-R-
Ihre Wohnung ist genauso, wie er sie sich vorgestellt hatte. Hell und bunt, aber nicht zu grell. Alles ist in Pastellfarben, wohltuend für das Auge. An den Wänden hängen vereinzelt Bilder in Rahmen mit Blumen, Wasserfällen oder Stränden mit Palmen. Die Deckenlampe taucht alles in ein gemütliches Licht und wenn man aus dem großen Fenster neben der Couch in die Dunkelheit sieht, kann man ein tolles Landschaftsbild erahnen mit Hügeln und Wiesen. Ryan gefällt ihre Wohnung. Sie ist richtig bequem und schön. Sie passt zu ihr.
„Da hinten, die zweite Tür links, da ist das Bad. In der Kommode, die unterste Schublade, da müsste das Verbandszeug drinnen sein, falls du das benötigst." Calleigh legt ihre Tasche auf der Couch ab, wobei ihre blonden Haare ihr über die Schulter fallen. Wie Seide. Wirklich, ihre Haare sind wie Seide. Man würde auf keinen Widerstand, keine einzige Vernestelung oder ähnliches stoßen, wenn man mit den Fingern hindurchfahren würde. Jedes Haar ist exakt neben dem Anderen. Alles sitzt perfekt. Wie gerne würde er mal mit den Fingern hindurchfahren, nur um zu erfahren, ob der Schein nicht trügt.
„Was ist?", fragt sie und mustert ihn mit misstrauischem Blick. Erst jetzt bemerkt er, wie er die ganze Zeit nur dagestanden und sie angestarrt hatte. Er gibt sich einen Ruck, versucht dieses flatternde, kribblige Gefühl in seiner Magengegend zu ignorieren. „Ach nichts. Ich...ich geh dann mal...ins Bad." Er zeigt mit dem Daumen hinter sich, verweilt aber noch kurz auf der Stelle um sein klopfendes Herz zu beruhigen. Dann dreht er sich um und geht.
„Falsche Richtung.", hört er Calleighs Stimme.
Er dreht sich abrupt zu ihr um und sieht, dass sie ein amüsiertes Lächeln auf den Lippen trägt. „Wie?"
Sie lacht. „Das Bad ist in der Entgegengesetzten Richtung. Auf diesem Weg geht es in den Keller."
„Oh." Wie peinlich! Wieder mal hatte er sich blamiert. Ryan spürt sein Gesicht heiß werden. Schnell schlägt er die richtige Richtung zum Bad ein.
Erst als er das Badezimmer erreicht hat und sich im Spiegel mustert, das Blut in seinem Gesicht und an seinen Händen sieht, spürt er wieder den pochenden Schmerz im Nasenrücken. Jetzt, wo Calleigh nicht mehr im selben Raum ist.
-C-
Calleigh lächelt immer noch, als Ryan schon längst nicht mehr im selben Raum ist. Es ist ein Lächeln, gegen das sie nichts tun kann. Es kommt einfach, von innen heraus. Sie könnte quietschen, „Süüüüüüüß!", bei dem Gedanken, wie er eben die falsche Richtung eingeschlagen hatte. Sein vertrottelter, verwirrter Blick war so goldig gewesen.
Aber stattdessen zieht sie nur ihre Jacke aus und hängt sie über den Wohnzimmerstuhl. Setzt sich darauf, nur um im nächsten Moment wieder aufzustehen. Sie läuft zum Spiegel über ihrem Telefon, wirft einen kurzen Blick darauf. Sie hatte erwartet, sie sähe schrecklich aus. Dass ihre Haare ganz durcheinander sind, aber die Frisur sitzt. Gut.
Sie will sich schon fast wieder auf den Stuhl setzen, aber ihr Blick streift ihre Stereoanlage. Sie grinst. Die letzten Tage hatte sie jeden Abend Ryans CDs rauf und runter laufen lassen und sie hatten ihr sehr gut gefallen. Genau ihr Geschmack.
Sie drückt auf play.
Cause I've got you
To make me feel stronger
When the days are rough
And an hour seems much longerIrgendwie erinnert sie der Text an heute. Sie kann nicht genau sagen, was. Vielleicht das Wort strong? Oder night?
Ist ja auch egal.
Sie hat so ein komisches Gefühl. So ein komisches, aber trotzdem tolles Gefühl. Sie fühlt sich ein bisschen, als wäre sie betrunken. Nicht direkt betrunken, aber wenigstens beschwipst. Ein bisschen schwindelig vielleicht. Es erinnert sie ein wenig an das Gefühl, das sie hatte, als sich ihre Hände berührt hatten. Beim Spaziergang. Aber nur ein bisschen.
Ryan ist hier. Hier, in ihrer Wohnung. Eine seltsame Vorstellung, aber es ist wahr. Irgendwie ist es schön, jemanden hier zu haben. Jemanden den sie sehr mag. Jemanden wie Ryan. Also, nicht, dass das jetzt irgendwas zu bedeuten hat. Sie hat ihn ja einfach nur mitgenommen, weil er in diesem Zustand wohl kaum alleine nach Hause fahren hätte können. Genau so ist es!
Trotzdem ist es schön, dass er da ist.
Sie setzt sich auf die Couch, hört die leise Musik im Hintergrund und wartet, dass Ryan endlich wieder aus dem Badezimmer kommt. Bestimmt fünf Minuten wartet sie, wird immer unruhiger. Wie lange braucht der denn dafür? Er wollte sich doch nur kurz frisch machen!
„Ryan!", ruft sie in die Richtung des Badezimmers. „Was machst du denn so lange?"
Sie hört, dass er antwortet, versteht aber nicht was. Deshalb steht sie auf und geht hin. Die Tür steht offen und sie sieht Ryan, wie er vor dem Spiegel über dem Waschbecken steht. Sie kann kein Blut mehr an ihm sehen. Nicht an den Händen und nicht an seiner Nase. Ryan hat sie noch nicht bemerkt, wie sie im Türrahmen steht.
„Du bist doch schon fertig.", sagt sie verwirrt. „Was machst du denn da noch?"
Ryan zuckt zusammen, als er sie sieht, stöhnt er auf.
„Mann, hast du mich erschrocken." Er fasst sich kurz ans Herz und als er ihren fragenden Blick bemerkt, lächelt er verlegen. „Ich...äh..." Er kratzt sich am Hinterkopf. „Hab nur ein bisschen aufgeräumt. Hier standen so viele Sachen rum."
Jetzt sieht sie es auch. Vorher standen ihre Pflegeutensilien kreuz und quer auf dem Regal, ein paar auf dem Rand des Waschbeckens. Nun ist alles fast schon furchtbar geordnet, nach Farben.
„Ryan, du Schuft! Du hast mein übersichtliches Chaos zerstört!", schreit sie gespielt entsetzt und er guckt sie im ersten Moment an, als hätte er ein schlechtes Gewissen. Doch dann bemerkt er ihr Grinsen.
„Tut mir leid, aber da lag diese Haarbürste und...die gehörte da gar nicht hin und ich hab sie weggeräumt. Aber wenn ich einmal mit so was anfange, kann ich irgendwie nicht aufhören!" Er muss auch lachen. Über sich selbst.
Sie schüttelt fassungslos den Kopf. „Raus hier. Ich muss wieder Ordnung schaffen. Wie geht es deiner Nase, nur so nebenbei?"
Ryan verdreht schmerzvoll die Augen. „Die tut höllisch weh. Aber nicht mehr so arg wie vorhin." Dann macht er Anstalten, den Raum zu verlassen. Sie drückt sich gegen den Rahmen der Tür, um ihn vorbeizulassen.
Er versucht sich an ihr vorbeizuquetschen, er ist ganz nah. So nah, dass sie fast gänzlich mit ihrem Körper den seinen berührt. Sie spürt seine Wärme, seinen Herzschlag. Er riecht gut. Richtig gut. Kein Geruch den sie kennt, irgendwie blumig.
Ihr wird schwindelig. Nicht richtig schwindelig, aber es fühlt sich so an. Schmetterlinge flattern. Sie scheinen von den Punkten aus, wo Ryan sie berührt, auszugehen und sich in ihrem ganzen Körper zu verbreiten, bis sie jeden kleinen Zeh, jeden Finger erreicht haben. Sie lassen ihre Knie weich werden und wenn sie der Türrahmen nicht stützen würde, fiele sie wahrscheinlich einfach um.
Wow, denkt sie, unfähig, es auszusprechen. Ryans Gesicht ist ganz nah. Seine Augen beobachten sie aufmerksam, erwartungsvoll, verwirrt, etwas ängstlich...
Näher, immer näher. Sie nimmt kaum wahr, wie sich sein hübsches Gesicht immer weiter dem ihren nähert, bis seine Augen zu einem verschwimmen zu scheinen. Sie kann seinen frischen Atem auf ihren Lippen spüren, ihre Nasenspitzen berühren sich...
„Auaaaaaaa!"
Ryan zuckt zurück, das Gesicht schmerzverzerrt, stößt sich den Hinterkopf am Türrahmen und stöhnt prompt noch mal auf.
„Verdammt noch mal!" Er drückt sich ganz an ihr vorbei, hält sich die Nase.
Calleigh ignoriert ihr klopfendes Herz, ihre weichen Knie und das, was eben fast passiert wäre. Jedenfalls versucht sie es. Sie folgt ihm, streicht ihm besorgt mit der Hand über den Arm.
„Geht's?" Sie kann Tränen des Schmerzes in seinen Augenwinkeln sehen, aber er nickt.
„Morgen gehe ich zum Arzt, das schwöre ich dir!"
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Später, als er weg ist, liegt sie in ihrem Bett und kann nicht schlafen. Sie denkt nach. Grübelt nach, über das, was vorhin passiert ist. Und über das, was fast passiert wäre.
Vielleicht war es schon längst beim Spaziergang passiert, als sich ihre Hände kurz berührt hatten. Vielleicht war es aber auch sein Blick danach. Wie er sie gemustert hatte, wie er sie angesehen hatte. Egal, wann es passiert war, es war passiert. Nie hätte sie gedacht, dass es so kommen würde. Niemals. Oder?
Vielleicht ja doch und sie wollte es sich nur nie eingestehen. Sogar da, als es eigentlich schon klar war, hatte sie versucht es ihr gegenüber zu leugnen.
Sie hätten sich fast...Aber eben nur fast!
Nur wegen der Nase. Dumme Nase.
Nein, dummer Marc, der sie Ryan gebrochen, oder zumindest angebrochen haben musste.
Dumme Calleigh, die es überhaupt mit Marc soweit kommen ließ.
Also ist sie schuld daran, dass es nicht passiert war. Ärger steigt in ihr auf, wie heißes kochendes Wasser. Wie blöd sie gewesen war. Warum musste sie auch diesem bescheuerten, irren Marc hinterher rennen, wo doch die Lösung so nah war?
Vor etwa zwei Stunden hatte sie Ryan schließlich zu seinem Auto gefahren. Wieder hatten sie die ganze Fahrt über geschwiegen. Keiner hatte sich getraut ES, das was fast passiert wäre, anzusprechen. Es war nicht so, dass es ihnen unangenehm war, jedenfalls von Calleighs Seite aus. Sie hatte sich nur irgendwie nicht getraut. Vielleicht hatte sie Angst, vor seiner Reaktion. Obwohl sie sich im Nachhinein fragt, vor was einer Reaktion sie Angst gehabt haben hätte können. Vielleicht hatte sie auch einfach nur darauf gewartet, dass er etwas sagte und bei ihm war es wahrscheinlich genau umgekehrt gewesen. Aber andererseits: Was sollte man auch zu so einem Thema sagen? „Sorry, aber Morgen klappt es bestimmt?" Eben. Eigentlich kann man dazu gar nichts sagen.
„Bis Morgen.", hatte er ihr zugeflüstert, bevor er die Autotür zuschlug und sein Schatten von der Dunkelheit verschluckt wurde.
Morgen. Es ist Zeit, einen Schritt nach vorne zu wagen. Jetzt, wo sie sich mit ihren Gefühlen im Klaren ist und auch darüber, dass sie nichts dagegen tun kann, wird sie ihn einfach fragen. Morgen.
