Kapitel 13

„Remus!"

In zwei großen Schritten hatte James Potter die Zelle durchquert und war neben seinem Freund auf die Knie gefallen. Doch seine Erleichterung, dass Remus am Leben war, wurde rasch von tiefer Sorge verdrängt. James legte behutsam eine Hand auf dessen Schulter und rief ein weiteres Mal Remus' Namen.

Remus erstarrte, öffnete blinzelnd die Augen.

„Ja…James?", flüsterte er ungläubig.

„Ja, ich bin es. Wir sind hier, Remus. Du bist jetzt in Sicherheit. Es wird alles wieder gut werden."

Der Schatten eines Lächelns war das einzige Anzeichen dafür, dass Remus ihn verstanden hatte. Während James nach Sirius rief, der die benachbarten Zellen durchsuchte, verlor Remus abermals das Bewusstsein.

Kurz darauf kam Sirius hereingestürmt.

„Remus!", rief er.

„Er lebt, Sirius.", sagte James schnell, als er die Angst auf Sirius' Gesicht sah.

„Was haben sie ihm bloß angetan?", fragte Sirius mit erstickter Stimme.

„Diese verfluchten, verdammten…"

„Hilf ihm lieber.", unterbrach James ihn scharf und stand auf.

„Mir ist mein Zauberstab abhanden gekommen.", fügte er erklärend hinzu und fuhr sich mit einer Hand über die Stirn.

Sirius zog eine Augenbraue hoch, verzichtete jedoch darauf zu fragen, wie ihm das hatte passieren können. Stattdessen nickte er und beugte sich über Remus.

James begab sich derweil auf die Suche nach Poppy Pomfrey, der Heilerin des Ordens. Als er sie endlich gefunden hatte, musste er jedoch feststellen, dass sie und ihre Helfer alle Hände voll zu tun hatten. Nicht nur Remus war in einem bedauernswerten Zustand, die übrigen Gefangenen waren es auch, sodass James zurückkehrte, um Sirius zu sagen, dass es das Beste wäre, Remus nach St. Mungo zu bringen. Zwar war das Krankenhaus hart umkämpft worden, aber ebenso wie Hogwarts war es der Dunklen Seite in all den Jahren nicht gelungen es zu erobern.

Doch in Remus' Zelle fand er weder Remus noch Sirius vor. Sich denkend, dass Sirius wohl zu dem gleichen Schluss gekommen war wie er, ging James wieder hinaus. Da er wusste, dass Remus bei Sirius gut aufgehoben war, beschloss er in die Große Halle zu gehen, wo sich der Orden im Falle eines Sieges treffen sollte. Er würde ohnehin nicht mehr tun können als Sirius und außerdem machte er sich Sorgen um Harry.

Aber bevor er die Kerker verließ, musste er sich erst seinen Zauberstab zurückholen, wie ihm plötzlich einfiel. Zornig auf sich, dass er nicht eher daran gedacht hatte und vor allem darauf, dass er sich im Kampf wahrhaftig für eine Sekunde hatte ablenken lassen, lief er zurück zu den Heilern.

Sich von einer jungen Heilerin kurzerhand den Zauberstab ausborgend, zauberte er seinen Zauberstab herbei, dankte ihr und begab sich dann auf den Weg in die Große Halle. Ab und zu einen Blick auf seine Karte werfend, erreichte er die Halle schließlich, wo er auf einen großen Teil der abgekämpften Ordensmitglieder traf. Während er Alastor Moody beobachtete, der mit zwei anderen Zauberern ungefähr zwei Dutzend Todesser fesselte, erzählte ihm ein ehemaliger Auror und Kollege was geschehen war.

Dass sie es tatsächlich geschafft hatten die Dunkle Seite zu besiegen war zu schön um wahr zu sein. Doch darüber freuen konnte sich James noch nicht. Zuerst musste er Harry finden, musste wissen, wie es ihm ging. Allerdings konnte er Harry nirgendwo entdecken. Aber dafür erblickte er Arthurs Tochter, die mit ihrer Familie in der Mitte der Halle stand.

James verabschiedete sich von seinem Kollegen und eilte auf die Weasleys zu. Als er das rothaarige Mädchen fragte, ob es wisse, wo Harry war, wich die Freundlichkeit aus den Gesichtern ihrer Brüder.

„Ich bin mir nicht sicher, Mr. Potter, aber ich glaube, ich weiß wohin Harry gegangen ist. Im Park gibt es einen kleinen Garten, der einst seiner Mutter gehört hat. Er ist bestimmt dort. Kommen Sie, ich werde Ihnen den Weg zeigen."

„Ginny, wir…"

„Nein, Bill. Du wirst mich nicht aufhalten. Ich zeige Mr. Potter den Weg und wenn es das Letzte ist, was ich tue!", entgegnete Ginny wütend, drehte sich um und marschierte ohne ein weiteres Wort davon.

James folgte ihr verwirrt.

„Ginny, warte! Wir kommen mit. Es könnten sich noch Todesser im Park aufhalten.", rief Bill.

Ginny warf ihren Brüdern einen Seitenblick zu, sagte aber nichts.

Eskortiert von Bill und den Zwillingen traten sie eine Weile später hinaus in das warme Sonnenlicht.

James atmete tief ein und sah von den Bäumen hinauf zu den vereinzelten Wolken. Erstaunt stellte er fest, wie friedlich es hier im Park war. Einem Vogel zuschauend, der hoch über ihnen durch die Lüfte schwebte, kamen ihm unvermittelt Sirius' Worte in den Sinn.

Ja, Harry war sein Sohn. Und doch stellte sich bei ihm kein Gefühl der Liebe ein. Natürlich würde er seine Pflicht erfüllen. Harry würde bei ihnen in Godric's Hollow wohnen und er würde sich selbstredend um ihn kümmern. Aber würde er seinen Sohn jemals lieben können?

Nun, vielleicht hatte Sirius Recht und es würde seine Zeit brauchen bis sie einander kennenlernten, dachte James und fühlte sich ein wenig zuversichtlicher.

Es war Ginnys helle Stimme, die ihn aus seinen Gedanken aufschreckte und ihn merken ließ, dass sie und ihre Brüder stehengeblieben waren. Ginny hob eine Hand und deutete auf einen kleinen Torbogen.

„Wir sind da, Mr. Potter."

„Gehen Sie.", fügte sie leise hinzu, als er sich nicht rührte.

James nickte und setzte sich in Bewegung. Er schritt unter dem Torbogen hindurch und blieb abrupt stehen, als sein Blick auf die vielen dunkelroten Rosen fiel.

Lilys Garten!

Schmerz drohte ihn zu überwältigen, doch James zwang ihn nieder, rief sich ins Gedächtnis, weshalb er hierher gekommen war. Harry, er musste mit Harry sprechen und genau das würde er tun. Er richtete sich auf und ging den schmalen Weg entlang.

Harry kniete reglos neben einer großen Weide, die abseits der Rosen im hinteren Teil des Gartens wuchs.

Als James näherkam, wandte Harry den Kopf, sah ihn kurz an und schaute dann wieder auf das Gras.

„Harry…", fing James an und wusste nicht mehr weiter.

Während James noch nach Worten suchte, sagte Harry tonlos:

„Dieser Garten war ihr Lieblingsplatz. Deswegen haben die Hauselfen Mum hier begraben, hier unter dem Baum. Sie haben gut gewählt, nicht wahr?"

James blinzelte und sank neben Harry auf die Knie. Begreifend, was Harry da gerade gesagt hatte, bekamen dieser Ort, dieser Baum und selbst das weiche Gras, das sich langsam im Wind wiegte, eine unschätzbare Bedeutung für ihn. Er streckte einen Arm aus und berührte den rauen Stamm der Weide.

„Lily.", flüsterte er und spürte wie Tränen seine Wangen hinunterliefen. Und doch schien sich ein gewisser Friede seiner zu bemächtigen. Er hatte seine Lily wiedergefunden. Hierher, zu diesem Ort, würde er gehen können. Hier würde er mit Lily Zwiesprache halten können.

Als sich eine Hand federleicht auf seine Schulter legte, wurde ihm wieder bewusst, dass er nicht allein war. Er sah auf und erstarrte, als er in Harrys Gesicht blickte. Jetzt, da die Kälte aus ihnen gewichen war, waren es die smaragdgrünen Augen seiner Lily, die ihn traurig anschauten. Er suchte nach weiteren Ähnlichkeiten und erkannte schlagartig, dass Harry abgesehen von Lilys Augen wie eine jüngere Ausgabe seiner selbst aussah. Diesmal war es Harrys Namen, den er wisperte, bevor er seinen Sohn in die Arme schloss.

Er hatte Lily mehr als sein Leben geliebt, folglich musste er auch Harry lieben. Harry war ein Teil von ihr – von ihnen beiden, korrigierte er sich – und alles, was ihm von Lily geblieben war. Und als er dies erkannte, als er endlich verstand, was er die ganze vergangene Nacht nicht hatte verstehen wollen, durchströmte ihn ein bittersüßes Gefühl des Glücks.

Dankbarkeit erfüllte ihn und selbst wenn er wusste, dass er Lilys Verlust niemals verwinden würde, war seine Trauer doch erträglicher geworden. Lily lebte in Harry weiter und so würde er um Harrys Willen lernen Lilys Tod zu akzeptieren. Auch das Lachen würde er wieder erlernen und zusammen würden sie eines Tages wieder glücklich sein, irgendwann. Und als James' Tränen allmählich versiegten, fand er das Leben beinahe schön.

Harry indessen fühlte wie seine Anspannung nachließ. Im ersten Moment hatte er sich aus dem Griff seines Vaters befreien wollen, doch irgendetwas hatte ihn letztendlich davon abgehalten. Vielleicht war es der tiefe Schmerz gewesen, den er in James' Augen gesehen hatte, vielleicht die Erinnerung an seine Mutter. Oder vielleicht war es auch einfach ein Bedürfnis nach Nähe, nach Trost gewesen. Eine Suche nach dem verloren geglaubten Gefühl von Geborgenheit. Und so erwiderte Harry zögerlich die Umarmung seines Vaters.

Sein Blick richtete sich auf den Baumstamm und wanderte zu dem kleinen Astloch, verharrte dort. Ein wehmütiges Lächeln glitt über sein Gesicht. Als er ein Kind gewesen war, hatte seine Mutter dort manchmal Geschenke versteckt: Süßigkeiten, kleine Kuchen und gelegentlich ein Stofftier, was auch immer sie von den Hauselfen bekommen hatte. Wie viel sie den Hauselfen zu verdanken hatten!

Wann immer es den Hauselfen möglich gewesen war, hatten sie ihnen geholfen. Nur mit ihrer Hilfe war es ihm gelungen sich seit jenem verhängnisvollen Tag vor Voldemort zu verstecken, war er für alle unauffindbar gewesen. Der Dunkle Lord war natürlich nie auf den Gedanken gekommen, dass es die Hauselfen waren, die ihm halfen. Und die kleinen Wesen, die seine Mutter vergöttert hatten, hatten noch mehr getan. All die Jahre hatten sie die Existenz des Rosengartens geheim gehalten und hatten dafür gesorgt, dass der Garten nicht verwilderte.

Unwillkürlich streckte Harry einen Arm aus und fasste in das Astloch hinein. Als seine Finger sich wider Erwarten um einen harten Gegenstand schlossen, zuckte er zusammen.

James ließ ihn los und sah ihn fragend an. Harry jedoch schaute auf das kleine, lederne Buch, welches er in der Hand hielt. Er hatte es nie zuvor gesehen. Nach James' Gesichtsausdruck zu urteilen, sein Vater dagegen schon.

Er wollte das Büchlein gerade aufschlagen, als ein leises Geräusch erklang.

Es war Ginny, die sich ihnen geschwind näherte.


Der Krieg war vorüber. Nach dreiundzwanzig Jahren war die Dunkle Seite endlich geschlagen. Albus Dumbledore wusste, dass es sich in der Tat so verhielt, aber dennoch fiel es ihm schwer es zu glauben. Und doch war es wahr.

Soeben hatte Alastor ihm mitgeteilt, dass sie die übrigen Quartiere Voldemorts, die sich über ganz Großbritannien verteilten, ebenfalls eingenommen hatten. Da die Kamine von Voldemorts diversen Verstecken miteinander vernetzt gewesen waren, war es ein Leichtes für sie gewesen auch dort hineinzukommen, sobald sie das Schloss des Todes erobert hatten.

Mit einem Lächeln hörte Albus den Jubelrufen einiger junger Ordensmitglieder zu. Ja, sie hatten gesiegt. Jetzt würde endlich wieder Friede herrschen.

„Einige dieser Hohlköpfe reden davon den jungen Potter zu verhaften.", knurrte eine Stimme hinter ihm und Albus wandte sich um.

Severus wies mit dem Kopf auf eine kleine Gruppe von Zauberern und Hexen, die eng beieinander standen und sich aufgeregt etwas zuflüsterten und fügte hinzu:

„Ich dachte, du solltest es wissen. Allerdings werden sie es wohl nicht wagen."

Albus nickte versonnen. Er sah Schwierigkeiten voraus. Auch Alastor hatte ihm zu verstehen gegeben, dass er es für unabdingbar hielt Harry Potter zu verhaften und an einen Ort zu bringen, wo der junge Zauberer keinen Schaden anrichten konnte. Nur auf diese Weise konnte verhindert werden, dass sich bald ein zweiter Dunkler Lord erheben würde, hatte Alastor gemeint. Albus hatte ihm widersprochen, aber ihm war durchaus bewusst, dass er seinen alten Freund nicht hatte überzeugen können.

Sicher, er hatte ebenfalls gesehen, welche verheerende Wirkung Harrys schwarze Magie gehabt hatte und dass dieser erst sechzehnjährige Zauberer zu solcher Gewalt fähig war, hatte ihn erschüttert. Andererseits hatten sie es bloß Harry zu verdanken, dass sie die Dunkle Seite besiegt hatten. Harry hatte den Dunklen Lord getötet, Harry hatte ihnen sämtliche wichtige Informationen verraten. Er hatte sie weder hintergangen noch ihr Vertrauen enttäuscht, sondern hatte sein Wort gehalten. Ohne ihn würden sie sich immer noch im Krieg befinden. Und nun sollten sie ihn verhaften?

Außerdem konnten sie nicht die Tatsache außer Acht lassen, dass Harry auf der Dunklen Seite aufgewachsen war. Ihn deswegen als einen Schwarzen Zauberer zu verdammen, der beabsichtigte Voldemorts Platz einzunehmen, wäre reichlich ungerecht.

Nein, das konnte und würde er nicht zulassen. Er würde sich niemals verzeihen, wenn er nicht alles in seinen Kräften stehende tun würde um eine Verhaftung Harrys zu verhindern. Und vielleicht könnte er damit auch einen Teil seiner Schuld bezahlen. Eine Art Wiedergutmachung, dafür, dass er damals James keinen Glauben geschenkt hatte und Lily einfach ihrem Schicksal überlassen hatte, ohne einen Versuch zu unternehmen herauszufinden, was wirklich geschehen war.

Nun, irgendetwas würde ihm schon einfallen. Während Albus noch über eine Strategie nachgrübelte, fiel sein Blick auf Harry und James, die mit Ginny und drei anderen Weasleys im Schlepptau, gerade in die Halle kamen.

Ja, Harry und James verdienten es glücklich zu werden, dachte er und schritt ihnen entgegen.

Severus Snape, der Albus beobachtet hatte, sah dem Anführer des Phönixordens mit einem wissenden Lächeln nach, drehte sich dann um und ließ seine Augen durch die Halle wandern.

Als sie auf Narcissa Malfoy zu ruhen kamen, die weinend und gefesselt auf dem Steinboden kauerte, ging er zu ihr hinüber, kniete vor ihr nieder und rief leise ihren Namen.


Als sich die kleine Anne in die Arme ihrer Eltern stürzte, lächelte Ginny, glücklich, dass sie ihr Versprechen hatte halten können. Und auch Katie und Cho liefen auf ihre Eltern zu.

Ginny sah ihnen zu und bemerkte daher erst eine Weile später, dass Harry nicht mehr neben ihr stand. Sie schaute sich um und entdeckte ihn schließlich neben seinem Vater, der sich gerade mit Dumbledore unterhielt.

Aber bevor sie zu ihm hätte gehen können, erklang die fröhliche Stimme ihrer Mutter.

„Ich denke, wir können jetzt nach Hause zurückkehren.", sagte Molly und sah ihre Familie mit strahlenden Augen an.

Ginny wollte sich noch von Harry verabschieden, doch ihre Eltern und Brüder ließen ihr keine Gelegenheit mehr dazu und schienen es plötzlich sehr eilig zu haben. Es gelang ihr nur noch einen letzten Blick auf Harry zu werfen, der nicht einmal in ihre Richtung schaute. Dann ergriff Bill ihren Arm und apparierte mit ihr davon.

Einen Moment später fand sich Ginny in Hogsmeade wieder. Nachdem ihre Eltern und übrigen Brüder ebenfalls eingetroffen waren, gingen sie hinauf zum Schloss und Ginny erfuhr von den Zwillingen, dass ihre Familie aus Sicherheitsgründen die vergangene Nacht in Hogwarts verbracht hatte.

„Und Hermione ist ebenfalls dort.", sagte Fred.

„Hermione?", fragte Ginny und sah ihren Bruder überrascht an.

„Ja. Offenbar hat sie es ohne Ron nicht ausgehalten.", erwiderte er mit einem Augenzwinkern und Ginny musste lächeln, obwohl sie ahnte, dass dies nicht der alleinige Grund war.

Als sie das provisorische Quartier der Weasleys erreichten, stürmte Ron auf Ginny zu und begrüßte sie überschwänglich. Ginny lachte und klammerte sich ihrerseits an ihren jüngsten Bruder. Kaum hatte Ron sie losgelassen, wurde sie von Hermione umarmt.

Ron sah sie indessen ungeduldig an.

„Erzählt schon!"

Dadurch, dass die Weasleys Hermione und Ron berichteten, was sich im ehemaligen Hauptquartier des Dunklen Lords abgespielt hatte, dauerte das Packen etwas länger, aber endlich waren alle Sachen verstaut und die Weasleys und Hermione konnten Hogwarts verlassen und in den Fuchsbau zurückkehren.

Nicht einmal eine halbe Stunde später tischte Molly Weasley ihrer Familie ein kleines Festmahl auf. Charlie war der erste, der sich von dem unerwarteten Anblick erholte.

„Mensch, Mum, wie hast du denn das zustande gebracht?"

Molly lächelte.

„Als mir einfiel, dass wir nichts im Haus haben, habe ich die Hauselfen in Hogwarts gefragt, ob sie uns nicht etwas mitgeben könnten. Wie ihr seht, waren sie mehr als großzügig. Ich dachte mir, ihr würdet hungrig sein. Zum Frühstück habt ihr ja fast nichts gegessen."

„Hungrig? Wir sind ausgehungert.", sagten die Zwillinge und grinsten.

Die nächsten Minuten vergingen schweigend. Erst als die Weasleys ihren ersten Hunger gestillt hatten, kam langsam ein Gespräch auf.

Bald war Molly dabei all die Dinge aufzuzählen, die sie diesen Sommer tun würden und auch die übrigen Familienmitglieder begannen eifrig Pläne zu schmieden.

Während ihre Familie und selbst Hermione offensichtlich bester Laune waren, fühlte sich Ginny irgendwie reichlich fehl am Platz. Sie wusste, dass es absurd war, wusste, dass sie keinen Anlass dazu hatte. Sie war wieder zu Hause, der Krieg war vorüber. Ihre Familie hatte überlebt, niemand von ihnen war heute verletzt worden. Und auch sie war dank Harrys Zauber lediglich mit ein paar blauen Flecken davongekommen. Sogar Remus Lupin und Nymphadora Tonks waren rechtzeitig gerettet worden.

Sie sollte vor Glück überschäumen, dass sie gewonnen hatten, dass ihre Eltern und Brüder nicht mehr täglich ihr Leben aufs Spiel setzen würden müssen. Doch sie tat es nicht.

Nachdenklich nippte sie an ihrem Kürbissaft. Es war nicht so, dass sie sich nicht freute und erleichtert war, aber nach Feiern war ihr trotzdem nicht zumute. Wie seltsam es war, dass keiner den heutigen Kampf erwähnte. Sie benahmen sich so, als hätte es den Krieg nie gegeben, als wären die letzten Tage nie geschehen.

Dabei hatte auch der heutige Tag Opfer gefordert. Ginny wusste, dass die Verluste des Phönixordens gering waren, aber das war kein Grund die Zauberer und Hexen, die heute ihr Leben verloren hatten, einfach zu vergessen.

Plötzlich hielt es Ginny nicht mehr aus. Sie stellte ihr Glas auf den Tisch, sagte, dass sie müde wäre und sich ein Weilchen hinlegen würde und nachdem sie ihren Eltern einen Kuss gegeben hatte, eilte sie die enge Treppe hinauf. Ihr Zimmer kam ihr fremd vor. Verwundert lehnte sie sich gegen die Tür.

Zwar war es Monate her seit sie zum letzten Mal hier gewesen war, aber nie zuvor hatte sie dieses Gefühl verspürt, wenn sie nach längerer Abwesenheit nach Hause gekommen war. Vielleicht war in der letzten Woche einfach zu viel geschehen, dachte sie und konnte es nicht fassen, dass sie vor wenigen Tagen noch im Hogwarts Zug gesessen hatte. Die Zeit davor schien nicht mehr zu ihr zu gehören, als hätte sie diese Jahre unwiderruflich hinter sich gelassen.

Sie trat zum Fenster und öffnete es. Als ihr Blick auf den grünseidenen Ärmel der Robe fiel, die Harry ihr gegeben hatte, wurde ihr jäh bewusst, weshalb sie so ruhelos war. Sie machte sich Sorgen um Harry. Immer noch sah sie den unbarmherzigen Ausdruck in seinen Augen, als er gekämpft hatte, spürte noch sein glühendheißes Gesicht, das sich an ihres presste.

Und sie wusste weder wo er sich zum gegenwärtigen Zeitpunkt befand, noch was sich zwischen ihm und Voldemort zugetragen hatte. Auch was in Lily Potters Rosengarten geschehen war, wusste sie nicht.

Nachdem Bill sie in den Rosengarten geschickt hatte, um Harry und James Potter zu holen, waren sie schweigend zum Schloss zurückgekehrt und waren dann zu Harrys Gemächern gegangen. Bill und die Zwillinge hatten darauf bestanden mitzukommen und in Gegenwart ihrer Brüder hatte sie Harry natürlich keine Fragen stellen wollen.

Und auf dem Rückweg hatte Ginny alle Hände voll zu tun gehabt ihren Vater abzulenken, der offensichtlich mehr als zornig auf Harry gewesen war, dass er ihn verzaubert und es gewagt hatte seine Tochter in den Kampf mitzunehmen. Einzig und allein die Tatsache, dass ihr nichts passiert war, hatte ihn wohl davon abgehalten etwas Drastisches zu tun.

Als Ginny daran dachte und sich erinnerte, wie ihre Familie sie regelrecht daran gehindert hatte sich von Harry zu verabschieden, runzelte sie die Stirn. Fast kam es ihr vor, als hätte ihre Familie es mit Absicht getan. Bills Bemerkung, als er sie während des Kampfes von Harry fortgezerrt hatte, kamen ihr in den Sinn und mit einem Mal war sie sich sicher, dass Bill mit seinen Worten Harry gemeint hatte.

Mit einem Seufzer setzte sie sich auf ihr Bett. Gähnend rollte sie sich auf ihrer bunten Decke zusammen, verblüfft, dass sie wirklich müde war. Der vergangenen Nacht die Schuld an ihrer Erschöpfung gebend, schloss sie die Augen.

Doch anstatt einzuschlafen, dachte sie an Harry. Wann sie ihn wohl wiedersehen würde?

Er würde bestimmt nicht im Schloss des Todes bleiben, sondern höchstwahrscheinlich zu seinem Vater ziehen. Hoffentlich würden Harry und James sich gut verstehen. Sie wünschte sich von Herzen, dass Harry in Godric's Hollow ein Zuhause finden würde.

Ob Harry sie besuchen würde oder ihr einen Brief schreiben würde? Sich erinnernd, wie Harry in der Großen Halle einfach von ihrer Seite gewichen war, überfielen sie Zweifel.

Sie öffnete die Augen und kuschelte sich eng in ihre Decke. Unvermittelt war ihr kalt geworden.

Was, wenn Harry sie gar nicht liebte? Wenn er in ihr nur das Mittel zum Zweck gesehen hatte? Wenn er sie nur dazu gebraucht hatte den Orden von seinen Absichten zu überzeugen?

Aber nein, das waren törichte Gedanken. Wütend auf sich selbst, rückte sie ihr Kissen zurecht und nahm sich vor Harry morgen einen Brief zu schreiben.

Jetzt wollte sie nicht mehr denken, sie war zu müde dazu. Außerdem tat ihr der Kopf weh. Ihre Gedanken jedoch waren eigenwillig und irrten zurück zu Harry.

Ich liebe dich, Harry, dachte sie, bevor sie endlich in den Schlaf hinüberglitt.


Es dämmerte bereits, als Harry im Garten von Godric's Hollow stand und das kleine Haus betrachtete, das fortan sein Zuhause sein würde. Dass seine Mutter einst hier gelebt hatte, war ein tröstlicher Gedanke und bestärkte ihn in dem Glauben die richtige Entscheidung getroffen zu haben. Hätte er Zeit gehabt über seine Zukunft nachzudenken, wäre er sicherlich nicht überrascht gewesen, als sein Vater ihm gesagt hatte, er würde selbstverständlich in Godric's Hollow wohnen.

So aber hatten ihn James' Worte vollkommen unvorbereitet getroffen und folglich hatte er auch nicht gewusst, wie er reagieren sollte. Sein Vater hatte sein Schweigen natürlich als Einverständnis aufgefasst.

Doch hatte er überhaupt eine Wahl gehabt? Wohin hätte er sonst gehen sollen? Und im Schloss hatte er auf keinen Fall bleiben wollen.

Mit einem unmerklichen Seufzer wandte Harry sich ab und schlenderte auf die Bank zu. Nun, er würde abwarten, wie sich die Dinge entwickeln würden. Godric's Hollow war schließlich kein Gefängnis. Er würde es jederzeit verlassen können. Aber einen Versuch war es wert und so würde er vorläufig bleiben.

Harry setzte sich auf die Bank und sah auf die prachtvollen roten Rosen. Nachdenklich schaute er sie an. Endlich hatte er den Tod seiner Mutter gerächt und doch verspürte er immer noch keinen Triumph, keine Genugtuung. Stattdessen drängten lang vergessene Erinnerungen an die Oberfläche. Er entsann sich, wie er sich gefreut hatte, als der Dunkle Lord ihm seinen ersten Zauberstab geschenkt hatte, erinnerte sich, wie begierig er die Zaubersprüche gelernt hatte, die Lucius Malfoy ihm beigebracht hatte und wie stolz er gewesen war als er einen Zauberspruch vorgeführt hatte und Bella laut geklatscht hatte. Und nun waren sie tot. Er hatte sie getötet.

Jäh sprang Harry auf, schritt durch den Garten und fuhr sich mit einer Hand zornig über seine Stirn. Er wollte sich nicht erinnern, wollte nicht an seine Kindheit zurückdenken.

Unwillkürlich sehnte er sich nach Ginny, wünschte sich sie in seinen Armen zu halten. Ach, wenn sie jetzt nur bei ihm wäre.

Wie sehr hatte sie ihm doch geholfen und er hatte ihr nicht einmal gedankt, noch hatte er sich von ihr verabschieden können. Als er erkannt hatte, dass Ginny und ihre Familie das Schloss verlassen hatten, war es zu spät gewesen. Harry schaute hinauf zur untergehenden Sonne, flüsterte ihren Namen und blieb wie angewurzelt stehen. Dass er sie liebte, hatte er ihr ebenfalls nicht gesagt.

Ja, er liebte sie und war darüber so verwundert wie er es heute Morgen gewesen war, als sie ihm ihre Liebe gestanden hatte und er schlagartig begriffen hatte, dass auch er sie liebte.

Wärme erfüllte ihn und er lächelte. Allein der Gedanke an sie vertrieb die Kälte, die Erinnerungen. Sie würde ihn nicht verraten, dachte er, ging auf die Bank zu und setzte sich wieder. So bald wie möglich würde er Ginny besuchen. Sein Vater wusste bestimmt, wo sie wohnte.

Und was auch immer die Zukunft bringen mochte, ein Kapitel seines Lebens war abgeschlossen. Den Erben des Dunklen Lords gab es nicht mehr. Nie wieder würde er schwarze Magie anwenden. Daran denkend, wie sehr er sich während des Kampfes in seiner Magie verloren hatte, erschauderte er. Immer noch war er zutiefst erschrocken, wie sehr ihm die Kontrolle über seine Magie entglitten war. Nie zuvor war ihm annähernd Ähnliches widerfahren.

Wenn die Vase nicht zerbrochen wäre, wenn Ginny nicht plötzlich vor ihm gestanden und seinen Namen gerufen hätte, wollte er sich nicht ausmalen, was dann passiert wäre.

Nein, ermahnte er sich streng, darüber würde er nicht nachdenken. Es war vorbei. Und es würde nie wieder geschehen.

Harry lehnte sich zurück und richtete seine Aufmerksamkeit auf den Sonnenuntergang. Als er ein wenig nach rechts rutschte um bessere Sicht zu haben, streifte sein Arm den Gegenstand in seiner Tasche und er erinnerte sich an das kleine Buch, das er im Rosengarten seiner Mutter gefunden hatte. Er holte es heraus und betrachtete es.

Neugierig schlug er es auf. Auf der ersten Seite stand in verblichener Schrift ein Name:

Patricia Avenquay

Sich vornehmend nachher seinen Vater zu fragen, wer sie gewesen war, blätterte er weiter. Das Buch enthielt Zaubersprüche, wie er bemerkte. Er war ungefähr in der Mitte angelangt, als sein Blick auf eine getrocknete Rose fiel, die zwischen zwei Seiten lag und er erstarrte. Er hob sie hoch und sah auf die schwarzen Zeilen hinab.

Kurz darauf legte er die zerbrechliche Rose behutsam zurück. Wie betäubt starrte er sie an.

„Harry?"

Harry blickte erst auf, als sein Vater seinen Namen ein zweites Mal sagte. James setzte sich neben ihn und deutete auf das kleine Buch.

„Es gehörte meiner Mutter. Ihre Familie stammte von Salazar Slytherin ab, jedenfalls wurde das behauptet. Meine Mutter jedoch lachte immer nur darüber. Sie hat nie geglaubt, dass das Buch einst Slytherin gehörte, obwohl auf dem Einband eine Schlange abgebildet ist. Aber ich denke schon, dass die Gerüchte wahr sind. Nach meiner Heirat, schenkte sie Lily das Buch."

Als Harry nichts erwiderte und lediglich auf seine Hände schaute, sah James seinen Sohn forschend an.

„Was ist los, Harry?"

Harry zögerte, doch dann reichte er James wortlos das aufgeschlagene Büchlein.

James nahm es und fing an zu lesen. Als er begriff, was dort stand und die Bedeutung der Worte erfasste, schloss er schmerzerfüllt die Augen, umklammerte das Buch so fest, dass es wehtat. Jetzt wusste er, warum Harry Voldemorts Todesfluch überlebt hatte. Lily hatte mit dem Zauberspruch, den er gerade gelesen hatte, Harrys Leben gerettet und im Gegenzug ihr eigenes gegeben.

Erst als er Harrys brüchige Stimme hörte, öffnete er seine Augen wieder.

„Ich habe sie getötet. Es war nicht Voldemort, sondern ich. Ich war es und ich habe ihn dafür umgebracht!"

Harry fing an zu lachen und James überlegte nicht lange. Er ergriff Harrys Schultern und drehte ihn zu sich herum.

„Harry! Ich liebte Lily mehr als mein Leben und sie war meine Frau. Ich kannte sie, wie du sie nie gekannt hast. Also wirst du mir jetzt gut zuhören: Seit dieser unselige Krieg begonnen hat, kämpfte Lily für den Frieden. Sie trat dem Phönixorden bei und tat alles in ihrer Macht stehende, um Voldemort und seine Anhänger zu vernichten. Ungeachtet jeglicher Gefahr, hätte sie lieber ihr Leben riskiert als tatenlos zu Hause zu sitzen, während ringsherum die Welt in die Brüche ging. Lily war eine mutige, willensstarke Frau, Harry, die um jeden Preis verhindern wollte, dass du ein Schwarzer Zauberer wirst und Voldemort nachfolgst.

Und glaube mir, davon hätte sie nichts abgehalten."

James hielt inne und sah Harry eindringlich an.

„Es ist nicht deine Schuld, Harry. Wenn du dich nicht dazwischen geworfen hättest, hätte Voldemort sie ohnehin getötet. Ich weiß, wie es ist von Schuldgefühlen erdrückt zu werden. Lily war meine Frau. Anstatt aufzugeben, hätte ich versuchen sollen Voldemorts Hauptquartier anzugreifen, ich hätte verdammt noch einmal einen Weg finden müssen um sie und dich zu befreien. Ich habe es jedoch nicht. Und so sehr es mich auch schmerzt das zu sagen, aber vielleicht sollte alles genauso geschehen, wie es letztendlich geschehen ist. Wer weiß, hätten wir tatsächlich versucht das Schloss früher anzugreifen, wären wir vielleicht alle umgekommen.

Wie dem auch sei, eines ist gewiss: Lily hätte nicht gewollt, dass wir beide in Selbstvorwürfen versinken. Sie hätte gewollt, dass wir glücklich sind, Harry. Und sie selbst war es ebenfalls. Als sie erkannte, dass ihr Zauberspruch gewirkt hat und du überlebt hast, da strahlte sie vor Glück. Sie war glücklich, Harry. Du hast sie glücklich gemacht. Vergiss das nie."

Harry schaute ihn an und nickte schließlich. Und als James seinen Sohn zu sich heran zog und Harry müde den Kopf auf seine Schulter legte, da wusste James, dass er seinen Sohn eines Tages lieben würde.