Kapitel 6
„Mum!"
Mit einem Satz sprang Charlie auf und fing seine Mutter gerade noch rechtzeitig auf. Er legte seine Arme um ihre Taille und stützte sie. Langsam kam Molly wieder zur Besinnung, hörte die erschrockenen Stimmen ihrer Söhne.
„Was ist los?"
„Mum, alles in Ordnung?"
Sie lehnte sich an Charlie, nickte schwach und drückte den Brief an sich.
„Setz dich. Du bist ja aschfahl.", sagte Charlie und führte Molly zu ihrem Stuhl.
Bill reichte ihr ein Glas Wasser. Molly setzte sich, trank einen Schluck, sah dann auf und flüsterte beinahe unhörbar:
„Er ist von Ginny. Der Brief ist von Ginny."
„Was?"
„Von Ginny?"
Während ihre Söhne ungläubig auf das Pergament starrten, welches sie immer noch an sich presste, spürte Molly, wie Angst sie erfasste. Mit zitternden Händen faltete sie das Pergamentblatt auseinander. Im ersten Moment schienen die schwarzen Linien vor ihren Augen zu verschwimmen. Sich zusammenreißend, holte sie tief Luft und begann mit heiserer Stimme vorzulesen, was ihre Tochter geschrieben hatte.
Liebe Mum, lieber Dad und Bill, Charlie, Percy, Fred, George und Ron,
so unglaublich es auch klingen mag: es geht mir gut. Harry hat mich aus den Kerkern befreit und ich glaube nicht, dass ich momentan in Lebensgefahr bin, also macht euch keine Sorgen um mich.
Bitte schreibt sofort zurück, ob Ron, Hermione und Luna den Angriff überlebt haben. Ich muss es einfach wissen, auch wenn….wenn sie…Sagt mir die Wahrheit, ja? Und Ron, gib dir keine Schuld. Du hättest es nicht verhindern können. Das gilt für alle anderen auch.
Ich habe Snape gesehen. Er hat euch sicherlich erzählt, dass ich Harrys Geliebte bin, nicht wahr? Aber das ist nicht so schlimm. Er hat mich bis jetzt nicht wirklich verletzt. Außerdem hat er mir erlaubt den Brief zu schreiben. Je näher ich Harry kennen lerne, desto geheimnisvoller wird er. Ich bin mir zwar nicht sicher, doch ich denke, ich könnte ihn vielleicht überzeugen uns zu helfen gegen den Dunklen Lord zu kämpfen.
Von dem was ich bisher mitbekommen habe, stimmt irgendetwas in der Beziehung zwischen Harry und seinem Vater ganz und gar nicht. Beide verhielten sich ziemlich merkwürdig, als Harry mich zu der Todesser Versammlung mitgenommen hat.
Der Dunkle Lord war meiner Meinung nach regelrecht bestürzt seinen Sohn zu sehen. Den Grund für ihr Verhalten habe ich noch nicht herausgefunden, aber ich werde die Augen offenhalten. Und vielleicht gelingt es mir sogar Harry dazu zu bringen mich gehen zu lassen. Ich werde jedenfalls alles Mögliche versuchen hier herauszukommen.
Harry weiß, dass Snape ein Spion ist. Bitte warnt ihn. Ich habe zwar keine Ahnung, ob er in unmittelbarer Gefahr ist, doch sollte er vorsichtig sein.
Mum und Dad, macht euch keine Sorgen um mich. Es geht mir wirklich gut und wir werden uns wiedersehen, da bin ich mir sicher.
Ginny
Nachdem Molly geendet hatte, herrschte verblüfftes Schweigen.
„Er hat sie aus dem Kerker befreit? Und ihr erlaubt einen Brief zu schreiben? Warum in aller Welt hätte er das tun sollen?"
„Vielleicht ist er ja zur Abwechslung mal ein netter Todesser.", entgegnete sein Zwilling ohne den Blick von dem Brief abzuwenden.
„So ein Quatsch, George. Aber bedeutet das nicht, dass es Ginny einigermaßen gut geht?"
Molly schaute in Freds hoffnungsvolles Gesicht und spürte wie Erleichterung ihre Sorge und Angst für einen Augenblick verdrängte.
„Ich hoffe es. Oh, Ginny, warum musste es ausgerechnet meine Kleine treffen?", rief sie aus und auch wenn Ginnys Worte ihr neue Kraft gegeben hatten und die lähmende Verzweiflung von ihr gewichen war, konnte sie sich nicht helfen. Sie fing an zu weinen.
Bill legte seiner Mutter tröstend eine Hand auf den Arm.
„Ginny ist am Leben. Sie ist nicht mehr in den Kerkern. Und dafür sollten wir alle dankbar sein. Dem Brief nach zu urteilen hat sie die Hoffnung nicht aufgegeben und das sollten wir auch nicht. Wir sollten…."
Die Haustür schlug zu und wenig später betrat Arthur Weasley die Küche. Er bemerkte ihre erhitzten und verweinten Gesichter und blieb wie angewurzelt stehen.
„Was ist geschehen?"
„Dad! Wo bist du gewesen?", fragte Charlie zur selben Zeit.
„Ich war in Godric's Hollow und habe mit James Potter gesprochen. Ich habe dort übernachtet. Aber was ist passiert? Molly, was ist los?"
Beunruhigt ging Arthur zu seiner Frau. Molly sah ihn an und hielt ihm den Brief entgegen.
„Ginny. Sie hat geschrieben."
Arthurs Augen weiteten sich. Seine Lippen formten den Namen seiner Tochter. Dann riss er den Brief an sich. Nach einer Weile sank er auf den nächstbesten Stuhl.
„Ich denke, wir sollten den Brief Albus zeigen.", sagte er endlich und fuhr mit den Fingerspitzen über das Pergamentblatt.
Ein lautes Poltern ließ sie alle zusammenzucken. Ohne zu zögern ergriffen Bill und Charlie ihre Zauberstäbe und schlichen vorsichtig in die Richtung, aus der das Geräusch gekommen war. Arthur, Percy und die Zwillinge folgten Sekunden später. Ron, der ebenfalls gehen wollte, wurde von Molly zurückgehalten, die mit weißem Gesicht durch die offene Tür in den Flur starrte. Kurz darauf hörten Molly und Ron Charlies überraschte Stimme.
„Hermione? Was zum Teufel tust du hier?"
Sobald Ron begriffen hatte, dass seine Freundin all die Aufregung verursacht hatte, befreite er sich von seiner Mutter und lief in das Wohnzimmer. Dort war Bill gerade dabei Hermione vom Boden aufzuhelfen. Offensichtlich war sie via Flohpulver in den Fuchsbau gekommen.
„Hermione? Was machst du hier?"
Während Hermione noch dabei war, ihre Kleider wieder in Ordnung zu bringen, warf sie Ron einen zornigen Blick zu.
„Wenn ich geahnt hätte, dass du dich so wenig freuen würdest mich zu sehen, wäre ich bestimmt nicht gekommen."
„So habe ich das doch nicht gemeint, Hermione! Natürlich freue ich mich, dass du gekommen bist.", sagte Ron schnell, ging zu seiner Freundin und umarmte sie fest.
„Hermione! Wie schön dich wieder zu sehen."
Nachdem Molly Hermione ebenfalls begrüßte, schickte Arthur eine Nachricht an Albus Dumbledore. Eine halbe Stunde später machten sich die Weasleys, abgesehen von Ron und Hermione, auf den Weg nach Hogwarts. Aufgrund der Bitte der Weasleys würde dort in Kürze eine Ordensversammlung stattfinden.
Ron und Hermione hingegen gingen in Rons Zimmer und unterhielten sich über Ginnys Brief.
Hermione schüttelte mit einem nachdenklichen Ausdruck in ihren braunen Augen den Kopf.
„Ich verstehe das nicht. Es macht einfach keinen Sinn! Warum sollte der Sohn des Dunklen Lords gegen seinen eigenen Vater kämpfen? Wie kann Ginny nur auf so eine Idee kommen?"
„Ich weiß es nicht. Aber ich bin froh, dass er ihr erlaubt hat zu schreiben und wenn es wahr ist, dass er sie nicht so sehr verletzt hat und Ginny das nicht nur geschrieben hat, um uns zu beruhigen, werde ich ihm für immer dankbar sein. Selbst wenn er ein Todesser und der Sohn des Dunklen Lords ist. Fragt sich nur, was Ginny unter ‚nicht wirklich verletzt' versteht.", sagte Ron und seufzte.
Dann sah er Hermione an.
„Denkst du, dass sie Recht hat? Dass es wirklich nicht meine Schuld war?"
„Oh, Ron. Natürlich war es nicht deine Schuld. Wie kannst du nur so etwas denken?" sagte Hermione und rückte näher an Ron heran.
„Übrigens, wie geht es deinem Arm?"
„Abgesehen davon, dass er noch ein wenig wehtut, ist er wieder in Ordnung. Der Zaubertrank hat ziemlich schnell gewirkt.", sagte er und lächelte leicht.
Im nächsten Augenblick war sein Lächeln jedoch wieder verschwunden. Er legte den Arm um ihre Schultern und zog sie an sich.
„Glaubst du, dass wir sie je wieder sehen werden?" fragte er traurig, nicht sicher, ob er eine Antwort hören wollte.
Als der Phönixorden sich in Hogwarts eingefunden und Albus Dumbledore berichtet hatte, dass Ginny Weasley einen Brief geschrieben hatte, richteten sich die Augen aller Anwesenden unweigerlich auf das Pergamentblatt, welches Albus in den Händen hielt.
Albus räusperte sich und las Ginnys Brief mit lauter Stimme vor. Die darauffolgende Stille wurde von Severus Snape unterbrochen, der entsetzt fragte:
„Er weiß, dass ich ein Spion bin?"
Leiser fügte er hinzu:
„Wie hat er das nur herausgefunden?"
Albus nickte.
„Ich fürchte ja, obwohl es eher nebensächlich ist, wie er es herausgefunden hat. Ich frage mich allerdings, warum der junge Lord dein Geheimnis nicht aufgedeckt hat. Um auf Ginnys Brief zurückzukommen, unglücklicherweise enthält er nicht gerade viele Informationen. Aber wenn Ginny mit ihrer Vermutung Recht hat und es ihr wirklich gelingen sollte, den jungen Lord auf unsere Seite zu ziehen, würde uns das einen immensen Vorteil verschaffen.
Er wäre ein Quell an Wissen. Ganz zu schweigen von seiner Macht, die laut Severus sogar Voldemorts übertrifft. Mit seiner Hilfe könnten wir den Krieg tatsächlich gewinnen. Jedenfalls hätten wir eine sehr viel größere Chance als zum gegenwärtigen Zeitpunkt."
„Das ist völliger Unsinn! Er ist der Sohn Voldemorts! Warum sollte er gegen seinen Vater kämpfen? Vielleicht hat er das Mädchen gezwungen diesen Brief zu schreiben!" sagte Alastor Moody.
„Warum sollte er dies tun? Er würde damit nichts erreichen."
„Woher soll ich das wissen? Es fällt mir jedoch schwer zu glauben, dass er eine Gefangene so zuvorkommend behandelt. Das ergibt keinen Sinn, Albus."
„Nein, das tut es nicht. Aber es ist müßig darüber nachzudenken. Wir können nur abwarten, was geschehen wird. Severus, hast du schon einen Hinweis gefunden, wo die restlichen vermissten Schüler gefangen gehalten werden?"
Severus schüttelte den Kopf.
„Ich hatte bisher nicht allzu viel Zeit die Kerker zu durchsuchen. Aber meine Arbeit als Spion hat sich ja jetzt ohnehin erledigt.", sagte er mit bitterer Stimme.
Zu seiner Überraschung zog Albus eine Augenbraue hoch.
„Weshalb denn, Severus? Der junge Lord hat dein Geheimnis nicht verraten und wenn er das hätte tun wollen, hätte er das schon längst getan. Daher denke ich nicht, dass du in unmittelbarer Gefahr schwebst. Außerdem sind deine Informationen viel zu wertvoll, als dass wir leichtfertig darauf verzichten könnten."
Während Severus noch dabei war zu entscheiden, ob Albus Recht mit seiner Einschätzung der Lage hatte oder nicht, neigte Albus sinnend den Kopf und sah dann zu den Weasleys hinüber.
„Habt ihr Ginny bereits zurückgeschrieben?"
„Nein. Arthur bestand darauf dir den Brief so schnell wie möglich zu zeigen.", sagte Molly mit einem Seitenblick auf ihren Ehemann.
„Warum?"
„Ich habe darüber nachgedacht, ob Ginny uns nicht helfen könnte. Wenn der junge Lord ihr erlaubt hat zu schreiben, könnte sie ihn vielleicht fragen, ob er weiß, wo sich die vermissten Schüler befinden."
Arthur starrte Albus an.
„Hast du den Verstand verloren, Albus? Was ist, wenn er wütend wird? Wenn er Ginny dann wirklich verletzt? Das hast du wohl überhaupt nicht bedacht, oder? Hast du vergessen, was Severus uns gerade erst gestern erzählt hat? Er hat diese Muggel-Familie gefoltert. Sogar die Kinder!
Außerdem werden die Todesser sich sicherlich nicht ohne Grund vor ihm fürchten! Oder glaubst du nun, dass all diese Geschichten und Gerüchte über ihn nicht wahr sind?"
Hochrot im Gesicht wandte sich Arthur unvermittelt an Severus und fügte hinzu:
„Und du hast uns erzählt, dass Ginny so ausgesehen habe, als wäre sie geschlagen worden! Nein, Albus. Ich werde dir nicht erlauben, sie in größere Gefahr zu bringen, als sie ohnehin schon ist!"
„Ich weiß nicht mehr, was ich glauben soll. Aber es wäre einen Versuch wert, Arthur. Die Entscheidung würde allein bei Ginny liegen.", sagte Albus mit ruhiger Stimme.
„Und du denkst, dass ein fünfzehnjähriges Mädchen solch eine schwerwiegende Entscheidung treffen kann?", fragte Alastor Moody ziemlich skeptisch.
„Ja, wenn Ginny ihn überreden konnte ihr zu erlauben den Brief zu schreiben, dann sehe ich nicht ein, warum sie es nicht schaffen sollte, irgendetwas herauszufinden, was uns vielleicht weiter hilft. Also schreib ihr bitte, dass wir fünf Schüler vermissen und frage sie, ob sie nicht versuchen kann herauszufinden, was mit ihnen geschehen ist, Molly."
Molly nickte zögerlich, während Arthur zornig den Kopf schüttelte.
„Aber lasst uns nun von etwas anderem sprechen. Wir müssen immer noch entscheiden, was wir in Bezug auf die Liste unternehmen wollen, die Voldemort haben will.", sagte Albus Dumbledore und ließ seinen Blick fragend über den versammelten Orden wandern.
„Warum geben wir diese Liste nicht einfach Voldemort? Wenn er uns einzeln angreifen will, dann müssen wir eben vermeiden, dass wir allein in unseren Häusern hocken. Wir könnten nach Hogwarts ziehen, nicht wahr? In diesen alten Gemäuern ist doch genug Platz.
Und was die Informationen betrifft: wir nehmen nur solche Informationen, die uns nicht schaden können oder denken uns welche aus.", schlug James Potter vor und die Mehrheit der Mitglieder nickte zustimmend.
Albus schloss sich ihr an.
„Gut. Dann werden wir es so machen, wie James gesagt hat. Ich denke, es wäre das Beste, wir würden gleich beginnen die Liste zu schreiben, sodass Severus sie so schnell wie möglich Voldemort geben kann."
Es war der Gesang, der sie weckte. Ginny öffnete die Augen, drehte sich auf die Seite und lauschte voller Staunen. Nie zuvor hatte sie so etwas Schönes und Ergreifendes gehört. Als sie erkannte, dass es sich um Harrys Phönix handeln musste, wickelte sie sich in die Decke und ging in das andere Zimmer hinüber.
Dort erblickte sie Harry am offenen Fenster stehend. Er lehnte an der Wand und starrte in den Park hinaus, während er mit einer Hand über die schwarz schimmernden Federn seines Phönixes strich.
Ginny blieb stehen und betrachtete Harry, der ihre Anwesenheit noch nicht bemerkt hatte. Wo er wohl die Nacht über gewesen sein mochte? Schließlich gab sie sich einen Ruck.
„Harry?", fragte sie zaghaft und auf ihn zugehend, betete sie, dass sein Zorn auf sie verraucht war.
Langsam wandte er sich um. Sein Gesicht war ausdruckslos, als er sie ansah. Dann griff er nach etwas, das auf der Fensterbank gelegen hatte und kam zu ihr.
„Hier, der Brief ist für dich.", sagte er und reichte ihn ihr.
Mit einem Mal war Ginny hellwach. Angst ließ ihr Herz schmerzhaft gegen ihre Rippen pochen. Sie ergriff den Brief und riss ihn auf.
Liebste Ginny,
Ron, Hermione und Luna geht es gut. Abgesehen von Ron, der sich den Arm gebrochen hat, ist ihnen nichts geschehen.
Aber du, Ginny! Ist wirklich alles in Ordnung mir dir, mein Liebling? Wir machen uns solche Sorgen um dich. Es ist schwer zu glauben, dass der junge Lord dich anständig behandelt. Oh, Ginny. Ich wünschte, ich könnte dich da herausholen und du wärst jetzt in Sicherheit.
Aber uns wird schon etwas einfallen, Ginny. Gib die Hoffnung nicht auf. Der Orden wird einen Weg finden.
Was deinen Lehrer betrifft, er weiß Bescheid. Er wird sich vorsehen.
Ginny, mit dir wurden noch fünf weitere Schüler entführt. Albus bittet dich zu versuchen, ob du nicht herausfinden könntest, ob sie noch am Leben sind und wo sie gefangen gehalten werden. Aber bitte tue das nur, wenn du dir absolut sicher bist, dass keine Gefahr für dich besteht. Riskiere nicht dein Leben für sie, hörst du? Ich könnte es nicht ertragen dich zu verlieren, Ginny.
Ich hoffe, du bekommst diesen Brief. Wir haben ihn seinem Phönix mitgegeben. Er kam zu uns zurück, als wir von Hogwarts nach Hause kamen. Wenn es der junge Lord dir erlaubt, schreib uns so schnell wie möglich wieder, ja?
Pass auf dich auf, meine Kleine, und sei vorsichtig. Vergiss nie, wo du bist. Und bringe dich nicht in unnötige Gefahr. Irgendwie wird alles wieder gut werden, Ginny.
Wir lieben dich.
Mum
Sie waren am Leben! Ron, Hermione und Luna war nichts geschehen! Mit leuchtenden Augen sah Ginny auf.
„Danke, Harry. Danke, dass du mir den Brief gegeben hast.", sagte sie und drückte das Pergamentblatt an sich, wobei ihr beinahe die Decke entglitten wäre. Das erinnerte sie daran, dass sie sich noch nicht angezogen hatte. Während Ginny ins Schlafzimmer zurückging, starrte ihr der junge Lord schweigend nach.
Als Ginny eine Weile später aus dem Bad kam und einer der Hauselfen ihr eine hellblaue Robe gebracht hatte, setzte sie sich auf das Bett und nahm den Brief ein zweites Mal zur Hand. Wie viel ihr der Brief bedeutete, konnte wohl niemand ermessen. Und zu wissen, dass es ihrem Bruder, Hermione und Luna gutging, machte sie einfach nur glücklich und doch spürte sie plötzlich, wie brennende Tränen in ihre Augen stiegen.
Schnell blinzelte Ginny sie weg und konzentrierte sich auf das Geschriebene. Irgendwie musste sie den vermissten Schülern helfen. Nur zu gut erinnerte sie sich an ihre kalte, nasse Zelle im Kerker; an die furchtbare Angst, die sie gehabt hatte, an den gefolterten Zauberer, den die Todesser umgebracht hatten.
Der Gedanke, dass ihre Mitschüler den Anhängern des Dunklen Lords hilflos ausgeliefert waren, ließ sie erschaudern. Sie selbst hatte noch reichlich Glück gehabt, aber das hatten ihre Mitschüler bestimmt nicht gehabt.
Nachdenklich nagte sie auf ihrer Lippe herum. Sollte sie Harry um Hilfe bitten?
Er hatte ihr den Brief gegeben. Sie wusste, er hätte es nicht tun brauchen. Und er hatte weder eine Gegenleistung dafür verlangt, noch hatte er ihren Brief zuvor geöffnet und gelesen. Sie wollte gerade aufstehen, als sie Schritte hörte. Harry setzte sich zu ihr aufs Bett und hob mit einer Hand ihr Kinn.
„Erzähle mir, was du über den Phönixorden weißt."
Ginny erstarrte. Doch ein Blick in seine kalten Augen ließ sie ahnen, dass sie sich nicht verhört hatte. Fieberhaft suchte sie nach einer Antwort.
„Weshalb willst du das wissen?"
Kaum hatte sie die Worte ausgesprochen, biss sie sich auf die Zunge. Was für eine dumme Frage. Als ob sie nicht wüsste, wer er war.
„Sag' es mir. Ich könnte dich so leicht zwingen."
Ginny sah ihn fassungslos an. Sie wollte nicht glauben, dass sie sich so in ihm getäuscht hatte.
„Bitte, lass mich los. Du tust mir weh.", flüsterte sie.
„Erzähle es mir."
In seiner Stimme schwang ein gefährlich flacher Unterton mit und Ginny spürte, wie Furcht in ihr hochkroch.
„Nein, nein…"
Panik erfasste sie, doch sie würde ihm die wenigen Dinge, die sie wusste, auf keinen Fall erzählen. Sie würde weder ihre Familie noch den Orden je verraten.
Harry ließ ihr Kinn los und umfasste stattdessen ihre Schultern. Verzweifelt begann sie sich gegen seinen zu festen Griff zu wehren, doch Harry war sehr viel stärker als sie. Er drückte sie aufs Bett und hielt ihre schmalen Handgelenke über ihrem Kopf fest. Bewegungslos lag sie unter ihm. Unfähig sich zu rühren, starrte sie hinauf in seine smaragdgrünen Augen.
Die Zeit schien stillzustehen.
Sie spürte seinen Atem auf ihrem Gesicht, spürte sein Herz ebenso heftig schlagen wie ihr eigenes. Wie lange er sie festhielt, wusste sie nicht, doch allmählich lockerte sich sein Griff. Die Kälte wich aus seinen Augen. Etwas, wie Bedauern flackerte in ihnen auf.
Abrupt ließ er sie los und stand auf. Er nahm einen tiefen Atemzug und sagte leise:
„Es tut mir Leid, Gin. Verzeih mir."
Ginny richtete sich auf und konnte nur stumm nicken. Sie zitterte, wartete bang darauf, was weiter geschehen würde.
Harry wandte sich um.
„Komm.", sagte er und ging zur Tür.
Ginny folgte ihm. Als sie jedoch merkte, dass er seine Gemächer verlassen wollte, blieb sie unwillkürlich stehen. Er würde sie nicht in die Kerker zurückbringen, oder?
„Ginny."
Sie sah auf. Harry beobachtete sie abwartend.
„Ich will dir nur etwas zeigen. Komm."
Beim letzten Wort klang seine Stimme bittend. Zögernd ging sie auf ihn zu. Zu ihrer grenzenlosen Erleichterung führte Harry sie in den Park. Während sie schweigend einen der Wege entlang schritten, versuchte Ginny einen Grund für Harrys widersprüchliches Verhalten zu finden. Sie gab es jedoch schnell auf. Sie kannte Harry einfach zu wenig um ihn verstehen zu können.
Harry einen Seitenblick zuwerfend, fragte sie sich, ob sie Angst vor ihm haben sollte. Was, wenn er die Sache mit dem Phönixorden nicht auf sich beruhen lassen würde? Andererseits hatte er sie um Verzeihung gebeten.
Mit einem lautlosen Seufzer folgte sie Harry kurz darauf durch einen kleinen Torbogen. Erstaunt blickte sie auf die herrlichen dunkelroten Rosen.
„Es war der Garten meiner Mutter.", sagte Harry leise.
„Er ist wunderschön.", sagte Ginny und sah Harry fragend an.
Harry nickte. Dann wandte er seine Augen von den Rosen ab und schaute sie ebenfalls an.
„Ginny, ich habe dich nach dem Orden gefragt, da ich Voldemort töten will. Deswegen denke ich über einen Plan nach. Aber dafür muss ich alle Optionen und Fakten kennen."
Während Ginny noch damit beschäftigt war seine unerwartete Bemerkung in sich aufzunehmen, trat Harry auf sie zu und ergriff ihre Hände.
„Bitte, vertraue mir, Gin. Erzähle mir, was du weißt."
„Ich kann es nicht."
„Warum nicht?"
Ginny wich einen Schritt zurück.
„Warum nicht? Du bist der Sohn des Dunklen Lords! Es ist schwer zu glauben, dass du ihn töten willst. Und selbst wenn, woher soll ich wissen, wozu du die Informationen noch nutzen würdest? Ich würde meine Familie und den Orden verraten und das kann ich einfach nicht!"
Ihre Wut schwand so schnell, wie sie gekommen war. Als ihr klar wurde, dass sie ihn angeschrien hatte, zuckte sie zusammen. Sie war abhängig von Harry, war auf sein Wohlwollen angewiesen und so eben hatte sie das vergessen.
„Hab' keine Angst. Ich…"
Harry brach ab und sie sah ängstlich auf. Doch sie konnte kein Anzeichen von Zorn in seinem Gesicht entdecken. Er schien nach Worten zu suchen und während sie sich schweigend anstarrten, wusste sie plötzlich tief in ihrem Herzen, dass er ihr nichts antun würde.
Woher sie derartiges Wissen hernahm, hätte sie nicht sagen können, aber sie war sich sicher.
„Warum willst du deinen eigenen Vater töten?", fragte sie ruhig.
Schlagartig verdunkelten sich Harrys Augen. Gnadenloser Hass blitzte in ihnen auf. Sein Griff um ihre Hände verstärkte sich.
„Er ist es nicht. Er hat meine Mutter ermordet.", flüsterte er, ließ sie los und wandte sich ab.
Ginnys Gedanken überschlugen sich. Nicht nur Harrys gestrige Reaktion verstand sie nun besser, sondern jetzt kannte sie auch den Grund für Harrys angespannte Beziehung zu seinem Vater. Doch instinktiv spürte sie, dass das bei Weitem nicht alles war. Es war noch mehr geschehen.
Was auch immer sich damals abgespielt hatte, es hatte ihn traumatisiert und bis heute hatte er es nicht verwunden.
Wie mochte wohl seine Kindheit ausgesehen haben? Ohne eine Mutter und alleingelassen mit dem Wissen, dass sein Vater sie ermordet hatte? Hatte er überhaupt jemanden gehabt, der sich um ihn gekümmert hatte?
Der nächste Gedanke erschütterte sie. Hatte er vielleicht sogar den Mord an seiner Mutter miterlebt?
Das Mitleid, das sie plötzlich überkam, war so groß, dass sie im ersten Moment unfähig war zu sprechen. Dann legte sie eine Hand auf seinen Arm.
„Es tut mir so leid, Harry.", sagte sie leise.
Harry bedeckte ihre schmale Hand mit seiner eigenen und sah auf sie herab.
„Wirst du mir helfen?"
Ginny schwieg, betrachtete die Rosen.
„Wenn du gegen die Dunkle Seite bist, weshalb hast du dann die Muggel Familie gestern gefoltert?", fragte sie schließlich.
Auch Harry sah zu den Blumen hinüber. Erst nach einer Weile antwortete er ihr.
„Seit dem Tag, an dem er meine Mutter…getötet hat, war mir alles gleichgültig. Nichts hatte mehr eine Bedeutung für mich. Ich existierte, aber ich lebte nicht. Doch du hast das verändert, Ginny. Du hast meine Gefühle und Erinnerungen wieder zum Leben erweckt und mich an meinen Schwur erinnert mich an Voldemort zu rächen.
Du musst verstehen, dass ich seit damals nie wieder in seine Nähe gekommen bin. Aber um eine Möglichkeit zu finden ihn zu töten und um mehr Spielraum zu haben einen Plan zu ersinnen nicht nur ihn sondern auch seine Anhänger zu besiegen, muss ich wissen, was er vorhat, was er denkt. Deswegen bin ich mir dir zu der gestrigen Versammlung gegangen.", sagte er und sah sie an.
„Ich konnte mich nicht weigern sie zu foltern, Ginny. Er hätte sonst sofort gewusst, dass ich keinesfalls die Absicht habe ihm zu helfen die Welt zu erobern. So aber vermutet er es nur."
Ginny nickte nachdenklich. Dann holte sie tief Luft.
„Also gut. Ich werde dir alles über den Phönixorden erzählen, was ich weiß.", sagte sie.
Zum ersten Mal seit sie Harry kannte, erhellte ein aufrichtiges Lächeln sein Gesicht.
„Danke, Gin."
Ginny jedoch hob eine Hand.
„Ich habe auch eine Bitte an dich, Harry. Meine Mutter hat mir geschrieben, dass außer mir noch fünf andere Schüler entführt worden sind und ich wollte fragen…kannst du… können wir versuchen sie zu finden? Oder weißt du, wo sie sind?"
„Sie werden in den Kerkern sein. Wir können ihnen helfen, wenn Voldemort tot ist. Es wäre zu gefährlich, wenn wir jetzt versuchen würden sie zu befreien."
Ginny schüttelte verzweifelt den Kopf.
„Wenn wir ihn erst besiegen müssen, kann es für sie doch längst zu spät sein. Dann könnten sie tot sein! Gibt es denn gar nichts, was wir tun können, Harry?"
„Ich weiß es nicht. Das Problem besteht darin, dass wir auf keinen Fall Aufmerksamkeit erregen dürfen. Voldemort vertraut mir nicht und wenn er herausfinden sollte… momentan habe ich keinen brillanten Rettungsplan vorzuweisen. Ich muss darüber nachdenken. Komm, es ist schon spät. Du kannst mir beim Frühstück oder besser gesagt beim Mittagessen alles über den Orden erzählen und vielleicht fällt uns ja etwas ein, wie wir deinen Mitschülern helfen können."
