Kapitel 4

"Sieh mich an, Harry!"

Zögernd wand der Schwarzhaarige seinen Blick von den Vorhängen und versuchte so gut wie nur möglich in die traurigen Augen zu sehen. Ginny nahm liebevoll seine Hand in die Ihre und strich sich eine Haarsträne aus dem Gesicht. "Bitte... Sag es mir endlich!"

"Ich kann nicht!"

"Wieso nicht?"

"Weil- es ist nichts!" Ginny wusste, dass er log. Das würde sogar ein blinder, tauber Trottel merken. Er war einfach nicht geschaffen fürs Lügen. Jede Zelle in seinem Körper schien sich anders zu verhalten, wenn er log. Auch Harry wusste das, deshalb fügte er noch schnell hinzu: "Sieh mal... Ich weiss, dass es in letzter Zeit vielleicht nicht mehr so ist, wie es mal war. Aber wahrscheinlich muss es so sein, verstehst du? Ich meine, wir sind schon so lange zusammen!"

"Erzähl keinen Mist, Harry!" Ginny atmete tief ein, schöpfte Mut und fuhr fort: "Es kann doch unmöglich normal sein, dass du mich behandelst, als wäre ich dein größter Unfreund. Was brauchst du, Harry? Brauchst du eine Auszeit? Willst du, dass wir uns erst mal nicht so oft sehen? Verdammt, Harry! Siehst du denn nicht, dass ich absolut alles für dich tun würde?"

Harry schwieg beträchtlich.

"Ich fass es einfach nicht... Was ist bloss passiert, dass du mich nicht mehr liebst!"

"Das ist nicht wahr, Ginny! Ich liebe dich nicht nicht mehr!" Harry nahm seine bitteren Worte erst einige Momente nach dem Aussprechen wahr und hätte sich im Nachhinein dafür schlagen können. "Ich meine natürlich... Ach, verdammt! Es ist nun mal schwierig. Du bist mir sehr wichtig Ginny, deshalb hasse ich mich auch für einige Dinge, die ich getan habe- jedoch kann ich, was immer ich auch tue, meine Gefühle nicht ändern. Und die Realität sieht nun mal so bitter aus! Es ist nicht mehr so, wie ich mir wünsche, dass es wäre..."

Es wäre gelogen, wenn Harry behaupten würde, es würde ihm nach diesem Gespräch gut gehen, jedoch konnte er beim Verlassen des Schlafsaals eine grosse Erleichterung spüren. Vielleicht, dachte er hoffnungsvoll. Vielleicht können Hermine und ich jetzt doch noch einen Versuch starten...

Der nächste Tag war auch wieder solch einer, den man am liebsten aus dem Kalender streichen würde. Schon am frühen Morgen, nach der ersten Stunde, zog Ron Harry zur Seite und drückte ihn gegen die Wand. "Was ist los, Ron?", genervt versuchte sich Harry von seinem Griff zu lösen. "Ich habe gerade keine Zeit. Zaubertränke fängt gleich an, wie du sicher weisst!"

"Du kannst dir nicht vorstellen, wie egal mir das ist, oder?", sagte Ron. "Was hast du mit Ginny gemacht?" "Was soll ich mit ihr gemacht haben?" Ron schnaubte laut und schüttelte verärgert den Kopf. "Jetzt tust du auch noch so, als ob du keine Ahnung hättest, worum es geht!"

"Hab ich auch nicht. Jedenfalls weiss ich beim besten Willen nicht, was du damit zu tun haben solltest!" Harry stiess seinen Freund zur Seite und schlenderte den Weg runter zu den Kerkern, wobei ihm Ron dicht an den Fersen blieb. "Sie ist zufälligerweise meine Schwester!" Prompt blieb Harry stehen. "Das tut nichts zur Sache. Was zwischen Ginny und mir abläuft, ist allein unsere Sache!"

"Ach ist es das?", Ron schien scharf darauf Harry zu provozieren. Die Tatsache, dass es seiner Schwester seinetwegen schlecht ging, frass ihn innerlich auf. "Und warum ist dann Hermine so genau informiert? Ich dachte, du siehst mich vielleicht mal auch als deinen besten Freund und nicht nur als den Bruder deiner Freundin!"

"Ron, bitte!", verzweifelt verdrehte Harry die Augen. "Lass Hermine da raus. Na gut, ich gebe es ja zu, wir sind nicht mehr zusammen. Ich bin möglicherweise auch Schuld daran, aber glaub mir, Ginny ist schon stark genug, sie wird es verkraften!"

"Verkraften? Du hast sie wohl heute beim Frühstück nicht gesehen!"

Nervös strich sich Harry durch sein schwarzes Haar. "Ron! Ich liebe Ginny nicht. Schon länger nicht. Und du wirst daran genau so wenig etwas ändern können, wie jemand anders, in dem du mir sagst, was für einen großen Fehler ich angeblich getan habe."

Mit geschlossenen Augen sass Hermine am Tisch in der Bibliothek, vergrub ihr Gesicht in den Händen und summte kaum hörbar ein Lied, das sie in den Weihnachtsferien, als sie bei ihren Eltern zu Hause war, gehört hatte.

I´ll do anything to be close to you

And I'll be anyone that you want.

Save me from myself

I wanna love somebody else

Someone like you makes me smile the whole night trough.

I'm hungry for some answers

I'm hurry for the truth

You are what I'm looking for

please show me the way

please show me the way

Sehnsüchtig dachte sie an Harry, von dem sie wusste, dass er nicht mehr mit Ginny zusammen war. Eigentlich sollte sie ja so etwas wie Freude darüber spüren- insofern das in ihrer Situation überhaupt möglich war- dennoch hatte sie Angst. Angst vor diesen Gefühlen, die sie zumindest gegenüber Harry noch nie so gefühlt hatte. Er zog sie an. Sie würde sich ihm vollkommen hingeben. Körper und Geist. Alles. Alles, was er von ihr verlangen könnte. Ein einziger Blick mit seinen strahlend grünen Augen würde genügen, und ihre Schwäche würde über ihren Verstand siegen. Und genau davor hatte sie Angst. Denn sie wusste, Harry könnte sie so leicht rumkriegen, so leicht mit ihr spielen. Und dennoch mochte sie dieses Gefühl. Sie konnte nicht genug davon kriegen, sein Lächeln zu erwidern und dabei zu glauben, all ihre Eingeweide würden sich gegenseitig auffressen. Sie konnte nicht genug davon kriegen, seinen Duft einzuatmen, wenn er ihr zufällig zu nahe kam.

"Hermine!"

Erschrocken blickte sie auf. Vor ihr stand der leicht verwirrte Harry, der mit einem Dutzend Bücher auf den Armen Mühe hatte, aufrecht zu stehen. "Was machst du hier? Du liest ja nicht mal!"

"Ich war mit den Gedanken gerade irgendwo ganz anders!" Harry liess seine Bücher nicht geräuschlos auf den Tisch fallen und ging mit langsamen Schritten um den Tisch, hinter Hermine. Er stemmte seine Arme auf dem Tisch, beugte sich hinter Hermine neben ihrem Kopf über das Buch, das sie offen vor sich aufgestellt hatte und las einen Abschnitt daraus. Hermine glaubte, ihm noch nie so nah gewesen zu sein, selbst seinen gleichmässigen Atem konnte sie auf ihrer Haut spüren. Der Geruch- eine Mischung zwischen Parfüm und Aftershave, atmete sie genüsslich ein, wünschend, ihn nie wieder aus ihren Sinnen zu lassen.

"Hexenverbrennungen Europas im 18. Jahrhundert!", sagte Harry nach einiger Zeit und drehte sich zu Hermine, die starr von seiner Nähe nicht den Blick von ihm wenden konnte. Ihre Gesichter waren sich so nahe, dass sie glaubte, all seine Wimpern zählen zu können. "Darüber weisst du doch eh schon alles, Hermine!"

"Jah...", sagte Hermine immer noch wie in Trance. Harry blinzelte einige Male, ebenfalls einbisschen benebelt und richtete sich irritiert wieder auf. "Du... Also!" Unsicher kratzte sich der 17jährige am Hinterkopf. "Jedenfalls... Wenn du nichts dagegen hast, würd ich, sobald du fertig bist natürlich, mir dieses Buch auch mal kurz ausleihen!"

"Kein Problem!", sagte Hermine, machte das Buch sorgsam zu und schob es über den Tisch, zu den anderen Büchern, die Harry vorhatte auszuleihen. "Danke!", sagte Harry und riss sich seine Bücher wieder unter den Arm.

"Harry?"

"Ja?"

Er blieb stehen, drehte sich nochmals zu Hermine, dass ihm einige schwarze Strähnen seinen Haares in die Stirn fielen, und er damit unwiderstehlich aussah.

"Können wir uns... nun ja... vielleicht mal-" "-treffen?" Stirnrunzeln vollende Harry Hermines Satz und hänge ein süsses Lächeln an.

"Ja, das meinte ich!", ebenfalls lächelnd antwortete sie ihm.

"Heute Abend? Gegen halb zehn?"

"Bei der Eiche?"

"Einverstanden."