Kapitel 5

Es war früh am Morgen. Selbst die Sonne war noch nicht aufgegangen. Langsam wich jedoch die Dunkelheit der Nacht und es wurde heller.

Die silbrigen Nebelschwaben, die durch den Park zogen, ließen Harry frösteln. Er zog seinen Umhang fester um sich und fing an zu laufen. Aber es half nichts. Seine Gedanken kehrten unweigerlich zu seinem Albtraum zurück, der ihn vor kurzem aus seinem unruhigen Schlaf gerissen hatte. Wochenlang war er verschont geblieben, doch während er es all die vorherigen Male geschafft hatte jeglichen Gedanken an den Traum, der ihn seit dem Tod seiner Mutter quälte, eisern zu unterdrücken, wollte es ihm jetzt nicht mehr gelingen.

Nach Luft ringend, blieb er schließlich stehen. Er sah auf und erstarrte. Es hätte ihn nicht sonderlich überraschen sollen sich an diesem Ort wiederzufinden, nicht nach allem, was gestern geschehen war und doch traf ihn der Anblick des schmalen Torbogens wie ein Schock.

Er wollte sich umdrehen, aber seine Beine gehorchten ihm nicht. Irgendetwas zwang ihn vorwärts und bevor er es verhindern konnte, stand er in dem kleinen Rosengarten seiner Mutter, den er seit damals nicht mehr betreten hatte.

Es war ihm, als hätte sich nichts geändert. Er starrte auf die dunkelroten Rosen und kämpfte gegen die Erinnerungen an.

Hätte ihn Ginny doch nur nicht nach seiner Mutter gefragt! Wie von Sinnen war er gestern durch den Park geirrt. Irgendwann hatte seine Müdigkeit überhand genommen. Er hatte sich auf den Boden gesetzt und war, an den mächtigen Stamm einer der Kastanienbäume gelehnt, eingeschlafen.

Er sank auf die kleine Bank und erschauderte. Sicherlich, Ginnys Frage war wie aus heiterem Himmel gekommen, aber dass sie ihn dermaßen aus dem Gleichgewicht gebracht hatte, erschreckte ihn. Die Ereignisse der letzten Tage mussten ihn stärker berührt haben, als er wahrhaben wollte. Seit er Ginny in den Kerkern begegnet war, drängten seine Erinnerungen mit aller Macht an die Oberfläche zurück, wie auch seine Gefühle, die er vergessen geglaubt hatte und er wusste nicht, wie er damit umgehen sollte.

Doch darüber würde er später nachdenken. Es war viel wichtiger einen brauchbaren Plan zu ersinnen.

Er wollte sich rächen. Er wollte Voldemort töten. Das stand fest. Die Frage war nur, wie er das anstellen sollte. Und es war nicht nur Voldemort, der bezahlen sollte. Die anderen sollten es auch. Die treuen Diener, die dem Dunklen Lord geholfen hatten, sollten ebenfalls ihre gerechte Strafe erhalten. Wenn auch nur die geringste Aussicht auf Erfolg bestanden hätte, wäre er alleine in die große Halle marschiert und hätte seinen Rachefeldzug in die Tat umgesetzt. Der einzige Haken an der Sache war jedoch, dass er es nicht alleine tun konnte.

Gegen so viele Feinde gleichzeitig zu kämpfen, würde seinen sicheren Tod bedeuten. Nein, wenn er mit Voldemort abrechnete, brauchte er die Gewissheit, dass sich keiner der anderen Todesser einmischen würde.

Ein spöttisches Lächeln huschte über Harrys Gesicht, als er daran dachte, wie bestürzt der Dunkle Lord über sein Erscheinen in der gestrigen Versammlung gewesen war. Nun, er hatte keine andere Reaktion erwartet.

Schließlich hatte er sich, seit er sieben Jahre alt gewesen war, verborgen gehalten. Die ersten Jahre nach dem Tod seiner Mutter hatte er sich in seinem Zimmer eingeschlossen und hatte sich die Zeit mit Büchern vertrieben. Er war besessen davon gewesen, so viele Zaubersprüche und Flüche wie möglich zu erlernen. Jedes Buch, das er in seinem Zimmer und der riesigen Schlossbibliothek gefunden hatte, hatte er so oft gelesen bis er in der Lage gewesen war jeden Zauber, der in dem Buch beschrieben worden war, auszuführen.

Nur seine Schlange, sein Phönix und die Hauselfen hatten ihm Gesellschaft geleistet.

Seine Schlange hatte er kurz nach seinem sechsten Geburtstag in einem der Blumenbeete gefunden, als er im Park gespielt hatte. Das seltsame kleine Wesen hatte ihn fasziniert und seine Neugierde geweckt. Und dann hatte er herausgefunden, dass er sich tatsächlich mit dem Reptil unterhalten konnte.

Er hatte die Schlange aufgehoben und war aufgeregt zurück zu seinen Gemächern gelaufen. Seine Mutter hatte ihn nachdenklich angesehen, als er ihr sein Haustier gezeigt hatte. Dann hatte sie ihn fest an sich gedrückt. Aus irgendeinem Grund war sie traurig gewesen, wie er jetzt begriff.

Seinen Phönix hatte er eineinhalb Jahre später gefunden oder besser gesagt sein Phönix hatte ihn gefunden. Kurz nachdem seine Mutter zu Tode gekommen war, war er in den Park geflohen.

Es war Winter gewesen, doch er hatte weder die bittere Kälte noch die wild herumwirbelnden Schneeflocken wahrgenommen. An jenem Tag wäre er sicherlich erfroren, wenn nicht, wie aus dem Nichts, ein schwarz schimmernder Phönix erschienen wäre. Weiche Flügel hatten ihn umfangen, lieblicher Gesang hatte ihn getröstet. Und irgendwie hatte er seinen Weg zurück in seine Räume gefunden, wo sich die Hauselfen seiner angenommen hatten.

Woher Rainbow gekommen war und vor allem weshalb der magische Vogel ihn gerettet hatte, erfuhr Harry nie. Seitdem war Rainbow bei ihm geblieben und sie und Diamond, seine Schlange, hatten ihm in den folgenden Jahren Gesellschaft geleistet. Doch auch sie hatten nicht verhindern können, dass er sich in sich selbst zurückgezogen und seine Gefühle immer tiefer in sich vergraben hatte. Mit jedem Tag hatte seine Gleichgültigkeit zugenommen bis irgendwann nichts mehr eine Rolle gespielt hatte.

Diamond, die auf ihren Streifzügen durch das Schloss viel zu sehen bekam, hatte ihm berichtet, was im Schloss vor sich ging, doch er hatte ihren Entdeckungen kaum Beachtung geschenkt.

Als Harry älter geworden war, hatte er seine Gemächer immer öfter verlassen. Selbst in den Park war er wieder gegangen, obwohl er darauf achtete nie in die Nähe des Rosengartens zu kommen und hatte aus lauter Langeweile begonnen die weitläufigen Kerker zu erforschen.

Da er weder dem Dunklen Lord noch seinen engsten Anhängern hatte begegnen wollen, hatte er den Rest des Schlosses gemieden. Die Chance ihnen in den Kerkern in die Arme zu laufen, war ziemlich gering. Der Dunkle Lord begab sich so gut wie nie dorthin und seine Vertrauten verirrten sich ebenfalls selten in die Kerker des Schlosses.

Einer der Wachposten hatte den Fehler begangen ihm schroff zu befehlen aus dem Weg zu gehen. Von plötzlichem Zorn gepackt hatte Harry ihn verflucht. Seitdem hatte er die Zaubersprüche und Flüche, die er aus seinen Büchern gelernt hatte an den Todessern geübt, die in den Kerkern die Gefangenen bewachten und befragten. Nachdem sie begriffen hatten, wer er war, hatte keiner von diesen jämmerlichen Gestalten es gewagt ihm seinen Zeitvertreib zu verbieten. Harry war sich noch nicht einmal sicher, ob der Dunkle Lord jemals davon erfahren hatte.

Das Gefühl von unbeschränkter Kontrolle und Macht hatte ihn berauscht und ihn seine all umfassende Gleichgültigkeit vergessen lassen. Wann immer er jemanden gefoltert hatte, hatte er sich beinahe lebendig gefühlt.

Und dann war er unerwarteterweise auf Bellatrix Lestrange getroffen. Wie erstarrt hatte er sie angesehen und ihr Anblick hatte die Erinnerungen mit einem Schlag zum Leben erweckt. Gegen den gnadenlosen Hass war er machtlos gewesen und so hatte er sie vergewaltigt. Jene Frau, der er einst vertraut hatte, die er sogar lieb gehabt hatte, bis zu jenem verhängnisvollen Tag. Ihre Schreie hatten die Erinnerungen verdrängt.

Doch jetzt würde er nicht mehr fähig sein seine Erinnerungen zu verdrängen. Zu viel war in den letzten zwei Tagen geschehen, zu viel war in ihm wach geworden. Harry hob den Kopf und sah, dass die Sonne gerade aufging.

Ja, es war Zeit sich zu rächen. Sie würden bezahlen. Doch er würde vorsichtig sein müssen. Harry dachte an das gestrige Treffen mit Voldemort in dessen Arbeitszimmer und seufzte. Es hatte seine gesamte Willenskraft erfordert dem Dunklen Lord vorzumachen, dass er ihm vergeben hatte und zukünftig an seiner Seite herrschen wollte. Allem Anschein nach hatte der Dunkle Lord ihm Glauben geschenkt, aber Harry wusste, dass gleichgültig wie skeptisch er seinem plötzlichen Sinneswandel gegenüberstehen mochte, Voldemort sich vorerst nichts anmerken lassen würde, noch es wagen würde, irgendetwas gegen ihn zu unternehmen.

Harry lächelte kalt. Fürs Erste war es ihm jedenfalls gelungen die Ruhe des Dunklen Lords zu erschüttern. Ihm war das unmerkliche Flackern in Voldemorts Augen nicht entgangen, als dieser Ginny erblickt hatte, noch seine Reaktion auf sein Zeichen, welches er in der großen Halle in die Luft gezaubert hatte.

Doch wenn er seinen Rachefeldzug in die Tat umsetzen wollte, brauchte er Hilfe.

Unwillkürlich dachte er an Ginny. Die Erinnerung an den gestrigen Abend ließ ihn den Kopf in seinen Händen vergraben. Hatte er überhaupt ein Recht dazu sie um Hilfe zu bitten, nach allem was er ihr angetan hatte?

Würde sie ihm je verzeihen können? Furcht hatte er in ihren Augen wohl gesehen, aber niemals Hass. Vielleicht war es noch nicht zu spät, dachte er. Zwar konnte er sein Verhalten nicht ungeschehen machen, aber irgendwie würde er versuchen es wieder gutzumachen.

Entschlossen stand er auf. Es war Zeit mit Ginny zu sprechen.


Regungslos am Fenster seines Arbeitszimmers stehend, sah der Dunkle Lord in den Park hinaus. Seine Augen waren starr auf seinen Sohn gerichtet, der sich mit schnellen Schritten dem Schloss näherte und wenig später aus seinem Blickwinkel verschwand.

Wenn er nur wüsste, was in seinem Sohn vorging! Was mochte Henrys plötzlichen Sinneswandel wohl bewirkt haben?

Die Erinnerung an die Lilien und den feurigen Blitz ließ ihm keine Ruhe. Er hatte die Anspielung nur zu gut verstanden. Auch hatte er die Worte nicht vergessen, die der Junge an jenem Tag geschrien hatte.

Wenn sein Sohn wirklich seine Meinung geändert hatte und endlich zur Vernunft gekommen war, wäre es jedoch fatal, wenn er dies durch grundlose Verdächtigungen gefährden würde. Schließlich hatte er auf der gestrigen Versammlung gesehen, wie mächtig sein Sohn war. Voldemort wusste, dass Henry der Pattsituation, die seit Jahren zwischen der dunklen Seite und dem Phönixorden herrschte, ein Ende setzen und damit den Krieg entscheiden könnte.

Sollte sich Henry allerdings tatsächlich rächen wollen, würde er handeln müssen, wie sehr ihm dieser Gedanke auch widerstrebte.

Voldemort schaute auf die Kastanienbäume und wünschte sich, wie so häufig in den letzten Jahren die Vergangenheit rückgängig machen zu können. Hätte Henry doch nur den Tod seiner Mutter nicht miterlebt! Oder hätte er wenigstens die Geistesgegenwart besessen den Jungen einem Gedächtniszauber zu unterziehen.

Doch sie alle waren wie gelähmt gewesen vor Schreck. Die sich überschlagenden Ereignisse hatten sie alle aus der Fassung gebracht, ihn selber eingeschlossen. Und als er endlich wieder seine Sinne beisammen gehabt hatte, war es zu spät gewesen. Der Schaden war angerichtet gewesen. Seitdem war Henry nie wieder in seine Nähe gekommen.

Zwar war es für ihn ein Leichtes gewesen Henrys stets verschlossene Tür zu öffnen, doch jedes Mal wenn er in Henrys Räume eingebrochen war, hatte er seinen Sohn nicht vorgefunden. Er hatte sogar Henrys Räume tagelang bewachen lassen. Doch Henry hatte sich nicht blicken lassen. Eine Durchsuchung des gesamten Schlosses war ergebnislos verlaufen.

Ein Rätsel, das er bis zum heutigen Tag nicht gelöst hatte. Ab und zu hatte er seinen Sohn im Park gesehen, doch nur von Weitem. All seine Versuche Henry habhaft zu werden, waren gescheitert. Und irgendwann hatte er es einfach aufgegeben, hatte gehofft, sein Sohn würde eines Tages wieder zur Vernunft kommen.

Dabei hatte alles so viel versprechend angefangen, dachte der Dunkle Lord mit einem wehmütigen Seufzer und erinnerte sich an den Tag, an dem er Lily Potter zum ersten Mal gesehen hatte. Die junge Frau hatte einen bewusstlosen Auror geschützt. Einen Zauberer, den er hatte töten wollen.

Doch die rothaarige Frau war nicht zur Seite getreten, wie er das erwartet hatte. Stattdessen war sie ihm entgegengetreten, stolz und aufrecht. In ihren smaragdgrünen Augen hatte Zorn gelodert, als sie angefangen hatte mit ihm zu kämpfen. Das plötzliche Erscheinen zahlreicher Auroren, die sich bis dahin nicht an dem Kampf beteiligt hatten, hatte ihr die Flucht ermöglicht und dem verletzten Zauberer das Leben gerettet.

Beim zweiten Mal, als sie sich gegenübergestanden hatten, war sie ihm auch entkommen. Zu diesem Zeitpunkt aber hatte er schon gewusst, dass er sie haben wollte. Seit sie sich ihm widersetzt hatte, hatte er diese Frau begehrt.

Er hatte sie brechen wollen; ihren Widerstand, ihren Mut, ihren Lebenswillen und ihren Stolz. Sie hatte ihn gedemütigt, hatte es gewagt gegen ihn zu kämpfen.

Außerdem hatte er in ihr die richtige Frau gesehen, um ihm einen Sohn und Erben zu schenken. Nicht nur war sie intelligent, mutig und schön gewesen, sondern auch mächtig. Lily Potter in seine Gewalt zu bringen, danach hatte er mit all seinen Sinnen getrachtet.

Der Plan, den er erdacht hatte um sie zu entführen, hatte ihm den erwünschten Erfolg gebracht. In kürzester Zeit war es ihm gelungen Lily vollkommen zu brechen, mit einem genialen Einfall, wie er geglaubt hatte. Jeden seiner Befehle und Wünsche hatte sie ihm von den Augen abgelesen. Und sie hatte ihm Henry, den lang ersehnten Sohn geboren. Die ersten Jahre waren zu seiner vollsten Zufriedenheit verlaufen.

An jenem einem Tag jedoch waren all seine Pläne für die Zukunft in einem einzigen Augenblick zerschmettert worden. Mit einem Schlag hatte Lily Potter alles zunichte gemacht.

Es war ihre Schuld gewesen. Sie hatte ihn provoziert und erst da hatte er begriffen, dass sie ihn all die Jahre getäuscht hatte. Weder hatte er ihren Willen je gebrochen, noch hatte sie sich ihm je unterworfen.

Die weißglühende Wut, die ihn bei dieser Erkenntnis gepackt hatte, konnte er heute noch spüren.

Lily, dachte er, während hilfloser Hass in ihm hochwallte. Er hätte sie nach Henrys Geburt töten sollen.

Doch nun war es zu spät über die Vergangenheit nachzugrübeln. Er konnte sie nicht ändern, so gern er das auch getan hätte. Langsam zu seinem Schreibtisch gehend, wusste er, dass er in Zukunft seinen Sohn sehr genau im Auge behalten musste.

Auf keinen Fall durfte er Lilys Sohn unterschätzen.


Als James Potter ins Wohnzimmer trat, sah er, dass Arthur Weasley noch nicht aufgewacht war. Die Entscheidung Arthur schlafen zu lassen, war rasch gefällt. Wenn er daran dachte, wie verzweifelt Arthur gestern Abend gewesen war, hatte er diese Nacht vermutlich ebenso schlecht geschlafen wie er selber.

James ging leise zum Fenster und schaute in den Garten hinaus, wünschte sich fast Arthur hätte sein Haus nie betreten. Doch Arthur war in solch einer katastrophalen Verfassung gewesen, dass James ihn einfach nicht abweisen hatte können, trotz seiner Abneigung gegen Arthur, der sich damals vehement auf Albus' Seite gestellt hatte und ihn einen leichtsinnigen Narren geschimpft hatte.

Arthurs zwar gestammelte, aber aufrichtige Entschuldigung hatte ihn entwaffnet. Mitleid hatte ihn erfasst. Er hatte Arthur ins Wohnzimmer gebracht, ihn sachte in einen Sessel gedrückt und mit heißem Tee versorgt, während er Sirius, Remus und Peter gebeten hatte ihn mit Arthur allein zu lassen.

Er konnte es nicht genau erklären, doch hatte er mit seinen Freunden nie über seine Gefühle, die er in Bezug auf Lily und ihr Verschwinden hegte, gesprochen. Irgendetwas hatte ihn stets davon abgehalten.

Es war nicht so, dass er ihnen nicht vertraute. Er wusste, sie würden ihn nie im Stich lassen, wenn er sie brauchte, doch instinktiv hatte er gespürt, dass sie nicht wirklich verstehen würden, wie es war den Menschen, den man mehr als alles andere auf der Welt, ja sogar mehr als sein eigenes Leben liebte, zu verlieren.

Arthur aber verstand es nun. Bis spät in die Nacht hinein hatten sie beieinander gesessen und geredet. Arthur hatte ihm von seiner Tochter Ginny erzählt und er hatte Arthur von seiner Lily erzählt. Zum ersten Mal seit Jahren hatte James es fertiggebracht über seine Frau zu sprechen.

Und auch wenn sein langes Gespräch mit Arthur ihm geholfen hatte und ein wenig von seiner schweren Last von ihm genommen hatte, hatte es seine Erinnerungen doch wieder schmerzvoll zum Leben erweckt.

Lilys Namen flüsternd, blickte er hinauf in den Himmel.

Wie er sie vermisste. In jeder Sekunde seines Lebens vermisste er sie und sehnte sich nach ihr. Er hörte ihr silberhelles Lachen, sah ihre strahlenden smaragdgrünen Augen vor sich, erinnerte sich, wie sie im Sommer durch den Garten gewirbelt war, ihm entgegengelaufen war und sich in seine Arme gestürzt hatte. Trotz des Krieges, trotz der unbeschreiblichen Grausamkeiten, die er jeden Tag erlebt hatte, war er glücklich gewesen.

Lily war sein Licht in der Dunkelheit gewesen, sie war der Sinn seines Lebens gewesen. Jeden Tag hatte sie ihm Mut gemacht, hatte fest daran geglaubt, dass der Krieg eines Tages zu Ende sein würde. Sie hatte ihn nur mit ihren leuchtenden Augen ansehen müssen und er hatte ihre Hoffnung geteilt, alle Verzweiflung für eine Weile vergessend. Eine sanfte Berührung von ihr und er hatte gewusst, er würde einen weiteren Tag überleben.

James stützte sich schwer auf das Fensterbrett und schloss die Augen. Dass er nicht wusste, was an jenem Tag geschehen war, an dem Lily verschwunden war, verfolgte ihn. Beinahe jede Nacht hatte er sich ein anderes Szenario ausgedacht, was an diesem Tag geschehen sein könnte. Eines war verrückter als das andere gewesen. Noch heute tat er dies und quälte sich mit Schuldgefühlen, wenn ein Teil von ihm auch nur einen einzigen Augenblick in Betracht zog, dass sie ihn freiwillig verlassen haben könnte.

Doch mit solch einer Verdächtigung würde er Lily betrügen. Er hätte ihre Liebe verraten.

Und das würde er niemals tun.

James drehte sich um und betrachtete den schlafenden Arthur. Unvermittelt dachte er an den Vorschlag, den Arthur gemacht hatte und der ihn die ganze Nacht über beschäftigt hatte. Damals hatte ihn keiner außer seinen Freunden ernst genommen, als er von seinem Plan das Hauptquartier des Dunklen Lords anzugreifen, gesprochen hatte.

Doch jetzt hatte er Arthurs Unterstützung. Vielleicht war der Zugangriff genau das Mittel zum Zweck, welches er brauchte. Mit einem Mal hellwach, nickte James versonnen, spürte, wie steigende Erregung ihn erfasste. Die Eltern der anderen vermissten und getöteten Schüler würden sicherlich ebenfalls bereit sein sich ihnen anzuschließen. Vielleicht würde die Mehrheit des Phönixordens endlich begreifen, dass dieser Krieg niemals enden würde, wenn sich alle scheuten Voldemort direkt anzugreifen.

Albus, dieser erbärmliche Feigling, würde sich natürlich wieder querstellen. Sie würden einen Weg finden müssen, um ihn daran zu hindern ihren Plan zu durchkreuzen. James wusste, wie gefährlich ihr Vorhaben war, wusste, dass sie alle ihr Leben riskieren würden, doch das kümmerte ihn nicht. Die Gefahr war ihm immer gleichgültig gewesen.

Das Einzige was zählte, war Lily. Er würde sie befreien.

Eines hatte er von Lily gelernt. Selbst wenn die Lage aussichtslos war, hatte sie niemals aufgegeben. Auch er würde bis zum Ende kämpfen. Manche Dinge waren es wert dafür zu sterben.

Und Lily war alles wert.


Molly Weasley saß am Küchentisch und starrte ihren längst kalt gewordenen Kaffee an. Wie still es im Haus geworden ist, dachte sie und sah ihre Söhne an, die schweigend ihr Frühstück aßen. Seit Ginnys Entführung hatte kaum einer von ihnen ein Wort gesprochen.

Heiße Tränen brannten in ihren Augen, doch sie hatte keine Kraft mehr zu weinen, noch sich Sorgen um Arthur zu machen.

Ein lautes Klopfen gegen das Fenster schreckte die Weasleys auf. Molly wandte sich schnell um und sah zu ihrem Erstaunen einen schwarzen Phönix auf dem Fenstersims sitzen. In seinem Schnabel trug das magische Wesen einen Brief.

„Hat Dumbledore einen neuen Phönix gefunden?", fragte Bill. Mit gerunzelter Stirn betrachtete er den unbekannten Phönix.

„Ich weiß es nicht.", sagte Molly, während sie aufstand. Sie ging zum Fenster und öffnete es.

Sie hatte kaum den Brief in ihre Hand genommen, als der Phönix davonflog. Molly sah ihm nach bis er ihren Blicken entschwunden war und richtete ihre Augen dann auf das dünne Pergament.

Sie erkannte die Handschrift sofort. Die Welt schien sich zu drehen und Molly schwankte.