Die Zeit bis zum Wochenende hatte Genzo das Gefühl auf heißen Kohlen zu sitzen. Immer wieder spielte sich in seinem Kopf ein mögliches Szenario des Treffens ab, meistens war es nicht sonderlich positiv.
„Es wird schon werden, Genzo, mach dir keine Sorgen.", versuchte Kagome ihn immer wieder zu beruhigen, denn Genzo war so hibbelig, dass für jemanden, der Bescheid wusste, kaum zu übersehen war, was ihn beschäftigte.
Genzo nickte daraufhin immer, doch so recht wollte sich bei ihm keine Ruhe einstellen. Seine Eltern waren es nicht gewöhnt, dass sich Genzo Anweisungen derart hartnäckig widersetzte. Früher hatte er zu Dingen, die sie anordneten, immer ‚ja' und ‚amen' gesagt.
‚Aber das war auch was anderes.', dachte Genzo. ‚Früher ging es dann um so Sachen wie: Wir müssen nach Weihnachten leider wieder früher fahren; Welche Schule besucht der Junge?; Wie lange darf er wegbleiben? Aber jetzt ist es nun mal eine Sache, bei der ich nicht mit ihrer Entscheidung leben kann und es keine Kompromissmöglichkeiten gibt. Entweder ich fahre mit Herrn Mikami nach Deutschland oder nicht.'
Weiterhin beunruhigte ihn auch, dass er nicht wusste, in welcher Gemütsverfassung sich seine Eltern befinden würden. Von Frau Akiyama wusste er, dass seine Eltern an diesem Wochenende kommen würden, aber sie selbst hatten sich nicht gemeldet.
‚Vater hasst es, wenn etwas nicht nach seinem Willen geht.', rief sich Genzo in den Kopf. ‚Ich könnte mir gut vorstellen, dass er richtig wütend ist. Bei Mutter bin ich mir nicht sicher. Normalerweise schließt sie sich der Meinung von Vater an, aber richtig wütend ist sie, soweit ich weiß, nie geworden.'
Spekulationen hin oder her, Genzo wusste, dass ihm wohl nichts anderes übrig blieb, als auf das Wochenende zu warten. Genauer gesagt auf den Samstag, denn da wollten seine Eltern laut Frau Akiyama kommen.
Am Samstagmorgen saß Genzo zwar am Frühstückstisch, aber an Essen wollte er gar nicht denken. Sein Magen schlug mehrfache Salti rückwärts, seinen Puls spürte er unnormal hoch und seine Finger trommelten die ganze Zeit unruhig auf die Tischplatte.
„Genzo, nun beruhige dich bitte!", redete ihm Herr Mikami zu. „Es wird schon werden, hörst du?"
„Ja," antwortete Genzo, „ich kann das Ganze, was hier heute passieren wird, nur noch nicht richtig einschätzen."
„Das kann keiner.", nickte Herr Mikami. „Wir werden uns wohl überraschen lassen müssen."
‚Und das ist genau das, was ich an der Sache hasse.', dachte Genzo und versuchte sich doch zum Frühstücken zu zwingen.
Um sich etwas zu beruhigen, gingen Genzo und Herr Mikami nach dem Frühstück in den Garten und trainierten, wie es auch an allen anderen Tagen üblich war. Gegen 12.00 Uhr schickte Herr Mikami seinen Schüler rein. Genzo sollte duschen und sich umziehen, denn in einer Stunde sollte das Treffen sein. Doch auch die Hoffnung, das Training oder die anschließende Dusche würden die Nervosität lockern, zerschlug sich und so kam Genzo genauso aufgeregt nach unten ins Wohnzimmer zurück, wie er heute morgen aufgestanden war. Herr Mikami saß in einem Sessel und wirkte objektiv sehr entspannt. Doch Genzo kannte ihn besser und wusste oder eigentlich viel mehr spürte, dass auch sein Trainer nervös war.
‚Er will es nicht zeigen, aber irgendwie hat er auch Angst, dass etwas schief gehen könnte.', dachte Genzo und obwohl es ihn eigentlich noch unruhiger hätte machen müssen, beruhigte ihn auf eine verdrehte Art und Weise die Tatsache, dass er nicht allein so überdrehte Panik vor dem Treffen hatte.
Als es plötzlich an der Tür klingelte, glaubte Genzo knapp einem Herzinfarkt entgangen zu sein.
„Die Stunde der Wahrheit.", bemerkte Herr Mikami auf Genzos Blick hin und erhob sich, um die Person, die geklingelt hatte, zu empfangen.
Sie hörten vom Eingang Kagomes Stimme und einen Augenblick später öffnete sie die Wohnzimmertür und ließ die Lehrerin Frau Akiyama eintreten.
„Guten Tag.", grüßte sie lächelnd. „Naomi Akiyama mein Name, wir hatten telefoniert."
„Richtig, guten Tag.", antwortete Herr Mikami, reichte Frau Akiyama die Hand und verbeugte sich leicht. „Ich bin Tatsuo Mikami, der persönliche Trainer von Genzo."
Mit dem Erwähnen seines Namens trat Genzo neben seinen Trainer und begrüßte seine Lehrerin ebenfalls mit einer leichten Verbeugung.
„Guten Tag, Frau Akiyama."
„Guten Tag, Genzo. Wie geht es dir?"
„Oh, naja, ein bißchen komisch ist mir schon, aber ich hoffe, dass das hier alles gut gehen wird."
„Das hoffe ich auch."
„Nehmen Sie doch Platz, Frau Akiyama.", bot Herr Mikami an.
„Vielen Dank."
Frau Akiyama setzte sich in einen der drei Sessel, Genzo und Herr Mikami in die anderen beiden.
„Herr und Frau Wakabayashi sind leider noch nicht eingetroffen.", erklärte Herr Mikami. „Können wir Ihnen etwas zu trinken anbieten?"
„Im Augenblick nicht, danke.", antwortete Frau Akiyama. „Aber ich würde die Situation gerne nutzen, um Sie noch ein paar Dinge in Abwesenheit der Eltern zu fragen."
Herr Mikami nickte nur.
„Gut," fuhr Frau Akiyama fort, „dann sagen Sie mir doch bitte genau, welches Verhältnis Sie zu Genzo haben."
„Nun, wie ich schon sagte, bin ich sein persönlicher Trainer, das heißt neben dem Training mit der Fußballmannschaft der Schule oder des Bezirks bin ich für das Einzeltraining von Genzo verantworlich.", erklärte Herr Mikami.
„Aber Sie leben hier, das ist doch richtig, oder?"
„Das ist korrekt.", bestätigte Herr Mikami. „Seit die Wakabayashis den Sitz ihrer Firma nach London verlegt haben, das war etwa vor 8-9 Jahren, lebe ich hier im Haus, um gemeinsam mit Frau Kagome Haori, die Sie ja eben kennen gelernt haben, auf Genzo aufzupassen."
„Genzo, du bist jetzt 13, nicht wahr?"
„Richtig.", nickte Genzo, obwohl er nicht wusste, worauf Frau Akiyama hinauswollte.
„Er war also damals 4 oder 5 Jahre alt, als die Eltern ins Ausland gingen und Ihnen die Aufsichts- und Erziehungspflicht überließen?", wandte sich Frau Akiyama wieder an Herrn Mikami.
„Das ist richtig," erklärte Herr Mikami, „ich war hier sozusagen ‚vor Ort' zuständig, doch größere Entscheidungen, wie z.B. Schulwechsel, Vereinsaktivitäten oder längere ärztliche Therapien, wie jetzt wegen der Fußverletzung, mussten immer noch von den Wakabayashis abgesegnet werden. Jedoch haben sie fast immer meiner Ansicht, die ich ihnen vorgetragen habe, zugestimmt."
„Angenommen Genzo hätte einen Unfall gehabt und es hätte schnell eine Entscheidung über möglicherweise lebensrettende Maßnahmen getroffen werden müssen, wer hätte sie treffen müssen?"
„Da die Zeit dabei ja ein Telefonat mit den Eltern nicht zulassen würde, würde ich diese Entscheidung mit allem Rückhalt treffen.", antwortete Herr Mikami.
„In diesem Fall wären Sie also berechtigt, allein zu entscheiden."
„So ist es."
„Ich nehme an, Genzo war schon immer ein recht aktives Kind.", wechselte Frau Akiyama plötzlich das Thema.
„Aktiv ist untertrieben!", lachte Herr Mikami. „Kaum zu bändigen und ständig auf den Beinen."
Genzo spürte, wie ihm das Rot in die Wangen schoss. Ein solches Thema mit seiner Lehrerin zu erörtern, war ihm peinlich.
‚Naja, wenn alles gut geht, ist sie dann ja bald nicht mehr meine Lehrerin.', dachte Genzo. ‚Dann ist es die Sache wohl wert.'
„Er hat sich doch früher bestimmt auch mal verletzt?", fragte Frau Akiyama weiter. „Sich das Knie aufgeschlagen oder so?"
„Sicher, sicher!", nickte Herr Mikami. „Aber fragen Sie mich nicht, wie oft. Man könnte sagen: Nach 3mal die Woche habe ich aufgehört zu zählen."
„Wer hat sich dann um ihn gekümmert? Verbunden und getröstet?"
„Das waren Kagome und ich.", bestätigte Herr Mikami. „Wir haben ein Pflaster draufgeklebt oder je nach dem einen Verband drum gemacht, haben ihm gesagt, dass es schon wieder werden wird und meistens bin ich mit ihm dann noch rausgegangen und wir haben ein bißchen Fußball gespielt, also nur ein bißchen hin- und hergekickt."
„Verstehe.", nickte Frau Akiyama und wollte schon zu einer weiteren Frage ansetzen, als es zum zweiten Mal an diesem Tag an der Tür klingelte.
„Das werden dann wohl Herr und Frau Wakabayashi sein.", vermutete Herr Mikami.
„Gut, ich denke, das war auch soweit alles.", erklärte Frau Akiyama.
Doch Genzo hatte nur einen Gedanken:
‚Auf in die Schlacht und kämpfen bis zum Schluss.'
