Tasha: Es interessiert jemanden! Dann geht's natürlich weiter!
Genzo zerbrach sich in der folgenden Zeit den Kopf darüber, wie er seine Eltern vielleicht doch noch überzeugen konnte. Herr Mikami und Kagome waren zwar dafür, aber das brachte ihm nichts, schließlich konnte er nicht verlangen, dass sie sich auf Teufel komm raus gegen ihre Arbeitgeber stellten.
‚Es muss doch einen Weg geben.', dachte Genzo. ‚Irgendeine Chance muss ich doch haben.'
„Langweilt dich mein Lehrstoff so sehr, Wakabayashi?"
Die Frage seines Mathematiklehrers riss ihn brutal in die Realität zurück.
„Ich, äh, nein... also...", stotterte Genzo und sah peinlich berührt auf den Boden.
Er hatte schon so genug Probleme, da musste er sich eigentlich keine mehr mit seinen Lehrern schaffen.
„Du weißt ja, dass ich immer um das Wohl meiner Schüler besorgt bin, Wakabayashi.", bemerkte der Lehrer etwas sarkastisch. „Und eigentlich bin ich auch ein Mensch, der anderen ihre Freiheit lässt, aber diese Freiheit hört dann auf, wenn man sich nicht mehr auf den Unterricht konzentriert. Klar?"
„Ja, Herr Satome.", antwortete Genzo und bemühte sich im restlichen Unterricht aufzupassen.
Da er mit dem Abschreiben von der Tafel durch seine Grübelei etwas hinterherhing, war Genzo schließlich auch mit Abstand der letzte, der die Klasse verließ.
„Wakabayashi!", rief der Lehrer ihn zurück. „Bleib doch bitte, ich möchte noch kurz mit dir sprechen."
Mit mulmigem Gefühl trat Genzo an das Pult von Herrn Satome. Normalerweise war der Mathematiklehrer kein Lehrer der Sorte, die einen Schüler für einmalige Unaufmerksamkeit sofort zusammenstauchten, aber ein komisches Gefühl beschlich Genzo trotzdem.
„Ja, Herr Satome?"
Nun sah der Lehrer Genzo an.
„Wakabayashi, hör zu. Du bist einer meiner besten und aufmerksamsten Schüler und besonders deshalb finde ich es auffällig, dass du seit ein paar Tagen gelegentlich wegträumst oder zumindest mit deinen Gedanken ganz woanders zu sein scheinst. Gibt es irgendetwas?"
Genzo zögerte kurz.
„Nein, Herr Satome.", antwortete er schließlich. „Und die Unaufmerksamkeit tut mir Leid."
„Nun gut, wenn du das meinst, dann ist es ja gut.", nickte der Lehrer, doch dann setzte er doch noch etwas hinzu. „Ich kann dir keine Vorschriften machen, aber wenn doch etwas sein sollte, dann solltest du dich bei eurer Vertrauenslehrerin Frau Akiyama melden. Es ist nur ein Vorschlag, aber ich möchte dich ungern wegen Mangel an Aufmerksamkeit melden müssen. Okay?"
„Ja, verstanden.", antwortete Genzo und verließ das Klassenzimmer.
Auf dem Weg machte er sich Gedanken über den Vorschlag von Herrn Satome. Eigentlich war die Idee gar nicht so schlecht. Die Vertrauenslehrerin war unparteiisch, gleichzeitig seine Englischlehrerin und somit über seinen Leistungsstand informiert und wenn er wirklich durch seine Fußball-Leidenschaft so verblendet sein sollte, wie seine Eltern behaupteten, würde sie ja wohl auch zu dem Schluss kommen.
‚Aber wenn nicht, dann kann sie mir vielleicht wirklich helfen.', dachte er und nutzte gleich die Mittagspause, um mit der Lehrerin zu sprechen.
Vor dem Büro der Vertrauenslehrerin sah sich Genzo noch einmal prüfend um. Normalerweise kursierten sofort die heftigsten Gerüchte über jemanden, der zu dieser Lehrerin ging und das brauchte Genzo nun eigentlich nicht. Nachdem aber kein Schüler zu sehen war, da die meisten in der Mittagspause nach Hause oder in die Stadt gingen, klopfte Genzo schließlich an.
„Herein!"
Etwas schüchtern betrat Genzo das kleine, aber ziemlich geschmackvoll eingerichtete Büro. Langsam schloss er die Tür hinter sich, da er eigentlich nicht so genau wusste, wo er hingucken sollte.
„Wakabayashi!", bemerkte Frau Akiyama etwas überrascht. „Was treibt dich denn hierher?"
„Nun, Frau Akiyama," begann Genzo immer noch etwas eingeschüchtert, „es gibt da etwas, worüber ich mit Ihnen reden wollte."
Nachdem dieser Satz raus war, wagte es Genzo nun auch aufzusehen.
Frau Akiyama war eine junge Lehrerin, hatte lange, schwarze Haare und wache, grüne Augen. Aufmunternd nickte sie dem Jungen zu und bedeutete ihm sich zu setzen.
„Also, Wakabayashi, was kann ich denn für dich tun?"
Sie legte das Kinn auf die gefalteten Hände und sah Genzo geduldig an. Die Frau war als Vertrauenslehrerin wie geschaffen und anscheinend wusste sie auch, wie schwer es Schülern fiel über eventuell sehr private Dinge mit einem Lehrer zu reden.
„Naja," erklärte Genzo schließlich, „eigentlich bin ich ja auf Anregung von Herrn Satome hier. Er sagte, dass ich die letzten Tage etwas unaufmerksam gewesen sei."
Frau Akiyama nickte nur. Anscheinend ahnte sie, dass da noch mehr kommen sollte.
‚Reiß dich zusammen!', ermahnte Genzo sich selbst. ‚Dies hier ist vielleicht die einzige Chance, die ich habe, also muss ich ihr jetzt auch alles erzählen.'
„Nun, es gibt einen Grund dafür, über den ich aber lieber mit Ihnen sprechen möchte. Wissen Sie, es geht um meine Eltern..."
„Ist ihnen etwas passiert?", fragte Frau Akiyama, nachdem Genzo wieder eine kurze Pause gemacht hatte.
„Nein, nein, passiert ist ihnen nichts.", versicherte Genzo hastig. „Aber, Sie kennen doch meinen Trainer Herrn Mikami, oder?"
„Ja.", bestätigte Frau Akiyama. „Er nimmt ja regelmäßig an Elternversammlungen und Sprechtagen teil. Ihr steht euch ziemlich nahe, oder?"
„Hmm."
Genzo nickte.
„Ja, er kam schließlich schon zu uns als ich 4 oder 5 war. Tja, das sind ja nun schon fast 9 Jahre."
„Und mit Herrn Mikami ist etwas.", stellte Frau Akiyama fest.
„Ja.", antwortete Genzo und merkte, dass er langsam mutiger wurde. „Er hat ein Angebot aus Deutschland für einen Trainerkurs bekommen. Das ist eine einmalige und sehr große Chance!"
„Das glaube ich, aber Deutschland ist ja nun wirklich sehr weit weg."
„Ich weiß, aber ich möchte ihn trotzdem gerne begleiten."
Die Bombe war geplatzt. Frau Akiyama sah ihn immer noch an, doch ihr Gesicht hatte nun doch schon einen ernsteren Zug angenommen.
„Es wäre eine ziemliche Veränderung, das ist dir klar, oder?"
„Ja, das weiß ich, aber ich glaube, dass ich das schaffen kann.", beharrte Genzo. „Meine Eltern leben ja, wie Sie vielleicht wissen, in London, ich wäre also auch näher bei ihnen. Ich glaube nicht, dass man das negativ sehen könnte, oder?"
„Das sicherlich nicht.", stimmte Frau Akiyama zu. „Aber deine Eltern sind dagegen, nicht wahr?"
„Ja, aber sie sind ja fast ständig weg. Sie kennen mich eigentlich kaum und Kagome, unsere Haushälterin, und Herr Mikami können sowieso besser beurteilen, was ich kann und was ich nicht kann."
„Und was sagt Herr Mikami dazu?"
„Eigentlich ist er einverstanden.", erklärte Genzo. „Aber auf der anderen Seite will er nichts über die Köpfe meiner Eltern hinweg entscheiden und deshalb meint er offiziell, ich solle hierbleiben."
„Warum bist du zu mir gekommen, Wakabayashi?", fragte Frau Akiyama ganz unvermittelt.
Genzo sah sie irritiert an.
„Nun, ich dachte, Sie als meine Lehrerin könnten vielleicht besser beurteilen, ob ich das schaffen kann oder nicht und vielleicht könnten Sie ja auch als objektive Person mit meinen Eltern sprechen, damit ich nach Deutschland kann."
„Warum willst du nach Deutschland?", fragte Frau Akiyama weiter. „Um bei deinen Eltern zu sein?"
„Naja, nein, nicht unbedingt..., also eigentlich für den Fußball, weil ich dort mehr lernen kann. Und..."
„Und um bei Herrn Mikami zu bleiben?", beendete Frau Akiyama den Satz.
Genzo sah sie an, schwieg eine Weile, nickte dann aber.
„Ja, eigentlich um bei Herrn Mikami zu bleiben."
Frau Akiyama sah nun ins Leere, während sie mit den aneinandergelegten Zeigefingern gegen die Lippen klopfte.
Genzo rutschte etwas unruhig auf seinem Stuhl hin und her. Würde Frau Akiyama seiner Bitte nachkommen? Und wenn nicht, was sollte er dann tun?
Schließlich sprach Frau Akiyama ihn wieder ganz unvermittelt an.
„Gibt es eine Möglichkeit Kontakt mit deinen Eltern aufzunehmen?"
Genzo konnte spüren, wie sei Herz einen Hüpfer machte und er von einer Sekunde auf die andere mindestens 3 Zentimeter größer wurde.
„Ja, natürlich."
Erleichtert nahm er den ihm gereichten Zettel und schrieb der Lehrerin die Telefon- und Handynummer seiner Eltern auf.
„Gut, danke. Ich werde mich um ein Gespräch bemühen, aber ich kann dir nichts versprechen, Wakabayashi."
„Das macht nichts!", rief Genzo, sprang auf und ging zur Tür. „Vielen, vielen Dank, Frau Akiyama!"
Damit war er auch schon draußen.
Auf dem Weg nach Hause bekam er das Grinsen gar nicht mehr aus dem Gesicht und war so motiviert, wie schon lange nicht mehr. Sicher, Frau Akiyama hatte ihm nichts versprochen, aber allein dieses Gefühl von Hilflosigkeit loszusein, wirkte sehr entspannend.
