severus noch nicht einmal einen Zauberstab brauchte, prophezeite eine düstere Zukunft.
Voldemort hatte alle Trümpfe in der Hand. Zu alledem war er entschlossener denn je den Phönixorden zu vernichten. Mit einem Seufzer erinnerte sich Albus an die Liste, die Voldemort von Severus gefordert hatte. Auf der Versammlung hatten sie keine Lösung gefunden und ehrlich gesagt hatte er auch keinen Vorschlag parat.
Besiegt und hoffnungslos stand der alte Zauberer auf, trat ans Fenster und starrte zum Vollmond hinauf.
Die Art, wie der junge Lord sie küsste und festhielt, hatte etwas Verzweifeltes an sich. Als Ginny merkte, dass seine Berührungen trotz seiner offensichtlichen Unruhe behutsam waren, entspannte sie sich allmählich. Zu ihrer Verwunderung erwiderte sie sogar seine Küsse.
Später, als sie schweigend nebeneinander in dem großen Himmelbett lagen, fragte sich Ginny, was es wohl sein mochte, dass den jungen Lord so quälte.
„Erzähl mir von deiner Familie."
Ginny wandte sich um. Aber es war zu dunkel im Zimmer. Sie konnte Harrys Gesichtsausdruck nicht erkennen. Zwar verstand sie nicht, weshalb er plötzlich Interesse für ihre Familie zeigte, doch sah sie keinen Sinn darin sich zu weigern. Erst zögerlich, dann immer fließender begann sie zu erzählen.
Tränen stiegen in ihre Augen. Wie sehr sie ihre Eltern und Brüder vermisste!
„Ginny, weine nicht."
Sanft berührte Harry ihre Wange. Zum ersten Mal hatte seine Stimme zärtlich geklungen.
Ginny hob eine Hand und legte sie auf Harrys.
„Werde ich meine Familie je wiedersehen?"
Im gleichen Augenblick wurde ihr bewusst, wie absurd es war, dass sie ausgerechnet dem jungen Lord solch eine Frage stellte.
„Ich weiß es nicht, Gin.", sagte Harry schließlich und zog sie an sich.
Während Ginny in seinen Armen lag, wunderte sie sich über seine Antwort. Hieß das, er würde ihr eventuell zur Flucht verhelfen? Weder hatte er nein gesagt, noch war er zornig geworden. Sie dachte daran, wie er sie genannt hatte und musste über ihren neuen Spitznamen lächeln.
Schlagartig erkannte sie, dass sie sich nicht mehr vor Harry fürchtete. Vielleicht würde sie ihn wirklich dazu bringen können ihr zu helfen. Ja, vielleicht würde sie sogar eines Tages ihre Familie wiedersehen. Sie sah Harry an und spürte ein eigenartiges Gefühl der Wärme in sich aufsteigen.
„Wer ist eigentlich deine Mutter? Lebt sie hier im Schloss?"
Harry erstarrte. Sein Griff wurde schmerzhaft. Dann ließ er sie unvermittelt los, warf die Decken beiseite und war mit zwei Schritten beim Fenster. Er zog die Vorhänge beiseite und riss es auf. Silbernes Mondlicht strömte ins Zimmer.
Ginny setzte sich auf. Was hatte sie nur falsch gemacht?
„Harry?"
„Sie starb, als ich sieben Jahre alt war.", sagte Harry tonlos.
Ginny schlug die Hand vor ihren Mund.
„Oh, Harry. Es tut mir so leid."
Als Harry herumwirbelte, zuckte Ginny erschrocken zurück. Seine Augen blitzten gefährlich, seine Hände waren zu Fäusten geballt. Die Luft um ihn herum schien zu vibrieren.
„Nein! Du verstehst es nicht! Du verstehst gar nichts! Gar nichts!", schrie er.
Er griff nach seiner Robe, streifte sie hastig über und stürmte aus dem Zimmer. Die Tür schlug er dermaßen heftig hinter sich zu, dass Ginny dachte, sie würde aus den Angeln springen. Verstört starrte Ginny auf die nun geschlossene Tür. Sie zitterte. Für einen Moment hatte sie befürchtet, er würde sie schlagen.
Sie wickelte sich fest in die Decke ein und schlang ihre Arme um sich. Harrys Wutanfall hatte ihr Angst eingejagt. Er stand in völligem Widerspruch zu seinem sonstigen kühlen Verhalten. Noch vor wenigen Stunden hatte sie geglaubt, Harry würde seine Beherrschung nicht so schnell verlieren. Aber nun musste sie erkennen, dass ihre Einschätzung des jungen Lords nicht ganz zutreffend war.
Auf der einen Seite grausam und kalt, scheute er sich nicht davor zu foltern, doch auf der anderen Seite war er zu ihr behutsam gewesen und hatte ihr die Hoffnung geschenkt, dass sie überleben würde. Ginny schaute zum Fenster und heftete ihren Blick auf den Vollmond. Wenn sie es wenigstens verstehen würde!
Sicher war es traurig, wenn ein Kind seine Mutter so früh verlor, doch erklärte es Harrys Reaktion in keinster Weise.
Sie dachte daran, wie er in ihren Armen buchstäblich erstarrt war. Ihr Verdacht, dass hier etwas sehr im Argen lag, erhärtete sich. Was hatte sich hier so viele Jahre zuvor wirklich ereignet? Verbargen die damaligen Ereignisse vielleicht auch die Erklärung für Harrys seltsame Beziehung zu seinem Vater?
Je länger sie darüber nachsann, desto wahrscheinlicher schien es ihr. Es war nicht nur blinder Zorn gewesen, der sich in seinen Augen gespiegelt hatte. Auch Schmerz und verzweifelte Hilflosigkeit hatte sie gesehen. Wie auch Hass, dachte sie plötzlich und erschauderte.
Wenn sie nur wüsste, was ihn quälte, wenn sie ihm nur helfen könnte! Der Gedanke ließ sie innehalten. Verwirrt schüttelte sie den Kopf.
Sie stand auf, trat ins helle Mondlicht und sah aus dem Fenster. Wo Harry jetzt wohl sein mochte?
Hast du den Verstand verloren? Warum machst du dir Sorgen um ihn? Hast du vergessen, wer er ist? Was er dir angetan hat? Wahrscheinlich wird er dich morgen zurück in die Kerker bringen und vergessen!
Mit Mühe brachte sie die hartnäckige Stimme in ihr zum Schweigen. Sie wollte es nicht glauben, weigerte sich diese Möglichkeit auch nur in Betracht zu ziehen. Doch das bange Gefühl blieb. Was, wenn Harry ihr nicht vergab?
Eingewickelt in die Decke setzte sie sich auf die Fensterbank. Sie war viel zu aufgewühlt um schlafen zu können. Wieder sah sie Harrys vor Zorn blitzende Augen, spürte, wie er sanft ihre Tränen fortwischte. Müde lehnte sie sich gegen die Wand. Die Bilder vermischten sich.
Was bedeutete sie Harry? Und wer war sie bei alldem? Harrys Gefangene? Sein Opfer? Seine Geliebte?
