Kapitel 12
Die morgendlichen Sonnenstrahlen tauchten das düstere Schloss in glitzerndes Licht und als Bill Weasley hinauf zu den mächtigen Mauern schaute, musste er eine Hand schützend vor seine Augen halten. Im Wald war es recht kühl, doch Bill schenkte dem keinerlei Beachtung. Unruhig von einem Fuß auf den anderen tretend, sah er wieder auf den See und wartete darauf, dass Ginny endlich in Sicht kommen würde.
Dass seine kleine Schwester am gestrigen Abend zusammen mit Harry Potter in das Hauptquartier des Dunklen Lords zurückgekehrt war, hatte ihm ganz und gar nicht gefallen.
Bill dachte immer noch mit einem gewissen Groll an Albus Dumbledore, der ihn und seine Mutter dazu gebracht hatte nachzugeben. Allein der Gedanke, dass Ginny nun hier war, war ihm zutiefst zuwider. Er wollte sie nicht in Gefahr wissen, wollte nicht, dass ihr etwas zustieß. Und am allerwenigsten wollte er sie in Harry Potters Nähe wissen.
Selbst wenn er Ginny aus welchen Gründen auch immer tatsächlich nichts getan hatte – was er stark bezweifelte, wenn er an ihre in verschiedenen Farben schillernde Wange dachte – war der vermeintliche Sohn und Erbe des Dunklen Lords gefährlich.
Der Mord an Peter Pettigrew war bestimmt nicht sein erster gewesen, der auf sein Konto ging. Ganz zu schweigen von den Geschichten, die Severus Snape ihnen über den jungen Lord erzählt hatte. Wenn auch nur ein Bruchteil davon der Wahrheit entsprach, dann war Harry Potter ein Dunkler Zauberer, wie er im Buche stand.
Sich daran erinnernd, wie Ginny gestern seine Hand gehalten und ihn verteidigt hatte, presste Bill die Lippen zusammen und fragte sich, was er wohl getan hatte, um Ginny derart in seinen Bann zu ziehen. Noch dazu war es ihr eigener Wunsch gewesen in Voldemorts Hauptquartier zurückzukehren. Um ihnen zu helfen, hatte sie gesagt!
Dabei war sie doch noch fast ein Kind. Zudem hatte sie keinerlei Kampferfahrung. Zwar hatte ihnen Harry Potter versichert, dass Ginny zu keiner Zeit in Gefahr sein würde, aber wie sollte er dem Wort eines Zauberers trauen, der im Schloss des Todes aufgewachsen war?
Bill schüttelte den Kopf und sah zu den anderen Wartenden hinüber. Ihnen allen stand die Anspannung ins Gesicht geschrieben. Manchen Ordensmitgliedern konnte er sogar die Angst ansehen. Ob ihnen auch der Gedanke gekommen war, dass dies eine geschickt eingefädelte Falle sein könnte?
Eine Falle, um sie alle in die Gewalt zu bekommen und den Phönixorden endgültig auszulöschen? Woher sollten sie wissen, ob Harry Potter wirklich vorhatte den Dunklen Lord zu töten? Alles, was er ihnen am vergangenen Abend gezeigt hatte, könnte auch eine große Lüge sein, ein abgekartetes Spiel.
Und doch hatte keiner von ihnen einen Einwand erhoben. Auch er nicht.
Sich gegen den dicken Stamm eines Baumes lehnend, sann er darüber nach, wie es sein würde, wenn sie es heute wie durch ein Wunder tatsächlich schaffen sollten die Dunkle Seite zu besiegen.
Sie würden nach Hause gehen können und in ihr Leben würde wieder Normalität einkehren. Wie schön musste es sein nicht dauernd in Angst leben zu müssen, nicht kämpfen zu müssen, sich keine Sorgen zu machen, ob man den nächsten Tag überleben würde. Es würde keine Überfälle mehr geben, sie würden alleine das Haus verlassen können. Sie würden den Krieg vergessen und sich wieder an den alltäglichen Dingen des Lebens erfreuen.
Und Ginny würde Harry Potter nicht wieder sehen, fügte er mit einem lautlosen Seufzer hinzu.
Aber auch wenn er sich alle Mühe gab, er konnte es sich einfach nicht vorstellen. Er hatte ein Leben ohne Krieg nie gekannt und doch wünschte er sich nichts sehnlicher als endlich eine Zukunft zu haben, die nicht vom Krieg bestimmt wurde.
Ja, dachte er, vielleicht war auch seine Hoffnung größer als seine Angst und seine Zweifel.
„Sie kommen.", hörte er Charlie sagen, der neben ihm stand.
Bill sah auf, atmete tief ein und richtete seinen Blick auf die drei Gestalten, die wie aus dem Nichts plötzlich am anderen Ende der Wiese erschienen waren und nun rasch näherkamen.
Seine Unruhe wuchs ins Unermessliche.
Als Ginny, Harry und Severus Snape den Phönixorden beinahe erreicht hatten, lief Ginny auf ihre Mutter zu. Während Ginny ihre Familie umarmte, gingen Harry und Severus zu Albus Dumbledore hinüber. Nach einer kurzen Begrüßung holte Harry mehrere kleine, hölzerne Kästchen aus einer seiner Taschen hervor und rief Ginnys Namen. Ginny löste sich widerwillig aus Freds und Georges Armen, umarmte noch einmal schnell ihre Mutter und trat zu Harry.
Harry gab ihr und Professor Snape jeweils drei Kästchen und wandte sich zu Dumbledore, der bereits seinen Zauberstab erhoben hatte. Zusammen legten sie auf die Versammelten einen Zauber. Im nächsten Augenblick begannen die Ordensmitglieder zu schrumpfen.
Ginny, Harry und Severus knieten sich in das taunasse Gras und warteten bis die einzelnen Ordensmitglieder, die jetzt ungefähr fünf Zentimeter maßen, zu ihnen kamen und hoben sie behutsam in die Kästchen.
Kurz darauf war bloß noch Albus Dumbledore übrig.
„Wir vertrauen Ihnen, Harry. Vergessen Sie das nicht.", sagte er und nickte.
Harry warf ihm lediglich einen Blick zu und hob eine Hand. Sobald auch Dumbledore von Harry verzaubert worden war und in einem der Kästchen untergekommen war, stapelte Harry die Kästchen vorsichtig übereinander und legte eine Hand auf das oberste.
„Werden die Schutzzauber nicht Alarm schlagen?", fragte Severus plötzlich.
Harry schüttelte den Kopf.
„Jetzt nicht mehr. Hier, jeder nimmt drei."
Beladen mit den Kästchen, erhob sich Ginny. Während sie die Kästchen mit beiden Händen hielt, schaffte es Harry sie nur mit einer Hand zu halten und mit der anderen ihren Arm zu ergreifen.
„Bereit?", fragte er.
Ginny fasste die Kästchen fester und schloss resignierend die Augen. Wie sie es hasste zu apparieren!
Zum Glück gelang es ihr bei ihrer Ankunft in der Großen Halle auf den Füßen zu bleiben.
Als Severus Snape ebenfalls eingetroffen war, sagte Harry leise:
„Snape, Sie zeigen dem Orden die Kerker."
Wortlos drehte sich Snape um und marschierte mit wehendem Umhang davon.
Ginny und Harry hingegen sahen sich schweigend an. Und auch wenn Ginny wusste, dass die Zeit kostbar war, dass sie so schnell wie möglich handeln mussten, war sie unfähig sich zu rühren, als sie in Harrys smaragdgrüne Augen starrte.
Unvermittelt streckte Harry eine Hand aus und berührte ihre Schulter. Irgendetwas schien sie einzuhüllen. Sie spürte es nur einen Moment lang und doch war sie sicher es sich nicht eingebildet zu haben.
„Was hast du getan?", fragte sie.
„Ich habe dich mit meiner Magie umgeben. Sie wird dich für eine Weile schützen.", sagte Harry und reichte ihr seinen Zauberstab, bevor er niederkniete und begann die Kästchen zu öffnen.
Ginny schluckte hart, als ihr wieder bewusst wurde, weshalb sie hier waren. Rasch tat sie es Harry nach und befreite die Ordensmitglieder, die sich umgehend zurückverwandelten.
Ginny warf Harry einen letzten Blick zu und führte dann einen Teil des Ordens aus der Halle.
Harry sah Ginny nach und unterdrückte den Impuls ihr hinterherzugehen und sie in seine Gemächer zu bringen, wo sie auf jeden Fall in Sicherheit sein würde. Doch er wusste, dass Ginny, ebenso wie Snape den Ordensmitgliedern den ungefähren Weg zeigen musste. Sie konnten es einfach nicht riskieren, dass der Phönixorden sich verlief und die Orientierung in dem weitläufigen, düsteren Schloss verlor.
Zwar hatte er gestern einige Pläne gezeichnet, aber erstens würde es zu lange dauern die Karten zu Rate zu ziehen und zweitens wären sie nutzlos, sollte etwas Unvorhergesehenes geschehen. Und Ginny hatte den Weg in der vergangenen Nacht wenigstens mehrmals abgeschritten.
Während Ginny den Ordensmitgliedern den westlichen Flügel zeigte, wo die meisten Todesser ihre Unterkünfte hatten, führte Harry seinen Teil in den nördlichen Flügel. Dort befanden sich nicht nur Voldemorts Gemächer, sondern auch die Räume derjenigen Todesser, die dem Dunklen Lord am nächsten standen. Wie Harry erwartet hatte, begegneten sie nicht einmal einem einzigen Todesser.
Als sie ihr Ziel erreicht hatten, bedeutete Harry den Ordensmitgliedern sich vor die verschiedenen Türen zu stellen. Sobald alle ihre Stellung bezogen hatten, gab Harry das Zeichen zum Angriff und riss Voldemorts Tür auf.
Der Dunkle Lord saß an einem kleinen runden Tisch und war gerade dabei sein Frühstück zu essen. Bei Harrys Eintritt sah er auf.
„Henry! Ist etwas…."
Er brach ab, griff nach seinem Zauberstab und stand langsam auf.
„Ich würde dir raten, deinen Entschluss noch einmal zu überdenken, Henry.", sagte er kühl.
„Du hast meine Mutter ermordet!"
„Es war unumgänglich. Und das weißt du, Henry. Sie hat mich herausgefordert."
„Wage es ja nicht ihr die Schuld zu geben, Voldemort! Es war deine. Und dafür wirst du heute bezahlen. Du und deine Anhänger!"
„Und wie stellst du dir das vor? Meine Todesser sind in der Überzahl, falls du das noch nicht bemerkt haben solltest."
„Mag sein. Aber…"
Harry lächelte, als er die Schreie hörte.
„…um deine Anhänger kümmern sich gerade Dumbledore und sein Orden. Ich denke, wir haben ganz gute Chancen zu gewinnen."
„Du hast mich also verraten. Das ist bedauerlich. Aber noch ist es nicht zu spät, Henry. Wenn du dich jetzt auf meine Seite stellst, können wir den Angriff abwehren und den Phönixorden endgültig zerschlagen. Ich würde dir verzeihen, Henry. Du würdest meine rechte Hand und mein Erbe bleiben und ich würde über deinen Verrat hinwegsehen.
Wenn du dich jedoch entscheidest gegen mich zu kämpfen, wirst du die Konsequenzen tragen. Dir sollte klar sein, dass du mich nicht besiegen kannst.", sagte der Dunkle Lord und trat einen Schritt auf ihn zu.
„Überlege es dir gut, mein Sohn."
„Ich bin nicht dein Sohn, Voldemort! Meine Mutter hat dich getäuscht. Sie war bereits schwanger, als du sie gefangen genommen hast!"
Der Dunkle Lord zischte, sein schlangenähnliches Gesicht verzog sich zu einer grotesken Fratze. Das konnte nicht wahr sein! Und doch spürte er, dass Henry, der mit hasserfüllten Augen vor ihm stand, die Wahrheit gesagt hatte.
Gegen den unbändigen Zorn ankämpfend, der in ihm aufstieg, fand er sich schlagartig siebzehn Jahre zurückversetzt, erinnerte sich an jenen Tag – wenige Wochen nach ihrer Entführung – an dem er Lily in die Kerker geführt hatte. In einer der vielen Zellen hatte die junge Frau um James Potter geweint, der leblos am Boden gelegen hatte.
Zwar war es nur irgendein unbedeutender Gefangener gewesen, doch Lily hatte ihm geglaubt, als er ihr gesagt hatte, er habe ihren Ehemann umgebracht. Sein Spion Severus Snape, ein begnadeter Zaubertränkemeister hatte den Vielsafttrank gebraut, ohne zu ahnen, wofür sein Gebieter ihn brauchen würde.
Als Lilys Tränen versiegt waren, hatte sie sich langsam erhoben, hatte sich umgedreht und ihm direkt in die Augen gesehen.
Eines Tages wirst du besiegt werden, Voldemort. Eines Tages wirst du für alles bezahlen, was du je getan hast.
Immer noch sah er sie vor sich stehen, hörte ihre leise, doch feste Stimme. Selbst in ihrer Trauer war sie wunderschön gewesen.
Lily, dachte er und verfluchte sie, die Frau, die er niemals vergessen hatte, die ihn sogar in seinen Träumen verfolgte und die er hasste. Seit dem Tag, an dem er sie zum ersten Mal gesehen hatte, fand er keine Ruhe mehr. Wäre er ihr doch niemals begegnet. Wäre sie nur auf seiner Seite gewesen…
Der Dunkle Lord hielt inne, weigerte sich diesen Gedanken zu Ende zu führen. Stattdessen verbannte er die Erinnerung an Lily und konzentrierte sich auf die Gegenwart. Er wusste, dass er handeln musste. Sonst würde er alles verlieren. Henry hatte Dumbledore und seinen Orden ins Schloss geholt. Dafür würde Henry büßen, ebenso, wie Lily dafür bezahlt hatte, dass sie sich ihm widersetzt hatte. Und anschließend würde er sich um Dumbledore, diesen Narren, kümmern. Zuvor jedoch musste er mit Henry abrechnen.
Der Dunkle Lord hob den Kopf und sah in die smaragdgrünen Augen Lilys, die sie ihrem Sohn vererbt hatte.
„In diesem Fall war es ein schwerwiegender Fehler das Schlammblut nicht sehr viel früher zu töten."
Harry ballte unwillkürlich die Fäuste, spürte, wie sein Hass endlich überbrodelte. Ohne einen weiteren Augenblick zu zögern, griff er Voldemort an.
Er war nur noch von dem Gefühl erfüllt zu töten, zu vernichten und genau das würde er tun. Seine Magie brach aus ihm hervor, so heftig, dass er sie nicht mehr kontrollieren konnte.
Harry war das jedoch gleichgültig, als er sich seiner Magie und der Macht, die ihn durchströmte, ergab. Er sah weder das entsetzte Begreifen auf Voldemorts Gesicht, noch wurde ihm bewusst, dass sämtliche Flüche, die der Dunkle Lord ihm entgegenschleuderte, einfach von seinem Schutzschild abprallten.
Erst als eine große gläserne Schale in tausend Stücke zerbarst und eine der Glasscherben seine Wange ritzte, kam er wieder zur Besinnung. Zitternd stand er da. Ihm war schwindelig, doch allmählich nahmen seine Augen die Umrisse, die sich vor ihm abzeichneten deutlicher wahr.
Das Zimmer sah aus, als wäre es von einem Orkan verwüstet worden. Und Voldemort, beinahe bis zur Unkenntlichkeit von seiner Magie zerstört, lag zusammengekrümmt vor ihm. Er war tot, wie Harry benommen erkannte.
Er hätte Triumph empfinden müssen, Freude darüber, dass er sich gerächt hatte, Erleichterung, dass er überlebt hatte. Doch stattdessen kroch eisige Kälte in ihm hoch. Er drehte sich um und blickte in die aschfahlen Gesichter dreier Ordensmitglieder, die mit schreckgeweiteten Augen in der Tür standen.
Sich fragend, wie lange sie wohl schon hier waren, schritt er auf die Tür zu. Die Zauberer wichen vor ihm zurück, als er in den Korridor trat und lauschte.
Es war ruhig, viel zu ruhig.
Einen Moment später lief er los. Da die Große Halle der einzige Ort innerhalb des Schlosses war, von wo es möglich war zu apparieren, war es mehr als wahrscheinlich, dass die Todesser versucht hatten dorthin zu fliehen.
Als er eintraf, sah er, dass er mit seiner Vermutung Recht gehabt hatte. Der Kampf hatte sich tatsächlich in die Halle verlagert.
Ein siegesgewisses schrilles Lachen ließ ihn herumwirbeln. Sein Blick fiel auf Bellatrix Lestrange. Er hob eine Hand und überließ sich ein weiteres Mal seiner Magie, die sich so lebendig anfühlte. Das Lachen wandelte sich zu einem qualvollen Schrei, der stetig lauter wurde.
Es war der Gedanke, dass sie den Ordensmitgliedern den Weg zeigen musste, der Ginny davon abhielt umzukehren und sich auf die Suche nach Harry zu machen. Erfüllt von Angst und Sorge, stolperte sie voraus. Wie sie es schaffte sich nicht zu verlaufen war ihr ein Rätsel, doch irgendwie gelang es ihr die Ordensmitglieder in den westlichen Flügel zu führen.
Sobald sie dort angekommen waren, gab ihre Mutter ihr jedoch einen Kuss und schickte sie zurück und Bill befahl den Zwillingen bei ihr zu bleiben und auf sie aufzupassen.
„Aber…", protestierte sie schwach.
Bill schnitt ihr das Wort ab.
„Nichts aber, Ginny. Du hast uns schon mehr als genug geholfen. Und kämpfen wirst du auf keinen Fall."
Einsehend, dass Widerspruch zwecklos war, nickte Ginny. Fred und George nahmen sie in die Mitte und eilten mit ihr in Richtung Treppe davon.
Sie waren noch nicht weit gekommen, als eine Stimme brüllte:
„Wir werden angegriffen! Der Phönixorden ist hier! Wir werden angegriffen!"
Fred zog eine Grimasse und beschleunigte seinen Schritt. Sie hatten die Treppe beinahe erreicht, als eine Tür aufgerissen wurde. Bei ihrem Anblick blieben die zwei Todesser wie angewurzelt stehen.
„Lauf, Ginny!", rief Fred und trat einen Schritt auf die Todesser zu.
Aber Ginny dachte gar nicht daran. Mit erhobenem Zauberstab stand sie da. Ihre Augen flogen zwischen Fred und George hin und her. Wäre da nicht die Angst gewesen einen ihrer Brüder zu treffen, hätte nichts sie davon abgehalten selbst einen Fluch gegen die Todesser zu schicken, so jedoch unterließ sie es und hoffte mit klopfendem Herzen, dass den Zwillingen nichts geschehen würde.
Als sie gewahr wurde, dass weitere Todesser, verfolgt von Ordensmitgliedern, auf die Treppe zustürmten, war es zu spät. Aus den Augenwinkeln sah sie ein gleißend hellrotes Licht näherkommen. Eine Sekunde später prallte der Fluch mit unglaublicher Wucht gegen sie und nahm ihr den Atem. Sie wurde durch die Luft geschleudert. Ihr Kopf schlug gegen etwas Hartes.
Als sie wieder zu sich kam und sich langsam aufrichtete, sah sie, dass sie am Fuße der Treppe lag. Irgendwer rief ihren Namen, doch erst als Bill neben ihr kniete, begriff sie, wer es gewesen war.
„Ginny! Bist du verletzt?"
„Nein.", sagte sie mühsam und ließ sich von Bill aufhelfen.
„Nein.", wiederholte sie lauter, als der Schwindel endlich nachließ.
„Mir geht es gut.", versicherte sie und schaute in das grimmige Gesicht ihres Bruders.
„Komm. Ich bringe dich in Sicherheit.", sagte er und zerrte sie fort.
Nach einigen Metern blieb Ginny jäh stehen.
„Fred und George! Wir müssen ihnen helfen!"
„Ich habe Charlie bei ihnen zurückgelassen.", entgegnete Bill bündig und ging weiter.
Wenig später fanden sie sich vor dem Eingang der Großen Halle wieder. Bill fluchte unterdrückt und packte sie an der Schulter.
„Du bleibst hier und rührst dich nicht vom Fleck. Hast du verstanden?"
Ginny hatte kaum genickt, als Bill auch schon in die Halle rannte. Sich gegen die Wand lehnend, ließ Ginny ihren Blick über die Kämpfenden wandern.
Unvermittelt erstarrte sie.
Harry! Und ihr Herz machte einen Sprung. Er lebte! Er war hier!
Dass konnte nur eines bedeuten: dass er Voldemort besiegt hatte.
Ihre Freude jedoch verschwand so rasch, wie sie gekommen war. Irgendetwas stimmte nicht, dachte sie mit wachsendem Schrecken. Als ein weiterer Todesser in einem dunklen Feuer verglühte, vergaß sie alle Vorsicht und begann zu laufen.
Woher sie es wusste, konnte sie nicht sagen. Doch eines war gewiss. Sie musste zu Harry.
Ohne auf die Flüche zu achten, die durch die Gegend schwirrten, schlängelte sie sich durch die Kämpfenden hindurch.
Endlich erreichte sie ihn.
„Harry, nein! Hör auf! Hör auf, Harry!"
Harry wirbelte zu ihr herum, starrte sie an, als wäre sie eine Fremde. Unwillkürlich wich sie zurück, glaubte für den Bruchteil eines Augenblicks, er würde auch sie angreifen.
„Harry.", flüsterte sie.
Sein Blick klärte sich, wurde sanfter.
„Ginny? Was zum Teufel machst du hier?"
Dann packte er sie am Arm. Erst als sie den prunkvollen Thron des Dunklen Lords erreicht hatten, ließ er sie los und zog sie fest an sich. Ginny spürte, wie er zitterte. Sein Gesicht jedoch, das er gegen ihres presste, war unnatürlich heiß.
„Was ist geschehen?", fragte sie.
„Er ist tot. Ich habe…"
Jäh stieß er sie von sich. Ginny fiel auf die Knie. Als sie wieder auf die Beine gekommen war, sah sie, dass er mit einem silberblonden Zauberer kämpfte, der noch seinen Pyjama trug.
Ginny kam hinter dem Thron hervor und wollte ihren Zauberstab gerade auf einen Todesser richten, der auf Harry und seinen Gegner zulief, als plötzlich Bill vor ihr auftauchte und sie am Arm ergriff.
„Ginny! Hast du den Verstand verloren? Er hätte dich töten können!", herrschte er sie an und während Ginny sich fragte, wen ihr Bruder mit ‚er' gemeint haben könnte, blieb ihr nichts anderes übrig als Bill zu folgen, der in die entgegengesetzte Richtung lief.
„Lass mich los, Bill!", rief sie und versuchte erfolglos sich gleichzeitig zu befreien und sich nach Harry umzuschauen.
Bill jedoch ignorierte sie und bald verlor Ginny Harry aus den Augen.
Im nächsten Moment stürzten Molly und Charlie Weasley auf sie zu.
„Wir haben gewonnen!", rief Charlie.
„Wir haben gewonnen!"
Ginny jedoch hörte ihn nicht. Als sie Harry endlich entdeckte, trafen sich ihre Blicke. Für eine Weile sahen sie sich an. Dann wandte Harry sich ab und ging aus der Halle. Bevor Ginny sich aus dem klammernden Griff ihrer Mutter hätte lösen können, war Harry verschwunden.
