Kapitel 11

Kurz vor Tagesanbruch saß James Potter zusammengekauert auf der Bank im Garten von Godric's Hollow und starrte die roten Rosen an, die Lily einst so geliebt hatte. Obwohl er den Anblick kaum ertragen konnte, war er nicht fähig sich abzuwenden. Immer noch konnte er sie vor sich sehen, wie sie sich über die Blumen gebeugt hatte, wie sie ihm lachend entgegengelaufen war, hörte sie seinen Namen rufen.

Wann immer sie Zeit gefunden hatte, war sie zu ihren Rosen gegangen. Hierher war sie zum Nachdenken gekommen, hier hatte sie Bücher gelesen oder hatte einfach in der Sonne gelegen. Und nun würde sie nie wieder zu ihrem Lieblingsort zurückkehren, würde ihren Garten nie mehr wiedersehen.

Wenn der gestrige Abend doch nur ein böser Traum gewesen wäre, dachte James. Wie sollte er diesen Schmerz nur ertragen? Wie sollte er nur weiterleben? Wie sollte er ihr fahles Gesicht vergessen, ihr dunkelrotes Haar, das sich wie Blut auf dem Teppich ausgebreitet hatte, ihre weit aufgerissenen smaragdgrünen Augen, die jegliches Leben verlassen hatte?

Sein einziger, schwacher Trost war Lilys strahlendes Lächeln. Sie war glücklich gewesen. Doch worüber? Einen Moment später traf ihn die Erkenntnis wie ein Blitzschlag. Natürlich, sie hatte begriffen, dass Harry lebte. Ihr Kind, das sie mehr als ihr eigenes Leben geliebt hatte.

Ja, das Kind…Lilys Kind. Und seines.

Auch wenn Stunden vergangen waren, seit er es erfahren hatte, fiel es ihm immer noch schwer zu glauben, dass er einen Sohn hatte. Der Gedanke war so fremd, so unwirklich.

Ach, Lily, weshalb hast du es mir nicht erzählt?

Jäh setzte er sich aufrecht. An jenem Tag, an dem sie entführt worden war, hatte sie ihn gefragt, ob er nicht etwas eher nach Hause kommen könnte, da sie eine Überraschung für ihn hätte. Und was hatte er getan? Er, den Kopf voll mit irgendwelchen wichtigen Hinweisen auf einen bevorstehenden Todesserangriff, hatte zerstreut geantwortet und ihr nur mit einem Ohr zugehört und es dann vergessen!

Begreifend, dass Lily an jenem Tag vorgehabt haben musste ihm von ihrer Schwangerschaft zu erzählen, durchfuhr ihn eisige Kälte. Für einen grauenvollen Augenblick fragte er sich, was wohl geschehen wäre, wenn Voldemort von ihrem gemeinsamen Kind Kenntnis gehabt hätte.

James erschauderte, schlang seine Arme fest um seinen Körper und wusste, dass es keinen Unterschied gemacht hätte. Er war sich sicher: der Dunkle Lord hätte Lily trotzdem entführt. Schließlich gab es Mittel und Wege solch einer Situation leicht abzuhelfen. Und was dies für Lily bedeutet hätte, wusste er.

James streckte eine Hand aus, berührte sanft eines der Rosenblätter und während der Schmerz ihn beinahe zerriss, verfluchte er den Zauberer, der ihr aller Leben zerstört hatte. Doch wenn es noch ein Fünkchen Gerechtigkeit auf der Welt gab, würde Voldemort heute dafür bezahlen.

Und er würde…

„James? Hast du denn gar nicht geschlafen?"

James zuckte erschrocken zusammen und sah auf. Mit zerzausten Haaren und dunklen Schatten unter seinen Augen stand Sirius vor ihm und betrachtete ihn besorgt. Es war Sirius gewesen, der ihn gestern nach Hause gebracht hatte, als er sich geweigert hatte in Hogwarts zu bleiben, wie die übrigen Mitglieder des Phönixordens. Aber James hatte es in den Mauern des Schlosses nicht ausgehalten, er hatte allein sein wollen, hatte das Mitgefühl in den Mienen der anderen nicht mehr ertragen können.

Sirius warf einen Blick auf sein übermüdetes Gesicht und setzte sich neben ihn.

„Nein, hast du nicht.", beantwortete er sich seine Frage selbst und fügte hinzu:

„Ich auch nicht."

Nach einer Weile des Schweigens, sagte James:

„Weißt du, was mir vorhin klar geworden ist? An jenem Tag, an dem Lily verschwunden ist, wollte sie mir von dem Kind erzählen. Sie hat mich gebeten früher nach Hause zu kommen." endete er mit leiser Stimme.

Sirius sah ihn traurig an.

„Hätte es denn etwas geändert, wenn du es gewusst hättest? Es hätte alles nur noch schlimmer für dich gemacht, für uns. James, hör mir zu. Lily ist tot und auch wenn es hart klingt, du solltest versuchen sie loszulassen. Du hast einen Sohn. Du solltest…"

Sirius sollte seinen Satz jedoch niemals beenden. Mit einem Ruck drehte sich James zu ihm herum.

„Verdammt noch mal, Sirius! Ich habe für Lilys Rückkehr gebetet! Ich wollte Lily wiederhaben! Nicht einen Sohn! Warum? Warum konnte nicht Lily überleben?"

Sirius' Augen verengten sich. Sein Griff, als er James bei den Schultern packte, war schmerzhaft.

„Harry ist dein Sohn, falls du das noch nicht begriffen hast, James! Ihn trifft keine Schuld, an allem was geschehen ist. Und sage mir nicht, dass du glaubst, Lily wäre glücklich gewesen, wenn sie statt Harry überlebt hätte! Du kanntest sie besser als jeder andere. Sie hätte sich das Leben genommen, wenn sie ihr Kind verloren hätte. Für Harry hat sie alles gewagt, James. Und du weißt, was sie von dir wollen würde, nicht wahr? Dass du dich um ihn kümmerst und ihn liebst.

Wenn wir diesen Tag überleben, musst du ihn zu dir holen. Er wird dich brauchen. Nach Lilys Tod wird er in diesem kalten Schloss wohl kaum mit Liebe überschüttet worden sein. Wir müssen alles in unserer Macht stehende tun, um Harry von den schwarzen Künsten fernzuhalten, James. Wir müssen ihm die Familie wiedergeben, die er verloren hat."

James blinzelte betroffen.

„Ich weiß.", flüsterte er endlich.

„Und ich werde es versuchen. Auch wenn ich nicht weiß, wie ich das anstellen soll. Wie soll ich ihm je ein guter Vater sein, Sirius? Harry ist ein Fremder für mich. Ich kenne ihn doch überhaupt nicht."

„Ihr werdet euch kennenlernen. Und wir werden dir helfen."

James bedachte Sirius mit einem dankbaren Blick und schüttelte dann den Kopf.

„Ich kann es immer noch nicht fassen. Weder, dass ich einen Sohn habe, noch dass Peter uns verraten hat. Zwanzig Jahre, Sirius! Er hat zwanzig Jahre in meinem Haus gelebt. Fast jeden Tag war er mit uns zusammen. Er war mein Freund, ich vertraute ihm und die ganze Zeit hat er uns etwas vorgeheuchelt, hat nur vorgegeben um Lily zu trauern! Wie konnte er das nur tun? Warum hat er uns nicht erzählt, dass Malfoy ihn aufgesucht hat?"

„Weil er ein erbärmlicher Feigling war.", sagte Sirius voller Verachtung.

„Aber wir hätten ihn beschützen können! Ihn und Lily. Und Malfoy hätten wir gefangen nehmen können! Ich verstehe es einfach nicht. Warum hat er es uns nicht gesagt?"

„Ich weiß es nicht, James. Ich weiß es nicht. Aber was auch immer der Grund für seine Handlungen war, nun ist er tot."

„Ja.", sagte James hart.

„Das ist er. Und ich bin froh darüber. Wenn Harry ihn nicht getötet hätte, hätte ich es getan. Ja, Peter hat für seine Taten bezahlt. Und Voldemort wird es auch."

„James…"

„Mach dir keine Sorgen, Sirius. Ich werde nicht einmal in seine Nähe kommen.", sagte James mit einem bitteren Unterton.

Es mochte stimmen, dass er Harry nur im Wege stehen würde. Es mochte stimmen, dass sie jeden verfügbaren Zauberer brauchen würden, um die in Voldemorts Hauptquartier anwesenden Todesser zu besiegen. Und natürlich hatten Sirius und Albus Recht, dass er in einem Zweikampf mit dem Dunklen Lord unterliegen würde, aber trotzdem war es nicht leicht gewesen zu akzeptieren, dass er sich nicht persönlich an Voldemort würde rächen können.

Er hatte jedoch sein Wort gegeben und er würde es halten.

In den Himmel hinaufsehend, seufzte James schwer.

„Ich habe Angst, Sirius. Was, wenn Harry es nicht schafft?"

„Nein, James. Daran darfst du nicht einmal denken! Wir werden es schaffen. Harry wird Voldemort besiegen und wir seine Anhänger. Wir werden Remus befreien…"

„Remus! Grundgütiger, ihn habe ich völlig vergessen!", rief James entsetzt aus.

„…und wenn der Krieg erst einmal zu Ende ist, werden wir und Harry glücklich in Godric's Hollow leben. Irgendwann wird er heiraten und dann werden viele kleine Potters in unserem Garten spielen.", scherzte Sirius.

James derweil starrte Sirius an, als ob dieser den Verstand verloren hätte.

„Heiraten?"

„Ja. Hast du denn nicht bemerkt, wie Arthurs Tochter Harry angesehen hat? Es war der gleiche Blick mit dem Lily dich immer angeschaut hat. Glaube mir, James, eines Tages werden wir alle wieder glücklich sein."

Wie von selbst richteten sich James' Augen auf die dunkelroten Rosen.

„Aber ohne Lily.", murmelte er traurig und stand auf.

„Wir sollten uns fertig machen. Der Orden wird sich bald versammeln."

Ohne auf Sirius zu warten, ging James auf das Haus zu.

Sirius sah ihm wortlos nach. Ob seine Zukunftsvision wohl jemals Wirklichkeit werden würde?


James Potter und Sirius Black waren nicht die Einzigen, die nicht schlafen konnten. In seinem Büro saß Albus Dumbledore, reglos wie eine Marmorstatue und beobachtete die Sonnenstrahlen der langsam aufgehenden Sonne, die über seinen Schreibtisch krochen. Er stützte sein Kinn auf seine Hände und fragte sich, was der Tag wohl bringen würde: Sieg oder Niederlage?

Wie stets vor einem Kampf wünschte er sich in die Zukunft sehen zu können. Würde der Krieg endlich ein Ende finden oder würde er seinen Orden in eine Katastrophe führen?

Albus blickte auf sein Denkarium und haderte mit seiner Entscheidung. Auch wenn er sich ziemlich sicher war, dass sie Harry vertrauen konnten, ein gewisser Zweifel wollte einfach nicht von ihm weichen. Und dann war da noch Voldemort. Der Dunkle Lord war gerissen, durchtrieben und skrupellos. Ihm war alles zuzutrauen. Was, wenn Harry für ihn nur eine Schachfigur war, die er nach Belieben benutzte? Was, wenn er es gerade darauf angelegt hatte, dass Harry sie ins Schloss lockte?

Sich mit einer Hand die Stirn reibend, schüttelte Albus müde den Kopf. Das hatte er nun von seiner durchwachten Nacht. Prompt machte er sich zu viele Sorgen und sah überall Gespenster.

Wo war seine Hoffnung geblieben? Wo sein Mut?

Unwillkürlich dachte er an Lily Potter, sah sie vor sich, wie sie Voldemort entgegengetreten war. Sie hatte gewusst, dass es sie ihr Leben kosten würde und doch hatte sie alles dafür getan, um Harrys Liebe zu Voldemort zu zerstören. Trotz allem, was sie in Voldemorts Händen erlitten hatte, hatte sie nicht aufgegeben, sondern hatte bis zuletzt gekämpft.

Bewunderung stieg in ihm auf und plötzlich verspürte er den übermächtigen Wunsch die Zeit zurückzudrehen, um damals andere Entscheidungen zu treffen.

Er hätte wissen müssen, dass Lily James und den Orden nie im Stich gelassen hätte. Ja, er hatte ihr Unrecht getan. Und wer weiß, vielleicht hätten sie doch eine Möglichkeit gefunden Lily zu befreien.

Es war zu spät für Selbstvorwürfe, doch es gab eine Sache, die er tun konnte. Er konnte dafür sorgen, dass sie ihr Leben nicht umsonst geopfert hatte.

Entschlossen stand Albus auf und ergriff seinen Zauberstab. Es war an der Zeit den Krieg zu beenden, dachte er und machte sich auf den Weg in die Große Halle, wo der Phönixorden sich versammeln sollte.


Ginny erwachte völlig zerschlagen. Und auch wenn es unter der Decke eigentlich viel zu warm war, fror sie. Bald, dachte sie, bald würde der Kampf beginnen und erschauderte. Sie drehte sich auf die Seite und sah zu ihrer Erleichterung, dass Harry ebenfalls schon wach war. Auf dem Rücken liegend, starrte er hinauf an die Decke.

„Harry?"

Harry zuckte leicht zusammen und schaute sie an. Er hatte dunkle Ringe unter den Augen und sah genauso müde aus, wie sie sich fühlte. Da er sie mitten in der Nacht aus ihrem ruhelosen Schlaf gerissen hatte und sie in die Große Halle geschleppt hatte, um mit ihr die letzten Details für den Angriff zu klären und sie sich anschließend noch kurz mit Professor Snape getroffen hatten, war dies allerdings nicht weiter verwunderlich.

„Ich…", begann sie mit stockender Stimme.

Doch ehe sie ein weiteres Wort hätte sagen können, streichelte Harry ihr mit einer Hand leicht über die Wange.

„Hab keine Angst, Ginny. Wir werden siegen. Glaube mir."

In seine Augen trat ein eiskalter Ausdruck.

„Ich werde ihn töten, Ginny. Und wenn es das Letzte sein sollte, was ich tue. Ich werde mich rächen."

Dann verlor sein Gesicht etwas von seiner Härte und er lächelte sie an.

„Es wird alles gut werden, Gin. Zusammen werden wir es schaffen."

Ginny nickte, doch es gelang ihr nicht recht Harrys Lächeln zu erwidern. Sie hatte solch eine Angst, dass ihm etwas geschehen könnte. Was, wenn er sein Zusammentreffen mit dem Dunklen Lord nicht überleben würde?

„Es tut mir leid.", sagte Harry plötzlich.

Verständnislos sah Ginny Harry an und wollte gerade fragen, was er meinte, als er leise hinzufügte:

„Ich habe dich gestern nicht gefragt, ob du auch wolltest."

Da endlich verstand sie.

„Oh, Harry, mach dir darüber keine Sorgen. Natürlich wollte ich auch. Ich liebe dich doch.", sagte sie, beugte sich über Harry und küsste ihn.

Sie richtete sich wieder auf und sah ihn an. Harry starrte sie derart fassungslos an, dass sie sich auf die Lippen beißen musste um nicht laut loszulachen. Aber als sie sich ausmalte, was seine Reaktion bedeuten könnte, verspürte Ginny einen schmerzhaften Stich. Liebte er sie denn nicht auch?

Rasch wollte sie sich abwenden, doch Harrys Hand an ihrem Kinn ließ sie innehalten.

„Ginny.", flüsterte er.

Sein nächstes Wort ging in einem markerschütternden Schrei unter.

Ginny sprang auf, schnappte sich ihr Gewand, streifte es hastig über und eilte ins Schlafzimmer hinüber. Dort hatte Katie bereits einen Arm um die kleine Anne gelegt und versuchte das weinende Mädchen zu beruhigen.

Ginny hatte das Bett beinahe erreicht, als sie ihren Vater brüllen hörte:

„Wo ist meine Tochter? Was hast du ihr angetan?"

Erschrocken stürzte Ginny wieder hinaus und lief zu ihrem Vater, der sich schwankend vom Sofa erhoben hatte und Harry mit wildem Blick und geballten Fäusten anstarrte.

„Dad!"

Während Ginny sich freudestrahlend in die Arme ihres Vaters warf, griff Harry seelenruhig nach seiner tiefschwarzen Robe und verschwand im Badezimmer.

„Ginny?"

Arthur sah seine Tochter ungläubig an, ehe er sie so fest umarmte, wie er nur konnte.

Erst als Harry ins Zimmer zurückkehrte, ließ er sie los und blinzelte verwirrt.

„Was ist eigentlich geschehen? Müsste ich nicht…tot sein? Der Todesfluch…das grüne Licht…"

Völlig verloren brach Arthur ab. Er erinnerte sich an die entsetzlichen Schmerzen, wusste, dass es der schwarzhaarige junge Lord gewesen war, der Folterer seiner Tochter, der ihm diese Qualen zugefügt hatte. Und er erinnerte sich an das gleißend grüne Licht, das auf ihn zugerast war.

„Ich denke, es ist besser, wenn du ihm alles erklärst.", sagte Harry, streifte sie mit einem kurzen Blick und schritt auf die Tür zu.

Als Harry sprach, zeigte sich unverhüllter Hass auf Arthurs Gesicht und Ginny, der dies nicht entgangen war, seufzte leicht. Sobald Harry sie allein gelassen hatte, drückte sie ihren Dad sanft zurück auf das Sofa und fing an ihm zu erzählen, was sich während seiner Bewusstlosigkeit ereignet hatte. Es dauerte eine Weile und sie musste all ihre Überzeugungskünste aufbieten, um ihm begreiflich zu machen, dass Harry ihr nichts getan hatte, sondern ihr und dem Phönixorden sogar geholfen hatte und was am wichtigsten war: Harry hatte sein Leben gerettet.

Arthur hörte zu, schüttelte zwischendurch immer wieder den Kopf und sah seine Tochter unverwandt an. Als sie geendet hatte, strich er Ginny zärtlich eine rote Haarlocke aus dem Gesicht.

„Und du bist sicher, dass er dir nicht wehgetan hat, Kleines?"

„Dad, Harry hat dir das Leben gerettet. Glaube mir, du kannst ihm vertrauen.", sagte sie bestimmt und Arthur nickte zögernd.

Kurz darauf kamen Cho, Katie und Anne herein. In ihre Decken gehüllt, blieben sie stehen und sahen Ginny unsicher an. Ginny rief schnell einen der Hauselfen zu sich und bat das kleine Wesen ihnen das Frühstück zu bringen.

Während ihr Dad und die Mädchen hungrig aßen, war Ginny nicht fähig auch nur einen Bissen hinunterzuschlucken. Und so trank sie vor lauter Anspannung lediglich ein wenig Tee.

„Wo bist du gestern eigentlich gewesen?", fragte Cho neugierig.

„Auf deinem Zettel stand bloß, dass du bald zurückkommen würdest."

Ginny stellte ihre Teetasse ab und erklärte ein zweites Mal in stark gekürzter Fassung, was am vergangenen Tag geschehen war.

„Können…können wir dann nach Hause gehen?", fragte Anne und sah Ginny an.

In Annes hellblauen Augen leuchtete solch eine Hoffnung, dass Ginny nicht anders konnte, als ihr zu versichern, dass sie, sobald die Schlacht geschlagen war, in der Tat nach Hause gehen würden.

Jedenfalls, wenn wir gewinnen, dachte Ginny grimmig, und Harry Voldemort besiegt.

Ginny nahm einen Schluck von ihrem Tee und spähte zur Tür, fragte sich, wo Harry hingegangen war.

Jetzt, wo der Kampf mit jeder weiteren Minute immer näher rückte, wünschte sie sich die Zeit anhalten zu können. Gestern hatte sie den Gedanken an die bevorstehende Schlacht noch verdrängen können, aber nun schaffte sie es nicht mehr. Ihre Angst war einfach zu groß, der Ausgang zu ungewiss.

Als Harry schließlich zurückkam und Ginny, die um seinen Arm gewundene Schlange bemerkte, begriff sie, dass Harry lediglich sein Haustier gesucht hatte, das er gestern auf die Suche nach den beiden Kindern geschickt hatte.

Bei Harrys Anblick waren Katie, Cho und Anne auf ihren Sitzen erstarrt und auch Arthur sah aus, als würde er sich unbehaglich fühlen.

„Es wird Zeit, Ginny. Wir müssen gehen."

Ginny nickte und wollte aufstehen, doch ihr Vater ergriff sie am Arm.

„Nein. Ich verbiete dir zu kämpfen. Es ist viel zu gefährlich!"

„Dad, versteh doch. Ich muss…"

„Nein, Ginny. Du…"

Jäh verstummte Arthur. Eine eigenartige Starre schien sich über ihn zu legen. Ginny sah fragend zu Harry hinüber.

Harry erwiderte ihren Blick ungerührt und streckte eine Hand nach ihr aus.

„Komm.", sagte er.

Und Ginny ging. An der Tür drehte sie sich noch einmal um. Die erschrockenen Gesichter von Katie, Cho und Anne sehend, wollte sie etwas sagen. Doch sie brachte kein Wort heraus, noch gelang es ihr zu lächeln. Stattdessen ruhten ihre Augen auf der reglosen Gestalt ihres Vaters. Erst als Harry ihre Hand ergriff, folgte sie ihm durch die Tür.


Die große Halle und der Korridor lagen da wie ausgestorben. Alle Spuren des gestrigen Festes waren beseitigt worden. Die Stille machte Severus Snape nervös. Neben dem Eingang zur großen Halle stehend, hielt er seinen Blick starr auf die Treppe gerichtet. Wo zum Teufel blieben sie? Sie hätten schon längst hier sein müssen.

Severus spürte, wie ihm der kalte Schweiß ausbrach. Sicher, die Gelegenheit war günstig.

Nach dem Fest, das die halbe Nacht angedauert hatte, würden die Todesser heute später aufstehen und aller Wahrscheinlichkeit nach eher unachtsamer sein als sonst. Dennoch, er hätte es vorgezogen, wenn sie ein paar Tage gewartet hätten, bevor sie ihren Plan in die Tat umsetzten und jeder seine Aufgabe, die er zu übernehmen hatte sowie sämtliche Wege, die aus dem Schloss hinausführten, genauestens kennen würde. Aber Albus Dumbledore und ihr unerwarteter Verbündeter mussten natürlich alles überstürzen.

Seine Stirn runzelnd, schüttelte Severus den Kopf und erinnerte sich an das Gespräch, das er vor wenigen Stunden mit Albus geführt hatte.

Glücklicherweise hatte der Dunkle Lord ihn gegen Mitternacht nach Hogwarts geschickt, um einige Zaubertränke zu holen – unter anderem Veritaserum – die der Innere Kreis für die Befragung der Gefangenen brauchen würde. Zwar hatte er nur wenig Zeit gehabt, doch es hatte gereicht ihn über alle Neuigkeiten in Kenntnis zu setzen.

Die tatsächliche Identität des jungen Lords zu erfahren war ein Schock für ihn gewesen. Wer hätte gedacht, dass der junge Zauberer James' und Lilys Sohn war?

An Lily denkend, seufzte er. Ihr Schicksal hatte ihn tief getroffen und er wusste, dass auch er eine Mitschuld trug. Er wusste, dass er damals nicht gründlich genug gesucht hatte.

Als Potter zu ihm gekommen war und ihn um Hilfe gebeten hatte, hatte er halbherzig zugestimmt. Und so hatte er auch das Schloss durchsucht. Die Feindseligkeit, die er von jeher gegenüber Potter empfunden hatte, hatte ihn blind gemacht.

Nun jedoch begriff er, dass Lily solch ein Verhalten nicht verdient hatte. Er hätte um ihretwillen suchen sollen, nicht um Potters. Vielleicht wäre er in der Lage gewesen ihr zur Flucht zu verhelfen, wenn er sie gefunden hätte.

Dass er viel zu schnell aufgegeben hatte, würde er sich nie verziehen. Es nützte nichts mehr sich zu fragen, ob er Lily hätte helfen können, wenn er damals alle Anstrengungen unternommen hätte. Er würde es nie erfahren, dachte er bitter. Er würde lernen müssen mit seiner Schuld zu leben.

Näherkommende Schritte ließen ihn hochblicken. Als er Potters Sohn und Ginny Weasley erkannte, erfasste ihn Erleichterung.

Jetzt konnte er nur noch beten, dass ihr Plan gelingen würde.