Kalter Schweiß brannte ihm in den Augen.
Die Startbahn war nur noch ein verschwommener, grauer Streifen.
Face betrat das Cockpit.
„Kriegst du das hin, Murdock?", fragte er besorgt und beugte sich über die Lehne zu dem Piloten.
„Hab ich 'ne Wahl?", feixte dieser, die eigene Angst überspielend und startete die Maschine.
Murdock sah seine Hände, wie sie beim Umlegen der Schalter zitterten.
Face setzte sich besorgt auf den Platz des Copiloten.
„Kann ich irgendwas mit helfen?" Die Frage klang in seinen Ohren etwas dumm. Er hatte keine Ahnung, wie man so ein Flugzeug flog.
„Könntest du, Facey. Wenn ich 'Jetzt' sage, drück' auf den Knopf da links neben dem großen Schwarzen. Ich kann mich nicht so weit nach vorn beugen mit diesem Scheißarm."
„Ah, und die ganzen andren, die auch außerhalb deiner Reichweite sind, brauchst du später nicht?" Face erwartete keine Antwort auf seine ironische Frage. Sicher brauchte Murdock sie und er würde sie dann drücken müssen. Und wenn er einmal einen Falschen erwischen würde? Oder wenn Murdock plötzlich ohnmächtig werden würde!
„Jetzt muchacho." Das Flugzeug hatte eine hohe Fahrtgeschwindigkeit erreicht und die Startbahn endete ein Stück weiter vorn.
Face drückte den Knopf nieder und die Maschine begann vom Boden abzuheben.
„Ähmm...Murdock...", Face sah seinen Freund von der Seite an.
„Du weißt aber schon, dass du die Augen geschlossen hast?"
Murdock musste lachen.
„Ja, Faceman. Das nennt man Fliegen nach Gefühl."
„Na, das wird B.A. ja unglaublich beruhigen", gab Face zurück und musste ebenfalls lachen.
Die halbe Stunde Flugzeit schien kein Ende zu nehmen. Face schrie Murdock immer wieder an, weil es jedes Mal so aussah, als ob der Pilot im Fliegen ohnmächtig werden würde.
Murdocks Gesicht hatte einen ungewohnt verbissenen Ausdruck angenommen. Der Blutverlust und das zwanghafte Wachhalten boxten seinen Körper immer weiter an die Grenzen seiner Belastbarkeit, aber er versuchte, sich zusammenzureißen.
Mittlerweile musste Face immer häufiger für ihn alle möglichen Schalter umlegen.
Das Zittern seiner Hände machte es Murdock fast unmöglich irgendetwas anzufassen.
Sein Arm tat ihm seltsamer Weise nicht mehr weh. Eine beängstigende Benommenheit hatte seinen ganzen Körper eingenommen, die ohne Zweifel mit dem Blutverlust zu tun hatte.
Hannibal betrat die Kabine.
„Captain?"
„Alles Bestens, Colonel. In knapp 15 Minuten müssten wir da sein. Hoffe ich zumindest." Murdocks Stimme klang erschöpft.
„Sie machen das, Captain", versuchte Hannibal ihm Mut zu machen.
„Wie stehst's mit B.A.", fragte Face ernst.
„Er schläft ganz ruhig. Und ich muss sagen, ich hoffe das bleibt die nächsten 15 Minuten auch so."
Face nickte und fuhr sich mit der Hand über die Augen, unter denen dunkle Augenringe lagen. Er fühlte sich völlig erschöpft und ausgepowert. Seit mehr als 48 Stunden hatte er nicht mehr geschlafen.
Aber das wollte er nicht laut sagen, denn wie hätte das erst in Murdocks Ohren geklungen!
Doch Hannibal schien seine Gedanken zu erraten.
„Face? Setz dich die viertel Stunde mit hinter zu B.A.. Murdock und ich schaukeln das Baby, nicht wahr Captain?"
„Sicher. Der Große wird sich über deine Gesellschaft freu'n."
„Na okay." Face sparte sich den Freudenjubel, obwohl er sehr erleichtert war über die paar Minuten Ruhe.
Hannibal ließ sich eben in den Sitz sinken, als Murdock zum hundertsten Male den Kopf schüttelte.
„Halt durch, Murdock. Wir haben's gleich", sagte er ruhig, aber mit einem gewissen Nachdruck.
„Ja, Colonel. Es ist nur", Murdock stockte und schüttelte erneut den Kopf, „es ist nur, Billy ist ziemlich müde."
Hannibal nickte ernst.
„Sag ihm, er muss noch 10 Minuten durchhalten. Ich weiß, das Billy sehr hart im Nehmen ist."
Der Pilot schluckte schwer. Er fühlte sich völlig ausgetrocknet, aber es gelang ihm ein kurzes Lachen.
Die letzten 10 Minuten schleppten sich unendlich hin. Doch endlich erschien die Landebahn. Murdock atmete erleichtert auf.
„Na endlich. Okay, Hannibal, leg die 4 Schalter rechts neben dir um."
Der Colonel sah auf die vielen schwarzen Knöpfe und silbernen Schalter vor sich.
„Die?"
Murdock folgte Hannibals Hand.
Er versuchte das Bild vor seinen Augen scharf zu halten.
„Nein, die daneben. Die untern. Ja gut. Und jetzt den Knopf ganz oben. Nein, den daneben."
Murdock konzentrierte sich, als die Maschine langsam an Höhe verlor.
„Ja, braves Baby. Gute Maschine. Drück den großen Schwarzen neben den Schaltern von eben."
Die Landebahn wurde immer größer. Der Schweiß lief über Murdocks Gesicht. Nur noch wenige Meter. Er drosselte die Geschwindigkeit.
Plötzlich war das Stechen in seinem Oberarm wieder da.
Nur noch wenige Zentimeter schwebte das Fahrwerk über dem grauen Asphaltboden.
Der Schmerz explodierte in Murdocks Körper, als die Maschine hart auf der Bahn aufsetzte.
Doch sie waren gelandet. Das Flugzeug wurde immer langsam, bis es schließlich völlig zum Stillstand kam.
Murdocks Körper entspannte sich vor Erleichterung, obwohl seine Wunde, wie von Säure verätzt, brannte.
„Mission erfolgreich beendet, Colonel."
Hannibal lachte erlöst.
Doch die Worte: „Gut gemacht", hörte Murdock schon nicht mehr. Mit einem schmerzverzerrtem Lächeln war er in Ohnmacht gefallen.
Hannibal sah beim Aufstehen kurz aus dem Cockpitfenster. Gleich einige Meter von ihnen stand ein Wagen. Mit dem würden sie zu Maggie ins Krankenhaus fahren.
Hannibal trat an den Pilotensitz, beugte sich nach vorn und legte seine Arme unter Murdocks Kopf und in seine Kniekehlen.
Ganz vorsichtig hob er ihn vom Stuhl und trug ihn wie ein kleines Kind aus der Kabine.
Der Anblick, der sich ihm im hintern Teil des Flugzeuges bot, brachte den Colonel zum Lächeln.
Face, auf dem breiten Sitz neben B.A., war nach unten gerutscht und lag schlafend neben dem schwarzem Mann, der ihm seine starke Hand auf die Schulter gelegt hatte und ebenfalls schlief.
Umgeben von „seinen" 3 schlafenden Jungs lächelte Hannibal in sich hinein.
„Face, aufwachen."
Doch Anstelle von ihm öffnete B.A. die Augen. Hannibal reagierte schnell.
„Wir sind in einem Flugzeug, B.A. Bleib ruhig!"
„Hab's schon mitbekommen", antwortete der schwarze Mann fast gelassen.
Der Colonel sah ihn erstaunt an, doch sparte sich ein Kommentar.
Als er erneut Face beim Namen rief und der blonde Mann nicht reagierte, musste auch B.A. lächeln.
„Niedlich, oder?"
Hannibal nickte schmunzelnd.
„Der Van, Hannibal?"
„Den haben wir auf dem Flugplatz gelassen. Die Sanders haben versprochen ihn abzuholen. Sie werden auf ihn aufpassen, B.A., keine Angst. Und jetzt: LIEUTENANT!"
Erschrocken fuhr Face auf.
„Was!"
B.A. zog seinen Arm weg und lachte.
Face schien sich kurz orientieren zu müssen.
„Ich bin wohl eingeschlafen."
„Wie kommst du nur darauf, Face?" B.A konnte es sich nicht verkneifen.
Face stand, noch immer etwas verstört, auf und fuhr sich mit der Hand durchs Haar.
„Hier. Du nimmst Murdock. Ich helf B.A.. Draußen steht ein Wagen. Wir müssen uns beeilen."
Vorsichtig ließ Hannibal den bewusstlosen Murdock in Face' Arme gleiten.
„Er hat sich wirklich selbst übertroffen", meinte er, als er in das schlafende Gesicht seinen Freundes sah.
„Der Spinner hat's drauf", erwiderte B.A., als er sich auf Hannibal stützte.
Sie erreichten eben den Wagen, als zwei Männer aus dem Tower gestürmt kamen.
„Gib Gas, Hannibal! Mir scheint, die woll'n uns nicht grad zum Essen einladen!"
Der Colonel wendete den Wagen und ließ die Reifen durchdrehen.
„Ruf Maggie an und sag ihr das wir kommen, Face."
„Kannst du die Nummer aus dem Kopf, Hannibal? Nee, vergiss es, die Frage war überflüssig."
Grinsend raste der Colonel über die Straße.

„Hannibal!" Mit schnellen Schritten kam Dr. Sullivan auf ihn zugerannt.
„Maggie", lächelte er sie an.
„Mein Gott, ich hab mir solche Sorgen um euch gemacht, nachdem ich Murdock dort in der Nacht allein lassen musste. Kommt gleich mit nach hinten."
Face und Hannibal, ihre beiden Freunde tragend bzw. stützend, folgten Maggie in ein hellbeleuchtetes Untersuchungszimmer.
Als sie die Tür hinter den 4 Männern schloss, zuckten Murdocks Augenlider und er rekelte sich, noch immer schlafend, in Face Armen, der lachend versuchte das Gewicht auszubalancieren.
„Hey! Pass auf, H.M., sonst lass ich dich noch fallen."
Trotz der ernsten Situation war der Anblick zu niedlich, so dass Maggie, Hannibal und selbst B.A. mitlachen mussten.
„Na dann, legt sie mal drüben auf die zwei Betten. Und dann holt euch ein Zimmer in dem Motel gleich um die Ecke. So wie ihr ausseht, braucht ihr auch dringend Schlaf. Ich kümmer' mich um alles."
Hannibal half B.A. aufs Bett und wurde wieder ernst.
„Nein, dass geht nicht, Maggie. Wir müssen hier so schnell wie möglich wieder weg. Wir haben da noch einen offenen Fall und unsre Klienten will ich nicht länger als unbedingt nötig allein dort lassen."
Dr. Sullivan seufzte.
„Also das dauert mindestens zwei Tage hier, Hannibal! Euer Auftrag in allen Ehren, aber das Leben deiner Jungs geht doch wohl vor, oder nicht!"
Hannibal sah sie starr an. Der letzte Satz hatte eingeschlagen wie eine Bombe. Kein anderer hätte sich erlauben dürfen, ihm etwas derartiges zu unterstellen. Doch das wusste sie genau.
Hannibal sah auf seine verletzen Männer. Murdocks Gesicht war entsetzlich blass und selbst B.A.'s Lippen schienen bleich.
Er sah zu Face, der zwar nichts sagte, aber ganz offensichtlich von der Idee, ein paar Stunden schlafen zu können, sehr angetan war.
„Können wir nicht hier in ein Nachbarzimmer? Bitte Maggie. Face könnte sich etwas ausruhen und ich..." , sie fiel ihm ins Wort, was auch nur wenige sich wagen durften:
„Und du wirst dich gefälligst auch ausruhen! Wenn du mir das versprichst, dann in Ordnung."
Hannibal lächelte. Eine bewundernswerte und willenstarke Frau.
„Abgemacht."
Sie brachte Face und Hannibal ins Zimmer nebenan und schüttelte lächelnd den Kopf, als sie die Tür hinter ihnen schloss.

Er hörte Stimmen. Hektische. Alle um ihn herum. Sie kamen ihm bekannt vor, aber sie waren so weit weg. Verzerrt.
„Verdammt, dass kann doch nicht sein!"
Eine Stimme verließ den Tumult und drang in sein Bewusstsein. Er versuchte sich auf sie zu konzentrieren, doch nach wenigen Sekunden verschwand sie wieder im Meer der Stimmen. Schreckliche Kopfschmerzen machten ihm das Konzentrieren fast unmöglich.
Eine neue Stimme.
„Wie kann denn das sein? Murdocks ging's doch nicht viel schlechter, als B.A.!"
Murdock? Das war er. Er war Murdock. Und B.A. , der große Schwarze! Die Stimme, das war Face. Und davor die von Hannibal. Auf einmal war sein Bewusstsein wieder völlig da, aber der Schmerz überflutete ihn.
Verschwommen erinnerte er sich, dass sie geflogen waren. Ja. Und dann bei der Landung hatte ihn der Schmerz blitzartig davongezogen, in einen langen, endlosen dunklen Traum.
Murdock erinnerte sich an Bruchstücke.
Er hatte von seiner Mutter geträumt. Sie hatte mit ihm auf einem Friedhof gestanden. Er hatte geweint. Dann hatte sie ihn angeschrieen, dass es alles seine Schuld wäre.
Er hatte auf den Grabstein geschaut und dort die Namen seiner Freunde gelesen.
Als er sich zu seiner Mutter drehen wollte, hatte sich ihr Gesicht in eine entstellte Grimasse verwandelt – Blut in den Augen – verbrannte Haut . Er erinnerte sich. Es war der erste Leichnam, den er in Vietnam gesehen hatte.
Er hatte sich angeekelt wegdrehen wollen, aber sie hatte ihn festgehalten.
Er hatte geschrieen vor Angst. Es war grausam.
„Der Spinner soll die Augen aufmachen, verdammt."
B.A's Stimme brach aus dem Wirrwarr.
Murdock versuchte trotz der Kopfschmerzen sich noch einmal zu konzentrieren, die Augen zu öffnen.
Aber sein Körper reagierte nicht! Erst jetzt fiel ihm auf, dass er sich gar nicht fühlte, als wäre er in einem Körper. Panik! Was war das!
Er versuchte seine Finger zu bewegen, aber nichts geschah. Er wusste, dass seine Hände an seinen Seiten liegen müssten, aber er spürte sie nicht.
'Das ist unheimlich.'
Er hörte seine Gedanken, aber keine Stimme, die laut wurde.
Irgendeine Mauer stand zwischen ihm und dem Raum in dem sein Körper lag.
Er versuchte tief einzuatmen, doch Schmerz flammte in ihm auf.
Aber der Schmerz war nicht in irgendeinem Körperteil. Er schien direkt in seiner Seele zu lodern.
Er wollte schreien vor Angst und Pein, aber er konnte es nicht! Murdock versuchte die Benommenheit, die sich wieder über sein Bewusstsein senkte, zu verdrängen, aber verzweifelt musste er mit ansehen, wie die Stimmen immer ferner wurden und der schwarze Traum ihn wieder zurückzog in die unendliche Dunkelheit.


Teil 6 und 7 sind definitiv meine Lieblingskapitel. Selbsttherapie nennt man das, glaub ich. Besser, als Antidepressiva zu schlucken, oder? Auf jeden Fall billiger. Okay --> schwarzen Humor wieder einpack