Kapitel 10:

Georgiana stand, sobald Darcy und Lizzie das Zimmer betraten, von ihrem Platz am Klavier auf. Sie hatte von Miss Bennets Unfall gehört und wollte sich nun persönlich davon überzeugen, dass es ihrem Gast gut ging.

„Wie sind Sie eigentlich nach Pemberley gekommen, Miss Bennet? Ihr Vater sagte, Sie würden uns nicht mehr besuchen", wollte sie schließlich neugierig wissen, nachdem sie zuerst Miss Bennet begrüßt und sich nach ihrem Fuß erkundigt hatte. Lizzie erblasste bei dieser Frage so deutlich, dass Georgiana ihre Worte sofort wieder bereute. „Miss Bennet, es tut mir leid, wenn ich Ihnen mit meiner Frage zu nahe getreten bin. Bitte glauben Sie mir, das wollte ich nicht", entschuldigte sie sich hastig. „Es ist schon okay, Miss Darcy", entgegnete Elisabeth immer noch sehr bleich und mit leicht unsicherer Stimme. Mr. Darcy, der Lizzies ungewöhnliches Verhalten auch wahrgenommen und sie gegen weitere neugierige Fragen seiner Schwester abschirmen wollte, bat Georgiana ihnen etwas vorzuspielen und führte Lizzie behutsam zu einem Sofa, um gegenüber von ihr auf einem Sessel Platz zu nehmen. Georgiana, die sich für ihren Fauxpas schämte, ließ den beiden die offensichtlich gewünschte Privatsphäre und spielte, wie es ihr Bruder ihr befohlen hatte, ein Musikstück zur Unterhaltung ohne aber davon abgehalten zu werden, ab und zu von jugendlicher Neugier getrieben zu den beiden hinüber zu lugen.

Sobald er glaubte, dass Lizzie sich wieder etwas beruhigt hatte, ergriff Darcy sanft die Hand seiner Verlobten und erkundigte sich einfühlsam: „Wieso hat dich Georgianas Frage so aus der Ruhe gebracht, Elisabeth? Bist du gegen den Willen deines Vaters hierher gereist und fürchtest jetzt seine Missbilligung?"

„Was denkst du denn?", entgegnete Lizzie zynisch, „denkst du wirklich mein Vater hätte mich zu dir reisen lassen? Wenn du das denkst, dann muss ich dich enttäuschen. Ich bin gegen den Willen meines Vaters hier, gegen den Willen meiner ganzen Familie. Ich habe etwas Schlimmes getan." Bei diesen Worten brach sie in Tränen aus.

Darcy drückte mitfühlend ihre Hand: „Was ist es, Lizzie? Sag mir, was los ist. Wir finden gewiss eine Lösung." Er machte sich große Sorgen um seine Verlobte und wollte einfach wissen, was sie so belastete. Was konnte ihr nur so zusetzen? War ihrer Familie etwas passiert? Die schlimmsten Szenarien gingen ihm durch den Kopf.

Schließlich antwortete Lizzie auf seine Frage und bereitete seiner quälenden Ungewissheit ein Ende: „Ich habe meine Familie ohne eine Erklärung verlassen, bin von Zuhause weggelaufen und hierher gekommen. Ich habe meine Ehre geopfert und meinen guten Ruf und den meiner Familie ruiniert. Ich bin nicht besser als Lydia und dabei müsste ich es zumindest besser wissen. Ich habe alles falsch gemacht." Erneut brach Lizzie in Tränen aus. Darcy betrachtete sie verwundert. Das also war es, was sie belastete. Im ersten Moment war er erleichtert, dass es nichts Gravierenderes war. Dann aber dachte er daran, wie Lizzies Benehmen in Meryton aufgenommen werden würde und dass es gewiss nicht verborgen bleiben konnte, vor allem weil für ihre Mutter Diskretion ein Fremdwort war. Was konnte man nur machen, um Lizzies Tugend wiederherzustellen? Wie konnte man Lizzies Verschwinden so erklären, dass ihr Ruf keinen Schaden nahm?

Während er über solche und ähnliche Fragen intensivst nachdachte, zog er unbeabsichtigt seine Hand zurück, um sich damit nachdenklich durch das Haar zu streichen. Lizzie bemerkte im Gegensatz zu ihm sofort diese Geste und zog daraus entsprechende Schlüsse. Leise und mit zittriger Stimme bat sie ihn: „Mr. Darcy, ich verstehe durchaus, dass dieser Umstand alles ändern muss. Sie können schließlich nicht…", sie hielt einen Augenblick inne, um dann mit festere Stimme fortzufahren: „Mr. Darcy, dürfte ich Sie nur darum bitten, mich nach Lambton zur Poststation zu bringen, damit ich zurück nach Hertfordshire reisen kann?"

Diese Bitte riss Darcy aus seinen Gedanken und er meinte verwirrt: „Elisabeth, natürlich musst du nach Hertfordshire zurück, aber du kannst doch nicht wieder alleine mit der Postkutsche reise. Das ist viel zu gefährlich."

„Was kümmert dich das?", fragte Lizzie schnippisch, „dir kann es doch egal sein, was aus mir wird." Darcy erwiderte leicht verärgert und so laut, dass seine Schwester überrascht hochblickte: „Es geht mich ja wohl etwas an, wenn meine Verlobte völlig unbeschützt durch halb England reist. Glaube mir, ich werde es nicht zulassen, dass du mit der Postkutsche zurückreist."

Lizzie blickte Mr. Darcy verwundert an. War es etwa möglich, dass er sich trotz ihres dummen und unschicklichen Verhaltens noch etwas aus ihr machte? „Ich bin also noch deine Verlobte, Fitzwilliam?", erkundigte sie sich, während sie ihn eindringlich ansah. „Aber natürlich", antwortete Darcy ihr, leicht verdutzt über eine derartige Frage, „wieso solltest du nicht mehr meine Verlobte sein?"

„Ich weiß nicht", entgegnete Lizzie unsicher, „ich meine, bei meinem Verhalten würde ich es verstehen, wenn du nichts mehr mit mir zu tun haben wolltest."

„Aber wieso das denn?", fragte Darcy überrascht, „Kennst du mich immer noch so schlecht, dass du glaubst, dass mir mein Ansehen oder das Ansehen meiner Familie wichtiger ist als du?" Er ergriff ihre Hand und versicherte ihr mit leisem und zärtlichem Ton: „Lizzie, ich bin dir nicht böse oder irgendwie empört. Ich fühle mich eher geschmeichelt, dass du alle Tugend und Schicklichkeit über Bord geworfen hast, um zu mir zu kommen. Ich werde dich in dieser Situation sicher nicht im Stich lassen. Ich habe nur darüber nachgedacht, wie man deinen guten Ruf am schnellsten wiederherstellen kann. Ich weiß nicht, ob wir am besten einfach sofort heiraten oder ob man den Grund deiner plötzlichen Reise mit etwas anderem kaschieren sollte. Bitte Lizzie, sag mir, was du für das Beste hältst?"

Lizzie blickte Darcy verwundert an, sie hatte nicht gedacht, dass sie ihm so wichtig war. Wie hatte sie nur so an ihm zweifeln können? Anscheinend war er nicht der Einzige, der ab und zu Zweifel an der Liebe des anderen hatte. Lizzie dachte darüber nach, wie unsicher sie beide noch im Umgang mit dem anderen waren und ständig befürchteten etwas getan zu haben, was die Entscheidung des anderen ändern könnte.

Aber sie kam nicht weit mit ihren Überlegungen, denn Darcy unterbrach ihre Gedanken: „Wieso genau bist du eigentlich so überstürzt hergekommen? Du hättest doch auch eine andere Möglichkeit abwarten können, mich zu sehen? Oder hattest du Angst meine Liebe für dich könnte bis zu unserem nächsten Treffen verschwunden sein?"

„Nein, das war nicht der Grund", erwiderte Lizzie und platzte dann damit heraus: „Ich hatte Angst, du tust dir etwas an." Darcys Kinnlade klappte vor Erstaunen nach unten. „Das hast du tatsächlich gedacht?", erkundigte er sich bestürzt. „Ja", entgegnete Lizzie, „ich weiß, das war dumm von mir, aber mein Vater machte so eine blöde Bemerkung und dann hatte ich plötzlich so große Angst um dich, dass ich nicht anders konnte als zu dir zu reisen."

„Oh, Lizzie, das war vielleicht etwas übereilt, aber ich liebe dich dafür umso mehr. Du weißt nicht, was deine Sorge um mich mir bedeutet", war Darcys Antwort darauf. Er war sehr bewegt von der Angst, die seine Verlobte um ihn gehabt hatte, und hätte sie am liebsten in diesem Augenblick geküsst. Er hätte es auch fast getan – er hatte sich sogar schon zu ihr herunter gebeugt -, aber dann fiel ihm wieder ein, dass seine Schwester auch ihm Zimmer und so zog er sich zurück und begnügte sich damit Lizzies Hand zu drücken. Er schwor sich aber, sie noch vor ihrer Rückreise nach Longbourn zu küssen.

Lizzie bemerkte dennoch seine ursprüngliche Intention und konnte nicht anders als zu schmunzeln. „Was ist so lustig, Elisabeth?", wollte ihr Verlobter von ihr wissen. „Nichts", entgegnete sie mit einem geheimnisvollen Lächeln. Doch Darcy hatte sie schon verstanden und hob ihre Hand an und küsste ihre Innen- und Außenfläche. Lizzie, die damit nicht gerechnet hatte, errötete und schaute schnell weg. Sie war verlegen, dass sie schon diese Geste so durcheinander brachte. Es war alles so verwirrend: Sie war einerseits völlig verunsichert und wollte andererseits das wohlige Gefühl in ihrem Magen, das Fitzwilliams Berührung bei ihr ausgelöst hatte, festhalten.

Um von ihrer Unsicherheit abzulenken, fragte sie schnell: „Zu welchem Ergebnis bist du nun eigentlich gekommen?" „Worin?", fragte dieser zurück. „Wie man meinen guten Ruf am besten wiederherstellen kann", entgegnete Lizzie. „Achso", antwortete Fitzwilliam, „ich denke, es wäre am sinnvollsten, wenn wir gemeinsam nach Hertfordshire reisen, deinen Eltern die ganze Situation erklären und schnellstmöglich heiraten. Aber was denkst du dazu?"

„Ich denke nicht, dass es sinnvoll wäre, gemeinsam nach Hertfordshire zu reisen. Mein Vater wird sich schrecklich aufregen, wenn er dich sieht. Und ich halte es auch nicht für gut, wenn ganz Meryton über den Grund meiner Reise Bescheid weiß. Ich finde, ich sollte allein zurückreisen und du kommst dann später nach", war Lizzies Meinung zu diesem Thema. Doch Darcy konnte nicht anders als ihr zu widersprechen: „ Lizzie, du hast natürlich Recht damit, dass es nicht ideal wäre, wenn unsere Heirat unter einem solchen Vorzeichen stattfände, aber es widerstrebt mir, dich allein der Merytoner Gesellschaft auszuliefern. Du wirst eventuell geschnitten werden, dich Leute werden hinter deinem Rücken über dich reden. Ich will nicht, dass du das allein ertragen musst. Wenn du mit mir verlobt wärst, würden sich die Leute nicht trauen dich offen zu schneiden, da ich einflussreich und vermögend bin. Außerdem hänge ich in der ganzen Sache mit drin und könnte es nicht ertragen, wenn du die ganze Schande auf dich nehmen würdest. Und dann bedenke, dass du verletzt bist, du könntest allein körperlich eine so lange Reise unternehmen. Ich werde dich nicht im Stich lassen, Lizzie, egal, was du sagst."

Lizzie protestierte: „Fitzwilliam, ich war diejenige, die anstößig gehandelt hat, du hast dafür keine Verantwortung. Und ich werde nicht zulassen, dass du und deine Familie mit meinem Fehlverhalten in Verbindung gebracht werden. Ich werde alleine zurückreisen und möchte dich auch erst dann heiraten, wenn Gras über die ganze Sache gewachsen ist. Ich könnte es nicht ertragen, wenn deine Schwester gemieden wird wegen des ungeziemenden Verhaltens ihrer Schwägerin. Nein, das können wir Georgiana nicht antun."

Fitzwilliam verstand die Ängste seiner Verlobten, doch er wankte nicht in seiner Entscheidung, sie zu begleiten: „Lizzie, ich verstehe deine Besorgnis, aber es gibt keinen Grund dafür. Wenn du erst zurück in Longbourn bist und unsere Verlobung bekannt gegeben wird, wird dein kleiner Ausrutscher schon wieder halb vergessen sein. Die Leute werden etwas reden, aber es nicht wagen uns unhöflich oder grob zu behandeln. Und um Georgiana brauchst du dir erst recht keine Sorgen zu machen: In der besseren Londoner Gesellschaft wird man von deinem Verhalten nie auch nur Kenntnis erhalten und du und Georgiana werden immer mit dem Anstand behandelt werden, der euch zusteht.

Aber wenn du jetzt alleine und unverheiratet zurückreist, wird es unweigerlich zu bösen Gerüchten kommen. Die Leute werden dir die kalte Schulter zeigen, dich schneiden und auf dich herabschauen. Wieso willst du dir das antun, wenn es keinen Grund dafür gibt? Und wir würden doch in jedem Fall heiraten, also wieso willst du es dir noch schwerer machen?"

Lizzie setzte an, um ihm etwas zu entgegenhalten, aber sie hatte die Entschiedenheit in seinen Augen bemerkt und wusste, dass es sinnlos war, mit ihm weiter darüber zu streiten. Sie schaffte es allerdings ihm auszureden, gemeinsam in Meryton aufzutauchen. Zwar würde er sie auf ihrer Reise begleiten, das ließ er sich angesichts ihrer Verletzung nicht nehmen, aber er würde sie, sobald sie in die Nähe von Meryton kämen, in eine Postkutsche setzen und einen Boten zu ihrem Vater schicken, um selbst erst einen Tag später auf Longbourn aufzutauchen.

Nachdem sie dies alles beschlossen hatten, war es schon Zeit für das Abendessen. Bei diesem unterhielten sie sich auch mit Georgiana, die während dem ganzen Gespräch zwischen ihnen auf dem Klavier gespielt hatte, um ihre Privatsphäre zu achten. Nun aber beim Essen war es Darcy wichtig seine Schwester näher mit seiner zukünftigen Frau bekannt zu machen und auch Lizzie war erpicht, ihre baldige Schwägerin näher kennen zu lernen. Sie mochte Georgiana wirklich sehr und hätte sich gerne noch länger mit ihr unterhalten, hätte sie nach dem Abendessen nicht doch sehr deutlich die Erschöpfung ihrer Reise gespürt. Sie hatte sich erst vorgenommen trotzdem noch ein bisschen Zeit mit Fitzwilliam und Georgiana zu verbringen, aber ihr Verlobter merkte schon beim Essen die augenscheinliche Müdigkeit Lizzies und bestand darauf, dass sie sich früh zurückzog. Lizzie wollte zunächst protestieren, als er sie schon direkt nach der Mahlzeit zu ihrem Zimmer eskortieren wollte, aber dann spürte sie, wie entkräftet sie tatsächlich war und ließ sich von ihm ohne Widerspruch zu ihrem Schlafgemach bringen.

Als sie die Treppen emporstieg, merkte sie dann richtig, wie schwach und matt sie war. Vor lauter Müdigkeit rutschte sie auf einer der vielen Treppenstufen mit ihrem gesunden Fuß fast ab, doch ihr Verlobter war schnell genug und fing sie auf, bevor sie sich auch noch ihren zweiten Fuß verstauchen konnte.

„Pass auf, Elisabeth!", ermahnte er sie leise, während er sie eindringlich anblickte und sie festhielt. Auch als sie wieder festen Boden unter den Füßen hatte, ließ er sie nicht los. „Fitzwilliam", sagte Lizzie, um ihren Verlobten daran zu erinnern, dass er sie immer noch fest umschlungen hielt. Dieser aber dachte gar nicht daran sie loszulassen, sondern zog sie näher zu sich. Endlich sah er seine Chance gekommen. Er beugte sich zu ihr hinunter und küsste sie, erst sanft, dann leidenschaftlicher, als er merkte, dass Lizzie seinen Kuss erwiderte. Erst als er spürte, wie Lizzie sich gegen ihn lehnte und sich eng an ihn presste, hielt er es für besser ihren Kuss zu beenden. Doch er löste sich nur mit Unwillen von ihr.

„Ich denke, es ist besser, ich bringe dich jetzt ins Bett", meinte er, um, sobald er die Zweideutigkeit in seinen Worten verstand, zu erröten. „Ich meine natürlich nicht… ich wollte nicht andeuten, dass...", versuchte er sich aus dieser Situation wieder herauszureden. „Es ist schon gut, Fitzwilliam", entgegnete Lizzie nur und strich ihm sanft über den Arm, um ihm zu zeigen, dass sie schon verstanden hatte, wie er das gemeint hatte und wie nicht.

Diese kurze Berührung allein weckte in Fitzwilliam schon den Wunsch sie erneut zu küssen, aber er hielt sich wohlweislich zurück. Denn er wusste, dass seine Selbstbeherrschung nicht so stark war, wie er es sich wünschen würde. Als er Lizzie zu ihrer Zimmertür gebracht hatte und sie ihn mit einem erwartungsvollen Blick verabschiedete, als erhoffe sie noch einen Gute-Nacht-Kuss, und in der Erwartung eines solchen ihre Lippen befeuchtete, konnte er sich nicht zurückhalten und gab ihr einen schnellen, leidenschaftlichen Kuss, bevor er sich ohne ein weiteres Wort umdrehte und so schnell er konnte die Treppen hinunterzueilen. Er wusste, er hätte nicht eine Sekunde länger bei ihr bleiben können ohne etwas zu tun, was er eigentlich nicht wollte. Das Wissen direkt vor ihrem Schlafzimmer zu stehen, wäre eine Herausforderung zuviel für seine ansonsten so große Selbstbeherrschung gewesen.