Er verwarf den Gedanken an die Nacht sofort wieder, denn wenn er nur an das Gefühl dachte, stellten sich seine Nackenhaare auf und das Adrenalin schoss durch seine Venen, wie eine süße Droge, die ihm den Kopf verdrehte. Seine Augen waren kurz glasig gewesen, ein Zeichen seiner geistigen Abwesenheit, doch dann waren sie wieder scharf. Sein Sinn war wieder voll da und sein scharfer Verstand war so aufmerksam als wäre er nie in seine Schwärmereien abgerutscht. Plötzlich hörte er hinter sich ein Geräusch, ein leises Rascheln. Wer war da bloß? Er drehte sich rum und sah direkt in die roten Augen eines jungen Mannes, der etwa 20 war, also zwei Jahre älter. „Silas..." der Angesprochene grinste leicht. Er war relativ schlank und seine Haut und sein Haar waren hell, ja fast weiß. Er war ein Albino. Maxim störte das nicht im geringsten, denn er und Silas verstanden sich gut, und das Aussehen spielte nun wirklich keine Rolle. Im Gegenteil, Maxim achtete für gewöhnlich nicht auf das Aussehen seiner Freunde, zumindest nicht so sehr wie es andere Leute taten. Dennoch, er mochte Silas Hautfarbe. Warum wusste er auch nicht genau, aber er wusste, dass Silas etwas besonderes war, denn es gab nicht viele Menschen, die unter Albinismus litten. Silas litt, man konnte es nicht anders nennen. Oder er hatte gelitten, das kam auf das Auge des Betrachters an... doch er holte Maxim schnell aus seinen Gedanken. „Der Boss will uns sehen. Alle." Maxim sah ihn erschrocken an. Irgendetwas musste geschehen sein, sonst wären sie nicht zu ihrem Chef beordert worden, das geschah nur selten. Sehr selten, meistens in äußersten Notfällen. Maxim sah Silas an. „Okay... dann mal los!" Silas ließ seine Flügel rascheln und erhob sich in die Luft. Ihn würde keiner entdecken, dafür hatte er gesorgt. Maxim dagegen verwandelte sich in eine Krähe und ließ sich den Spaß, durch die erschrockene Menschenmenge zu jagen, nicht nehmen. Wer wusste, was da auf sie zukam. Silas flog über den Himmel und grinste, als plötzlich eine Krähe neben ihm auftauchte, die Flügel ausbreitete und neben ihm herflog, fast wie ein Schatten. Sie drehten scharf nach rechts ab und landeten kurz darauf unbemerkt in einer Gasse, wo Maxim sich zurückverwandelte. Dann gingen sie langsam ins „Hauptquartier", in dem sie sich öfters trafen. Sie wurden von einem Mann gefilzt, obwohl er sie eigentlich kennen müsste, und waren wesentlich später drin, als sie geplant hatten. Maxim sah einen anderen, der in ihrer Nähe stand- Andraj. Ihm wurde anders, aber auf eine angenehme Art und Weise. Andraj war schon immer nett zu ihm gewesen, er hatte ihn eingewiesen und mit ihm trainiert. Wenn Maxim sich alles durch den Kopf gehen ließ fiel ihm auf, dass er von Andraj mitunter das Meiste gelernt hatte. Er betrachtete ihn kurz, denn sie hatten sich lange nicht mehr gesehen. Andraj war relativ groß, größer als Maxim und hatte lange, dunkelbraune Haare. Er war meistens schlicht in schwarz oder weiß gekleidet, wobei er auch rot und dunkles grün gerne mochte, das wusste Maxim. Andrajs Gesichtszüge waren nicht wirklich zu beschreiben, aber es ließ ihn anders erscheinen, als er wirklich war. Irgendwie... härter. Maxim sah ihn weiter an. Andrajs Augen waren von einem dunklen grün-braun, und er trug ein wenig Bart. Ja, Andraj konnte sich sehen lassen, zumindest in Maxims Augen. Er ging zu ihm. „Hey!" Andraj schien geträumt zu haben, denn er schrak auf und sah Maxim verwirrt an. Dieser konnte sich ein freches Grinsen nicht verkneifen. „Oh, hey! Wie geht's dir?" „Na ja... soweit ganz gut." „Hast du dich erholt?" Maxim nickte. „Ja. Der Jetlag war ganz schön heftig." Andraj grinste bei Maxims letzten Satz. „Hab ich gemerkt." Maxim grinste verlegen. „Jaaa... ich weiß, du hast zig mal versucht, mich anzurufen, aber ich hab's wortwörtlich verpennt." Andraj musste ein Lachen unterdrücken. „Das habe ich gemerkt. Aber Hauptsache ist, dass es dir besser geht"
Andraj fühlte ein Kribbeln in der Magengegend, als Maxim ihn ansah. Er hatte ihn gradewegs aus seinen Tagträumen gerissen, aber er konnte ihm nicht böse sein. Nicht, wenn Maxim ihn so ansah und grinste. Er hatte ihn drei Wochen nicht gesehen und es schien, als hätte er sich verändert. Er sah sich den jungen Mann vor seiner Nase ganz genau an, auf der Suche nach kleinsten Veränderungen. Maxim war nicht groß, aber auch nicht besonders klein, Andraj sah es als gesundes Mittelmaß an und schätzte ihn auf ca. 180 cm. Seine Haare waren rabenschwarz, lockig und waren etwa schulterlang, vielleicht etwas länger. Seine Haut war blass und seine braunen Augen stachen hervor. In ihnen blitze etwas, ein Funken Frechheit, den Maxim schon besessen hatte, als Andraj ihn kennen gelernt hatte. Er wusste es noch ganz genau, auch wenn es vier Jahre her war. Die Begegnung sah er vor seinem Inneren Auge als würde sie just in diesem Moment geschehen.
- Flashback -
Es war ein Sommertag mit angenehm warmen Temperaturen. Der erste Sommertag in diesem Jahr, und so genoss Andraj ihn, indem er ein wenig durch die Stadt bummelte. Er mochte freie Tage, denn sie erlaubten ihm, auch mal auszuspannen. Er ging weiter und genoss auch weiterhin die warmen Strahlen, die seine Lebensgeister weckten und ihn mit einem angenehmen Kribbeln erfüllten. Als er so durch die Menschenmassen bummelte fiel ihm ein blasser Junge auf, der ganz in schwarz gekleidet war. Von eben diesem ging eine merkwürdige Aura aus, stark und dunkel wie die Nacht. Lange war kein Schwarzer mehr „geboren" worden, doch was ihn am meisten wunderte, war, dass sie ihn nicht bemerkt hatten. Er beschloss, den jungen Schwarzen „einzufangen". Spontan stellte er sich lautlos hinter ihn und zog ihn von der Straße weg. Der Junge wehrte sich, versuchte es zumindest, doch Andraj war stärker, sodass sein Gegenüber keine andere Chance mehr sah, als seine Flügel zu zeigen. Diese waren groß und Nachtschwarz. Andraj sah ihn an. „Hatte ich also Recht..." meinte er. Es klang eher nach einer Feststellung als nach einem Triumph. „Keine Angst, ich tu dir nichts. Ich bin auch schwarz." Er sah ihn an. „Komm mit... ich werde dich den anderen vorstellen!" Der junge Mann sah ihn an, dann jedoch nickte er und ließ seine Flügel verschwinden. Zusammen gingen die beiden in Richtung Hauptsitz.
Keiner von beiden hätte sich träumen lassen, dass ihre Beziehung sich mal wesentlich vertiefen würde...
- Flashback ende -
