Kapitel 10
Harry hatte kaum zu Ende gesprochen, als ein lautes erschrockenes Quicken erklang. Es kam von Peter Pettigrew, der sich auf seinem Stuhl hin und her wand wie ein Fisch auf dem Trockenen. Sirius Black, der nicht fassen konnte, was Harry gerade behauptet hatte, wandte sich irritiert an seinen Freund und fragte:
„Peter, was zum Kuckuck ist los mit dir?"
„Ich habe ihn mit meiner Magie gefesselt. Da ich nun endlich die Gelegenheit habe ihn zu töten, wäre es reichlich schade, wenn er mir wieder entkommen würde, nicht wahr?", antwortete Harry an Peters Stelle mit ruhiger, eisiger Stimme.
„Mein Sohn!", flüsterte James, dessen Gesicht eine aschfahle Färbung angenommen hatte und der offenbar nicht ein Wort von dem, was soeben gesagt worden war, mitbekommen hatte.
„Töten? Warum wollen Sie ihn töten? Er hat Ihnen doch überhaupt nichts getan!", rief Sirius im gleichen Moment aus.
„Peter Pettigrew verriet meine Mutter an Voldemort."
Harrys Erwiderung riss James aus seiner Erstarrung.
„Was? Nein, das ist unmöglich. Er war an dem Morgen, an dem Lily verschwand, mit uns zusammen.", protestierte James und sah von seinem verängstigten Freund zu dem jungen Zauberer, der seine Welt völlig auf den Kopf gestellt hatte.
„Ich glaube ihm nicht! Er ist nie und nimmer James' Sohn! Und Peter soll ein Verräter sein? Warum hätte er Lily verraten sollen? Außerdem wissen wir immer noch nicht, wie er durch die Schutzbanne kam!", warf Alastor Moody ein, dem es deutlich anzumerken war, dass er nicht im Mindesten davon angetan war sich im selben Raum zu befinden, wie der Erbe des Dunklen Lords.
Albus nickte nachdenklich.
„Vielleicht sollten wir versuchen eine Frage nach der anderen zu klären. Sonst artet alles nur in Chaos aus und wir kommen keinen Schritt weiter. Wer Harrys Eltern sind, lässt sich leicht feststellen. Wir bräuchten nur ein bisschen Blut von ihm. Wären Sie damit einverstanden?", fragte der alte Zauberer und schaute Harry an.
Obwohl die Ähnlichkeit zwischen Harry und James seiner Meinung nach nur eine Schlussfolgerung zuließ, wäre es nichtsdestotrotz besser, wenn alle Zweifel ausgeräumt werden würden. Abgesehen davon spielte die Vererbung manchmal seltsame Spiele. Zum Beispiel hatte er seinem Vater wenig geähnelt, dafür seinem Urgroßvater aber umso mehr.
Also sah er James' vermeintlichen Sohn erwartungsvoll an. Harry erwiderte seinen Blick und nickte schließlich.
„Warum nicht? Hat jemand zufällig ein Messer bei sich?"
Sirius griff in eine seiner vielen Taschen und holte ein schmales Messer hervor. Harry nahm es dankend, fuhr mit der Klinge über seinen Zeigefinger und ließ sein Blut auf den Tisch rinnen.
Albus hob seinen Zauberstab und murmelte:
„Parentes indica."
Um die roten Blutstropfen herum bildete sich strahlendweißes Licht, das jeden der Anwesenden, die wie gebannt auf den Tisch starrten, blendete. Eine unsichtbare Kraft begann leuchtende Buchstaben in die Luft zu malen und als die Helligkeit des Lichtes langsam verblasste, blieben zwei Namen zurück:
Lily Anne Potter
James Frederick Potter
Einen Moment lang herrschte verblüfftes Schweigen. Dann brachen viele der Ordensmitglieder in aufgeregtes Tuscheln aus und Alice Longbottom, die eine enge Freundin von Lily gewesen war, fragte:
„Aber was ist damals geschehen?"
Harry, der ebenfalls auf den Tisch gesehen hatte, hob seinen Kopf und sagte:
„Ich weiß es nicht. Ich war zu klein, um alles zu verstehen. Ich habe erst Jahre später begriffen, was meine Mutter mir mit ihren Geschichten sagen wollte. Solange ich denken kann, hat sie mir Geschichten über Hogwarts, die Rumtreiber und den Phönixorden erzählt. Diese Geschichten waren unser Geheimnis. Und auch wenn sie mir einschärfte mit keinem darüber zu sprechen, ging sie doch ein ungeheures Risiko damit ein. Wenn ich gegenüber Voldemort oder den anderen nur ein Wort über unsere Geschichten verloren hätte, wäre sie getötet worden.
Der Dunkle Lord kam oft und spielte mit mir oder brachte mir Zaubersprüche bei, wie auch Bellatrix Lestrange und andere hochrangige Todesser. Ich liebte sie und sah sie als meine Familie an. Ich war ein fröhliches Kind und war glücklich. Ich wusste zwar, dass etwas nicht stimmte, aber meine Mutter sorgte dafür, dass es mich nicht belastete. Sie hingegen muss es damals sehr schwer gehabt haben, doch ich merkte davon nichts.
Während Voldemort mir beibrachte wie wertlos Muggels und all diejenigen waren, die nicht auf seiner Seite kämpften, lehrte mich meine Mutter das genaue Gegenteil. Natürlich ohne sein Wissen. Für mich war es unglaublich spannend so viele Geheimnisse zu haben. Ich liebte ihre Geschichten und wollte so viele wie möglich hören. Und sie erzählte sie mir ungeachtet der Gefahr.
In fast jeder Geschichte kam James Potter vor. Sie nannte ihn immer Daddy. Voldemort dagegen sollte ich Vater nennen. Sie sagte mir, dass er nicht mein richtiger Vater wäre, aber dass ich ihn so anreden müsse und erzählte mir, dass er meinen Daddy getötet hätte. Aber da ich es nicht verstand, hatte es damals keine Bedeutung für mich."
„Lily hat gesagt, ich wäre tot? Warum? Wie konnte sie so etwas nur sagen?", fragte James ungläubig.
Harry sah ihn ausdruckslos an.
„Voldemort ist ein Meister der Täuschung und der Manipulation. Es ist ihm sicherlich nicht schwer gefallen meine Mutter von Ihrem Tod zu überzeugen. Wie auch immer er es erreicht hat, sie glaubte ihm.
Vielleicht hat er sie nicht nur in dieser Sache getäuscht, sondern auch in Bezug auf Peter Pettigrew. Ich weiß nicht, ob er wirklich etwas mit ihrer Entführung zu tun hatte, aber meine Mutter erzählte mir, er hätte sie verraten."
James drehte sich zu Peter und betrachtete das angstverzerrte Gesicht seines Freundes, der prompt quickte:
„Ich hab nichts getan, James! Ich hab nichts getan! Du wirst ihm…doch nicht glauben?"
„Das ist völliger Irrsinn! An dem Tag war Peter die ganze Zeit mit uns zusammen! Wie sollte er Lily da verraten haben?", sagte Sirius und brachte damit den gleichen Vorwand vor wie James eine Weile zuvor.
James jedoch starrte Peter an. Er wollte es nicht glauben. Peter konnte mit Lilys Verschwinden nichts zu tun haben. Es konnte einfach nicht wahr sein. Aber wenn Peter unschuldig war, weshalb wich er dann seinem Blick aus?
James hob eine Hand und rieb sich müde die Stirn. Seine Erschöpfung ließ ihn keinen klaren Gedanken mehr fassen.
Erst dieser fürchterliche Kampf, dann die Nachricht, dass Remus gefangen genommen worden war und nun hatte er binnen kürzester Zeit erfahren, dass seine Frau tot war und er einen Sohn hatte, von dessen Existenz er bisher nicht das Geringste geahnt hatte.
Und um dem Ganzen die Krone aufzusetzen, behauptete dieser Sohn auch noch, dass einer seiner Freunde Lily verraten hatte. Hatte Lily Peter wirklich beschuldigt?
„Gibt es hier Veritaserum?", fragte Harry kühl.
Albus Dumbledore nickte.
„Ich denke, wir haben in der Tat noch einen kleinen Rest übrig. Allerdings haben wir niemals zuvor einen unserer Mitglieder unter Veritaserum befragt."
Harry zog eine Augenbraue hoch.
„Vielleicht hätten Sie es tun sollen."
„Wir haben keine Verräter in unseren Reihen! Das versichere ich Ihnen!", entgegnete Alastor Moody scharf und beugte sich vor.
„Ich will die Wahrheit wissen und du wirst es nicht verbieten, Albus. Und du auch nicht, Alastor. Solange auch nur die kleinste Möglichkeit besteht, dass Peter etwas mit Lilys Entführung zu tun hatte, bin ich dafür.", ließ sich James plötzlich vernehmen und stand auf.
Er ignorierte den ungläubigen und enttäuschten Blick von Sirius und schritt zu einem Schränkchen. Er öffnete es und holte ein kleines Fläschchen hervor, indem sich eine winzige Menge von einer klaren Flüssigkeit befand.
Mit dem Rücken zu den anderen, blieb er regungslos stehen. Unwillkürlich hatte er sich an den Tag erinnert, an dem Sirius, Remus, Peter und er sich am Ufer des Hogwarts Sees ewige Freundschaft geschworen hatten. Eine Freundschaft, die er mit seiner Äußerung gerade eben verraten hatte. Aber er musste es wissen. Er musste diesen nagenden Zweifel zum Erlöschen bringen, den Harry mit seiner Behauptung hervorgerufen hatte. Zusätzlich sah er keinen Grund, warum Harry lügen sollte.
Er holte tief Luft und drehte sich um.
„Du glaubst ihm, James?", fragte Alastor erstaunt und schaute zu, wie James das Fläschchen entkorkte.
„Ich….Ich will einfach nur sicher gehen. Außerdem hat Harry vorhin auch nicht gelogen. Also warum sollte er es jetzt tun?", erwiderte James abwehrend.
„Das kann nicht dein Ernst sein, James! Das kannst du nicht machen! Es kann einfach nicht wahr sein.", versuchte Sirius James von seinem Vorhaben abzubringen.
James warf ihm einen kurzen Blick zu und trat zu Peter, der ihn ansah wie ein Tier, das in eine Falle getappt war und sich nicht mehr alleine befreien konnte. Sein Mund formte Laute, doch James verstand nicht ein einziges Wort, so undeutlich wie Peter sprach. James' Entschluss geriet ins Wanken.
Harry nahm ihm die Entscheidung ab, als er aufstand und zu ihm kam.
„Ich helfe Ihnen."
Während Harry und James dem sich sträubendem Peter den Zaubertrank einflößten, warfen unzählige Mitglieder unsichere und entsetzte Blicke in Richtung ihres eigentlichen Anführers, als ob sie darauf warteten, dass Albus etwas dagegen unternehmen würde, doch der Gründer des Phönixordens schritt nicht ein.
Derweil stellte James den leeren Flakon auf den Tisch zurück und fragte widerwillig:
„Peter, hast du Lily an Voldemort verraten?"
„Ja.", sagte Peter tonlos.
James blinzelte. Dann erfasste er die volle Bedeutung von Peters Antwort. Mit einem lauten Wutschrei stürzte er sich auf den Zauberer, der noch vor wenigen Augenblicken sein Freund gewesen war. Vielleicht hätte er Peter getötet, so rasend, wie er auf ihn einschlug, doch Sirius und Bill Weasley hielten ihn zurück.
„Lasst mich los!"
„James! Sei vernünftig! Wenn du ihn umbringst, wird er uns nichts mehr erzählen können!", rief Sirius und verstärkte seinen Griff um James' Arme.
„Du kannst ihn später umbringen.", sagte er grimmig.
James hörte auf sich zu wehren und nickte kurz, woraufhin Sirius ihn forschend ansah. Sobald Sirius ihn losgelassen hatte, wirbelte James zu Peter herum und fragte mit zusammengebissenen Zähnen:
„Wie…hast…du…Lily…verraten?"
Arg zugerichtet und von dem Veritaserum betäubt, antwortete Peter mit monotoner Stimme:
„Als ich eines Abends in der Winkelgasse war, lauerte mir Lucius Malfoy auf. Zusammen mit zwei anderen Todessern zerrte er mich in eine Ecke und erzählte mir, der Dunkle Lord habe Gefallen an Lily gefunden und ihnen den Befehl gegeben sie zu ihm zu bringen.
Ich sollte ihnen helfen sie zu entführen. Sie wollten keinen Kampf, der den Orden hätte warnen können, dass Lily ihr Ziel sei und sie wollten unter allen Umständen verhindern, dass der Orden irgendwelche Vorsichtsmaßnahmen hätte treffen können.
Mich zwangen sie dazu James' Haarbürste zu stehlen, sodass sie in der Lage wären Vielsafttrank herzustellen und ihnen zu sagen, wie sie die Schutzbanne, die Godric's Hollow umgaben, außer Kraft setzen konnten.
Ich denke, es war Lucius, der Lily entführt hat."
„Also deswegen hat sie ihre Sachen mitgenommen.", stöhnte James und schlug die Hände vor sein Gesicht.
„Sie hat gedacht, dass ich es wäre."
„Warst du seit damals ein Spion, Peter?", wollte Albus wissen und sah Peter angespannt an.
„Nein. Severus Snapes Informationen genügten ihnen."
„Hast du den Todessern noch andere Dienste geleistet?"
„Nein."
Während Albus erleichtert nickte, hob James seinen Kopf und fragte mit brüchiger Stimme:
„Warum? Warum hast du das getan? Warum hast du meine Lily verraten?"
„Ich musste es tun. Mir blieb keine andere Wahl. Sie hätten mich sonst getötet."
„Du musstest meine Mutter an Voldemort ausliefern? Du musstest?"
Harry wurde von weißglühender Wut gepackt. Dieser untersetzte Zauberer hatte bereitwillig geholfen seine Mutter zu entführen! Er hatte sie ins Unglück gestürzt!
Der Hass riss Harry mit sich fort.
Für den Bruchteil eines Augenblicks wurde der Raum von einem gleißenden, grünen Licht erhellt. Dann fiel Peter Pettigrews Körper leblos zu Boden.
Nicht wenige Ordensmitglieder schrien auf und wieder richteten sich Zauberstäbe auf Harry.
Albus seufzte schwer.
„Das hätten Sie nicht tun sollen, Harry. Es wäre besser gewesen ihn gefangen zu nehmen. Sie…"
Harry drehte sich um und sah Albus direkt ins Gesicht.
„Diese Kreatur hat meine Mutter verraten, Dumbledore. Und ob Sie das gutheißen oder nicht, ist mir völlig gleichgültig. Er hat seine Strafe verdient.
Aber wie dem auch sei, wir sind nicht wegen Pettigrew gekommen, sondern weil ich Ihre Hilfe brauche. Ich will Voldemort töten. Doch das kann ich nicht alleine tun. Ich kann nicht gleichzeitig gegen ihn und seine Anhänger kämpfen. Aber wenn Sie seine Todesser ablenken würden, könnte ich mich um Voldemort kümmern."
„Sie wollen, dass wir Ihnen helfen? Sie haben gerade eines unserer Mitglieder ermordet! Selbst wenn er ein Verräter war, entschuldigt das Ihre Tat noch lange nicht. Sie sind ein Schwarzer Zauberer!", knurrte Alastor bedrohlich.
„Und Sie? Haben Sie noch nie jemanden getötet? Sie sind doch ein Auror, oder?", entgegnete Harry aufgebracht.
„Habe ich, ja. Aber meine Gegner waren nicht hilflos. Ich habe jeden Einzelnen von ihnen im Kampf getötet!"
„Bitte, hört auf euch zu streiten! Ihr alle könnt Harry vertrauen! Er hat mir geholfen und mein Leben gerettet, genauso wie das von Cho, Katie und Anne! Und…", mischte sich plötzlich Ginny ein, die es nicht ertragen konnte mit welcher Feindseligkeit der Orden Harry begegnete.
„Katie ist am Leben?", rief Mrs. Bell und hob ruckartig ihren Kopf.
Auch die Changs schauten Ginny hoffnungsvoll an.
„Ja, Katie und Cho sind am Leben. Harry hat sie gerettet. Tut mir leid, dass ich es nicht eher gesagt habe."
„Oh, den Göttern sei Dank! Aber warum sind sie nicht mitgekommen?"
Ginny wandte rasch den Blick von Mrs. Chang ab und sah Hilfe suchend zu Harry herüber.
„Die Mädchen wurden vergewaltigt und gefoltert. Zurzeit erholen sie sich in meinen Gemächern. Es wäre zu gefährlich gewesen sie mitzunehmen. Abgesehen davon wären sie viel zu erschöpft gewesen.", sagte Harry.
Erschüttert starrten die Changs und Bells Harry an.
„Seien Sie dankbar, dass Ihre Töchter am Leben sind. Die anderen zwei Schüler wurden getötet."
Professor Sprout, die Hauslehrerin von Hufflepuff, zuckte zusammen. Mit Tränen in den Augen flüsterte sie:
„Wir müssen die Eltern benachrichtigen, Albus."
Albus nickte kummervoll.
„Ja.", sagte er.
„Das müssen…"
„Wir haben nicht mehr viel Zeit. Wir müssen bald zurückkehren. Werden Sie mir nun helfen, oder nicht?", unterbrach ihn Harry ungeduldig.
Albus warf einen Blick auf James, der zusammengesunken auf einem der Stühle saß, sah schließlich Harry an und sagte langsam:
„Seit dreiundzwanzig Jahren kämpfen wir gegen Voldemort und seine Anhänger. Bis heute ist es uns nicht gelungen die Dunkle Seite zu besiegen. Und ich habe die Hoffnung längst aufgegeben, dass wir es je schaffen werden. Sollten wir uns verbünden, könnte es uns jedoch gelingen. Das ist mir durchaus bewusst.
Doch wenn wir uns dazu entschließen würden Ihnen zu vertrauen und dann feststellen müssten, dass wir uns in Ihnen getäuscht haben, wären wir alle in tödlicher Gefahr. Dieses Risiko müssen wir bedenken. Außerdem hat Alastor Recht. Sie sind ein Schwarzer Zauberer, der keine Skrupel hat zu foltern und zu töten.
Andererseits haben Sie Miss Weasley hier geholfen und ihrer Aussage zufolge haben Sie auch Mr. Weasleys Leben gerettet, wie das von drei weiteren unserer Schüler. Dafür danke ich Ihnen."
Nach einer kurzen Pause, sprach er weiter:
„Daher wäre ich auch bereit Sie mit meinem Orden zu unterstützen. Aber zuvor möchte ich, dass Sie mir eine Frage beantworten. Sie werden verstehen, dass ich gewisse Zweifel habe. Weshalb hassen Sie Voldemort so sehr?"
Während Albus sprach, versuchte er in dem Gesicht des jungen Zauberers zu lesen. Er hatte jedoch keinen Erfolg. Harrys Gesicht offenbarte nichts.
Albus wusste, wie viel von seiner Entscheidung abhing, wusste, dass sie auf Harrys Hilfe angewiesen waren und doch musste er sich sicher sein. Was, wenn Harry Voldemort nur töten wollte, um selbst die Macht zu ergreifen? Was, wenn es für Harry nur ein gewagtes Spiel war?
„Ist das denn so wichtig? Ohne Harry wäre ich wahrscheinlich tot! Und mein Vater, Cho, Katie und Anne ebenfalls! Wir müssen etwas unternehmen! Ich habe Mr. Lupin und Miss Tonks und die vielen anderen Gefangenen gesehen! Wir müssen sie befreien! Glauben Sie mir, Sie können Harry vertrauen!", rief Ginny aus und sah den Anführer des Phönixordens bittend an.
Sie wollte fortfahren, doch Harry war schneller.
„Sie wollen wissen, warum ich Voldemort töten will, Dumbledore? Wenn Sie mir Ihr Denkarium ausleihen, zeige ich es Ihnen. Darf ich?"
Obwohl Albus nicht ganz klar war, worauf Harry hinauswollte, nickte er.
Harry, der den magischen Gegenstand eine Weile zuvor bemerkt hatte, ging hinüber zu dem Tisch, auf dem die gläserne Schale stand und blieb vor ihr stehen. Er schloss seine Augen und legte eine Hand an seine Schläfe. Wenig später erglühte Harrys Hand in einem silbernen Licht. Er tauchte sie in das Denkarium und berührte flüchtig die weißsilberne Substanz, die das ovale Gefäß enthielt.
Er trat einen Schritt zurück und machte eine eigenartige Handbewegung. In der Luft erschien ein hellschimmerndes Licht, welches sich zu einem großen Quadrat ausweitete.
Dann setzte Harry sich neben Ginny und sagte:
„Sie alle werden meine Erinnerungen sehen können."
Irgendetwas in Harrys kühler Stimme beunruhigte Ginny. Spontan griff sie wieder nach seiner Hand. Harry drückte sie fest, doch in seinem Gesicht regte sich nichts. Ginny bedachte ihn noch mit einem langen Blick, ehe sie ihre Aufmerksamkeit auf das helle Quadrat richtete. In der Zwischenzeit war im Inneren der schimmernden Fläche ein Bild erschienen.
Aufgeregt lief der kleine Junge zum Fenster.
„Mama! Es schneit! Schau doch!", rief Harry und presste seine Stirn gegen das kalte Glas.
Die rothaarige junge Frau, die in einem der Sessel vor dem Kamin gesessen hatte, erhob sich und trat ebenfalls zum Fenster.
„Können wir in den Park gehen? Ja? Wir können eine Schneeballschlacht machen!"
Mit einem leisen Lachen legte Lily einen Arm um ihren Sohn.
„Vielleicht morgen, Harry. Erst muss der Schnee liegenbleiben. Sonst reicht es noch nicht einmal für einen einzigen Schneeball."
Harrys Enttäuschung sehend, zauste sie sein schwarzes Haar und sagte:
„Wir werden morgen in den Park gehen. Bis dahin wird genug Schnee gefallen sein und dann können wir so viele Schneeballschlachten machen, wie du willst."
„Versprochen?"
Lily beugte sich hinab und gab Harry einen Kuss.
„Morgen, mein Schatz."
Harry nickte strahlend, schaute wieder zu den Schneeflocken und versuchte sie zu zählen.
Über Lilys Gesicht glitt ein Lächeln. Im nächsten Moment jedoch verschwand es. Wie erstarrt, lauschte sie den näherkommenden Schritten.
Als sich die Tür öffnete und der Dunkle Lord in Begleitung einiger seiner engsten Anhänger den Raum betrat, wirbelte Harry herum.
„Vater! Tante Bella! Es hat angefangen zu schneien!"
Während Harry sich in Voldemorts Arme warf, kniete Lily schweigend nieder. Auch wenn sie ihren Kopf gesenkt hielt, entging ihr nicht das Geringste von dem, was sich vor ihr abspielte.
Bellatrix Lestrange lachte laut auf und drückte Harry an sich.
„Ja, wir haben es auch schon bemerkt. Aber ich fürchte, du wirst erst morgen Nachmittag in den Park gehen können. Dein Vater hat entschieden, dass du zusätzliche Unterrichtsstunden erhalten sollst."
Harry schaute fragend zu Voldemort hinüber.
„In der Tat, mein Sohn. Ich denke, es ist an der Zeit, dass du die Dunklen Künste erlernst.
Du bist jetzt alt genug dafür. Lucius, hier, wird dich unterrichten und…"
„Nein! Das wird er ganz bestimmt nicht. Harry wird die Unverzeihlichen Flüche niemals erlernen. Das werde ich nicht zulassen!"
Verblüfft sah Harry zu seiner Mutter, die inzwischen aufgestanden war und den Dunklen Lord herausfordernd anblickte.
In der Gegenwart seines Vaters hatte sie bisher nur selten ein Wort gesagt. Und wenn sie gesprochen hatte, war dies stets mit leiser, kaum hörbarer Stimme geschehen. Er wusste, dass seine Mutter seinen Vater nicht besonders mochte, auch wenn er den Grund dafür nicht verstand.
Über die Unverzeihlichen Flüche wusste er jedoch Bescheid. Seine Mutter hatte ihm von diesen Flüchen erzählt und sie hatte ihm nicht nur verboten sie zu lernen, sondern er hatte ihr auch versprechen müssen diese Flüche niemals anzuwenden. Also sagte er schnell:
„Tut mir leid, aber ich darf sie nicht lernen. Ich habe es Mama versprochen."
Harry schaute zu seinem Vater hoch und zuckte erschrocken zurück. Dermaßen wütend hatte er seinen Vater noch nie gesehen.
„Du! Wie kannst du es wagen Henry derartige Dinge versprechen zu lassen! Glaubst du etwa, dass du verhindern kannst, dass mein Sohn eines Tages ein gefürchteter Schwarzer Magier und mein Nachfolger wird?"
Der Dunkle Lord schrie nicht, aber sein Ton ließ Harry erzittern.
„Ja! Ich werde es verhindern! Du wirst meinen Sohn nicht zu einem herzlosen, grausamen Mörder machen! Er wird dir niemals folgen, Voldemort! Noch wird er jemals dein Nachfolger werden!"
Fassungslos starrte der Dunkle Lord die junge Frau an. Er hatte gedacht, ihren Willen vollkommen gebrochen zu haben. Doch als er jetzt in ihre vor Zorn funkelnden Augen blickte, erkannte er, dass er sich geirrt hatte. Lily Potter hatte ihn getäuscht! Und nun versuchte sie doch tatsächlich seinen Sohn gegen ihn aufzubringen!
„Crucio!"
Lilys Schreie erschütterten Harry bis ins Mark.
„Mama!"
Er wollte zu seiner Mutter laufen, wurde aber von Bellatrix Lestrange und Narcissa Malfoy festgehalten.
„Nein! Hör auf, Vater! Bitte, hör auf! Tante Bella, hilf ihr doch! Tante Cissa, mach, dass er aufhört!"
So sehr Harry sich auch wehrte, es gelang ihm nicht sich aus den Griffen der beiden Frauen zu befreien. Weinend, flehte er sie weiterhin an endlich den Fluch zu beenden. Warum? Warum tat sein Vater seiner Mutter weh?
Als der Dunkle Lord den Fluch nach einer Weile aufhob, lag Lily zusammengekrümmt auf dem gemusterten Teppich und rührte sich nicht.
„Mama! Mama!"
Die angsterfüllte Stimme ihres Kindes gab Lily die Kraft sich auf die Knie zu stemmen. Sie hob den Kopf und sagte heiser:
„Harry, hör mir zu: Versprich mir, dass du Voldemort niemals folgen wirst und dass du niemals Muggel töten wirst und…"
„Schweig! Wenn du…"
„…nie jemanden foltern wirst. Die Muggel sind nicht wertlos und vergiss nicht, dass ich auch eine Muggelgeborene bin…"
Voldemort, der sich fragte, welche weiteren Lügen dieses Schlammblut seinem Sohn noch erzählt hatte, war mittlerweile so außer sich, dass er schrie:
„Avada Kedavra!"
Als Harry sah, wie Voldemort abermals seinen Zauberstab hob, beugte er sich blitzschnell vor und biss Narcissa in den Arm. Mit einem Aufschrei ließ sie ihn los. Nur getrieben von dem Gedanken seine Mutter beschützen zu müssen, trat Harry so heftig um sich, dass er sich auch aus Bellas Griff befreien konnte und lief los.
Das gleißend grüne Licht traf ihn mit unglaublicher Wucht. Um ihn herum begann sich alles zu drehen. Er bekam keine Luft mehr und das Letzte, was er hörte, bevor er in Dunkelheit versank, war:
„Harry! Nein!"
Lily fiel neben Harry auf die Knie und nahm ihn in die Arme. Sie starrte auf die blutende Wunde auf seiner Stirn, horchte auf seine Atemzüge. Doch Harry blieb still, atmete nicht.
„Harry.", flüsterte Lily gebrochen und konnte es nicht verstehen.
Harry durfte nicht tot sein! Das war unmöglich. Warum wirkte ihr Zauber nicht? Sie war sich doch sicher gewesen alles richtig gemacht zu haben, war überzeugt gewesen Harry wirkungsvoll geschützt zu haben. Was hatte sie nur übersehen?
Jäh sprang sie auf.
„Du elender Bastard! Du hast ihn umgebracht!"
Blind vor Tränen stürzte sich Lily auf den Dunklen Lord und schlug auf ihn ein. All die Jahre hatte sie nur wegen ihrem Kind gelebt, hatte nur für Harry Tag um Tag überstanden.
Für James' und ihr Kind hatte sie alles ertragen, hatte Voldemorts Berührungen erduldet und sich mit ihrem Schicksal abgefunden. All ihr Sinnen und Trachten war auf Harry gerichtet gewesen. Einzig ihr Kind hatte ihrem Leben noch einen Sinn gegeben.
Aber jetzt war alles zerstört. Ihr war nichts mehr geblieben. Der Wunsch zu sterben wurde übermächtig.
Plötzlich jedoch spürte sie, wie Magie sie umgab, warm und ungemein tröstlich. Ihre Lebenskraft glitt davon, doch Lilys Herz lachte. Den Schmerz, als der Dunkle Lord ihr brutal die Faust ins Gesicht hieb, merkte sie kaum.
„Mama!"
Lily strauchelte und fiel. Sekunden bevor sie auf der Kante des Tisches aufschlug, hörte sie noch die panische Stimme Harrys. Nie zuvor hatte sie solch ein Glück empfunden, nie zuvor war ihr Lächeln so strahlend gewesen. Sie hatte es geschafft. Ihr Zauber hatte gewirkt. Harry lebte.
Von allen unbemerkt, hatte sich Harry aufgesetzt. Ohne sich um das Blut zu kümmern, das seine Wangen hinunterlief, stolperte er zu seiner Mutter und schüttelte sie an der Schulter.
„Mama! Wach auf! Bitte, wach auf! Wach auf! Mama!"
Doch Lily regte sich nicht. Harry starrte auf seine Mutter und begann zu zittern. Das Begreifen setzte nur langsam ein. Dann sprang er auf und richtete seinen Blick auf Voldemort und seine Anhänger, die ihn voller Bestürzung ansahen und schrie:
„Du hast sie getötet! Ich hasse dich! Ich hasse euch alle! Ich werde euch alle töten! Ich hasse dich Voldemort!"
Narcissa streckte die Hände nach ihm aus und machte einen Schritt auf ihn zu, doch ehe sie ihn hätte erreichen können, lief Harry aus dem Zimmer.
Das helle Quadrat glühte kurz auf und verschwand. Ginny schniefte und wischte sich die Tränen aus den Augen. Erst jetzt wurde ihr bewusst, dass Harry ihre linke Hand viel zu fest umklammert hielt. Er tat ihr weh, doch sie unternahm keinen Versuch sie ihm zu entziehen.
Harry ansehend, biss sie sich auf die Lippen. Harry war kalkweiß im Gesicht und blickte starr geradeaus. Sie wollte etwas sagen, wollte ihn trösten, aber ihre Kehle war wie zugeschnürt. Ginny brachte kein Wort heraus, so erschüttert war sie.
Nach der Stille zu urteilen, die im Raum herrschte und nur von James' leisem Weinen unterbrochen wurde, erging es den übrigen Anwesenden nicht anders.
Sirius Black und Alice Longbottom starrten immer noch zu der Stelle, an der sie Harrys Erinnerungen gesehen hatten. Albus Dumbledore betrachtete bekümmert seine Hände.
„Sie haben den Todesfluch überlebt? Aber das ist unmöglich! Das ist…Wie in aller Welt konnte das geschehen?", wagte ein Ordensmitglied schließlich zu fragen.
Harry wandte mit unendlicher Langsamkeit den Kopf in die Richtung des Zauberers, der gesprochen hatte.
„Ich weiß es nicht. Aber der Grund ist momentan ziemlich unwichtig, oder?
Voldemort hat meine Mutter umgebracht und dafür wird er bezahlen. Und ich werde ihn töten. Mit Ihrer Hilfe oder ohne."
„Ich werde dir helfen.", sagte James mit tränenerstickter Stimme.
Harrys und James' Blicke trafen sich. Lange Zeit sahen sie sich schweigend an. Dass Albus nickte, bemerkte keiner von ihnen.
„Wir ebenfalls. Ich denke, ich spreche damit im Sinne aller.", sagte Albus und schaute in die Runde.
In den Gesichtern seiner Ordensmitglieder sah er verhaltene Zustimmung. Und selbst Alastor Moody erhob keine Einwände. Zwar konnten weder er noch Albus ausschließen, dass Harry sich in einen zweiten Dunklen Lord verwandeln könnte, wenn Voldemort erst einmal tot war, aber beide sahen auch endlich die Chance Voldemort zu besiegen. Außerdem war es gut möglich, dass der neu gefundene Potter nicht in die Fußstapfen Voldemorts treten würde.
„Gut, dann hören Sie mir zu. Ich habe folgenden Plan.", sagte Harry mit einem gefährlichen Glitzern in den Augen.
Etwa eine Stunde später hasteten Harry und Ginny durch den dunklen engen Geheimgang, der sich tief unterhalb des Verbotenen Waldes entlang wand. Dass er sich an den Geheimgang aus den Erzählungen seiner Mutter noch erinnert hatte, war ein Glück gewesen. Zweifellos wäre es sonst sehr viel schwieriger gewesen ins Schloss zu kommen, wenn nicht gar unmöglich.
Trotz seines magischen Lichtes, welches er für Ginny und sich heraufbeschworen hatte, stolperte Harry ziemlich oft, aber das mochte daran liegen, dass seine Gedanken der Beschaffenheit des Bodens keinerlei Beachtung schenkten.
Welcher Teufel hatte ihn bloß geritten, allen zu zeigen, was damals geschehen war?
Doch er wusste es. Der Hass auf Voldemort und sein übermächtiges Verlangen nach Rache waren stärker gewesen, als seine Angst sich seiner Vergangenheit zu stellen. Und ihm war klar gewesen, dass Dumbledore und der Phönixorden sich nur von den Wahrheit überzeugen lassen würden sich mit ihm zu verbünden. Er hatte keine andere Wahl gehabt. Worte allein hätten nicht ausgereicht. Der Orden hätte ihm nicht geglaubt.
Vielleicht wäre es klüger gewesen zu versuchen erst mit Dumbledore zu sprechen, statt mit dem gesamten Orden, wie Ginny es heute Mittag vorgeschlagen hatte. Der Kampf in Hogsmeade allerdings hatte dies als Nebensächlichkeit erscheinen lassen. Sich endlich an Voldemort zu rächen, war für ihn zur ersten Priorität geworden.
Aber nun war es ohnehin zu spät. Auch wenn er es nicht vorgehabt hatte, es war geschehen.
Er konnte es nicht mehr ändern und musste sich damit abfinden. Das Wichtigste war, dass er es geschafft hatte den Orden auf seine Seite zu ziehen.
Das war das einzig Gute, was ihm der heutige Tag beschert hatte. Im selben Moment, in dem er dies dachte, sah er das Gesicht James Potters vor sich. Die Entdeckung, dass sein leiblicher Vater am Leben war, hatte ihn aus dem Gleichgewicht gebracht. Immer noch konnte er es nicht recht fassen, konnte noch nicht einmal sagen, ob er sich darüber freute.
Es war ein seltsames, unbeschreibliches Gefühl. Er hatte einen Vater, den er weder je gesehen hatte, noch kannte. Und doch war James Potter andererseits auch kein völliger Fremder für ihn. Die Geschichten seiner Mutter hatten dafür gesorgt.
„Harry, pass auf!"
Dank Ginnys Warnung gelang es ihm gerade noch rechtzeitig einer weit verzweigten Wurzel auszuweichen. Er duckte sich, fluchte unterdrückt und richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf den Weg.
Nach einer Weile verließen Harry und Ginny den unterirdischen Gang und Harry rief Rainbow zu sich, die auf sie gewartet hatte. Der Phönix trillerte eine kurze Begrüßung und Augenblicke später flogen sie durch die sternenklare Nacht.
Ginny klammerte sich an Harry und warf einen letzten Blick über ihre Schulter. Wenn sie die Augen zusammenkniff, konnte sie die Lichter von Hogwarts in der Ferne immer noch erkennen. Es war ihr schwerer gefallen als gedacht sich wieder von ihrer Mutter und ihren Brüdern zu trennen, die sie partout nicht hatten gehen lassen wollen. Es war Albus Dumbledore gewesen, der sie von der Notwendigkeit überzeugt hatte, sodass ihre Familie letztendlich gezwungenermaßen zugestimmt hatte.
Ja, sie hatte eine Aufgabe zu erfüllen, dachte Ginny. Auch sie würde dazu beitragen, dass ihr Plan Erfolg haben würde. Und doch konnte sie den Gesichtsausdruck ihrer Mutter nicht vergessen.
Die Ankunft im Hauptquartier des Dunklen Lords verdrängte vorerst jeden Gedanken an ihre Mutter und ihre Brüder aus ihrem Bewusstsein. Als sie Harrys Gemächer erreicht hatten, ging Ginny zuallererst zu ihrem Dad. Erleichtert, dass er friedlich schlief, gab sie ihm einen Gutenachtkuss und sah dann nach Katie, Cho und Anne. So leise wie sie konnte, verließ Ginny das Schlafzimmer wieder und schloss die Tür hinter sich.
Während sie Harrys Zauberstab vom Tisch nahm und einen der Sessel in ein zweites Bett verwandelte, zerbrach sie sich den Kopf darüber, wie sie Harry helfen konnte. Seit er dem Phönixorden seinen Plan erläutert hatte, hatte er kein einziges Wort mehr gesprochen. Und nun stand er regungslos am Fenster und starrte in den Park hinaus. Das Fehlen jeglicher Emotion ängstigte sie.
Zögernd ging sie schließlich zu ihm, legte die Arme um ihn und schmiegte sich an seinen Rücken.
„Es wird alles gut werden, Harry. Wir werden Voldemort besiegen. Glaub mir, Harry. Es wird alles gut werden.", flüsterte sie.
Harry wandte sich zu ihr und sah sie verzweifelt an.
„Es war alles meine Schuld, Ginny. Wenn ich Voldemort nur gesagt hätte, dass ich die Unverzeihlichen Flüche lernen würde, wäre nichts geschehen. Und wir hätten irgendwann fliehen können. Wir hätten herausgefunden, dass Dad noch am Leben ist und zusammen hätten wir glücklich werden können. Wir hätten nur ein paar Jahre warten müssen. Dann hätte ich das Schloss verlassen können. Ich hätte sie einfach mitnehmen können!"
Ginny spürte, wie Harry zitterte und umarmte ihn fester.
„Du warst viel zu klein um die Situation in all ihrer Tragweite zu verstehen. Du hättest es nicht wissen können, Harry. Es war nicht deine Schuld."
Harry schüttelte den Kopf.
„Sie hat es absichtlich getan. Von sich aus hat sie nie in der Gegenwart Voldemorts gesprochen. An diesem einen Tag hat sie es jedoch getan. Und weswegen? Weil sie nicht wollte, dass ich die Dunklen Künste lerne! Und was habe ich getan?
Ich habe sie gelernt, Ginny. Ich habe sie angewandt, habe gefoltert und getötet. Ich habe mein Versprechen gebrochen. Es war sinnlos, es war alles so sinnlos."
„Harry…"
„Sie wollte mich dazu bringen ihn zu hassen. Sie hat es versucht. Sie hat mir erzählt, was Voldemort alles getan hat, aber ich habe es nicht verstanden. Ich habe es nicht verstanden!"
„Harry! Hör mir zu."
Ihre Worte vorsichtig abwägend, sprach Ginny weiter.
„Selbst wenn du es verstanden hättest, glaubst du, das hätte einen Unterschied gemacht? Deine Mutter wollte dich beschützen und um jeden Preis verhindern, dass du Voldemort folgen würdest. Sie tat, was sie für richtig hielt. Es war ihre Entscheidung, Harry."
„Ich hätte sie beschützen müssen."
„Du warst ein Kind! Deine Mutter zu beschützen war nicht deine Aufgabe, Harry!
Sie wusste, was sie tat. Sie war eine sehr mutige Frau, die dich über alles liebte. Glaubst du nicht, sie würde wollen, dass du glücklich bist? Sie würde nicht wollen, dass du dir die Schuld an ihrem Tod gibst."
Ginny schwieg für einen Moment und sagte dann mit fester Stimme:
„Es war nicht deine Schuld, Harry. Du hast sie nicht entführt und du hast sie nicht getötet. Das hat Voldemort getan. Es war seine Schuld und nicht deine. Glaube mir, Harry, deine Mutter würde dir dasselbe sagen, wenn sie jetzt hier wäre."
Harry schaute sie zweifelnd an.
„Oh, Ginny. Ich vermisse sie so sehr."
Seine Stimme brach und er schluchzte auf. Er drückte sie an sich und vergrub sein Gesicht an ihrer Schulter.
Ginny hielt ihn fest und strich ihm über sein Haar, murmelte beruhigende Worte. Sie war froh, dass er endlich weinte. Auch wenn es nur eine Vermutung war, sie war sich ziemlich sicher, dass Harry niemals um seine Mutter geweint hatte. Nicht fähig die traumatischen Ereignisse zu verarbeiten, hatte Harry all seinen Hass, seine Traurigkeit und seine Schuldgefühle, die so schwer auf ihm lasteten, tief in seiner Seele vergraben.
Ginny dachte an das kleine Kind, das freudestrahlend den Schneeflocken zugeschaut hatte und spürte heiße Tränen in ihren Augen brennen. Wie einsam und verloren musste Harry sich in den folgenden Jahren vorgekommen sein, verraten von jenen, die er geliebt hatte.
„Halte mich, Gin, halte mich."
„Ich halte dich doch, Harry.", sagte sie leise.
Harry richtete sich auf und starrte sie an. Er beugte sich vor und küsste sie. Erst sanft, dann heftiger. Sie schlang die Arme um Harrys Nacken und küsste ihn so leidenschaftlich zurück wie er sie. Harry klammerte sich so fest an sie, als ob sein Leben davon abhängen würde. Sein Gesicht glühte wie im Fieber. Die heutigen Geschehnisse schienen ihren Tribut zu fordern. Doch Ginny kümmerte es nicht, ob Harry kurz davor war zusammenzubrechen, als er sie zum Bett drängte.
Sie sah in Harrys smaragdgrüne Augen und erkannte, dass sie ihn liebte, erkannte, dass er sie brauchte und selbst wenn es seine Schuldgefühle und seine Verzweiflung nicht mindern würde, konnte sie ihm wenigstens ein bisschen Trost spenden. Und sie brauchte Harry ebenfalls. Sie wollte vergessen, dass sie morgen würden kämpfen müssen, vergessen, dass der morgige Tag ihr Letzter sein könnte.
Sie wollte nur noch Harrys Lippen auf den ihren spüren, Harrys Hände auf ihrem Körper. Alles andere war unwichtig geworden. Nichts war mehr wichtig. Nichts, außer dem Gefühl in Harrys Armen zu sein.
