Disclaimer: Alles JK Rowling. Nix mein.
A/N: Für
alle, die tatsächlich immer noch lesen, was ich schreibe (auch
wenn's lang lang her ist).
Für alle, die mir eine Review
geschrieben habe – das tut irgendwie jedes Mal wieder aufs Neue
gut, sie zu lesen.
Für alle namenlose Leser, von denen ich
hoffe, dass es ihnen auch ein wenig gefallen hat.
Leider hat meine Formatierung nicht so akzeptiert wie ich es gerne gewollt hätte, na ja, nach so langer Zeit ist das aber wahrscheinlich das geringste Problem von Brandzeichen.
Warnung: H/D, implizierter Character Death
Asche
Asche zu Asche,
Staub
zu Staub.
Dunkel wird es, und still.
Ein Morgen gibt es
nicht.
Juni 1998
Es regnete. Ziemlich lange schon, den ganzen Tag und fast die ganze Woche. Er stand Wache, war längst vollkommen durchnässt. Sein Umhang, seine Schuhe, seine Hose, alles war vollkommen vom Regen durchweicht und er wünschte sich, der Regen würde ihn genauso durchweichen, vielleicht auflösen und vielleicht könnte der Regen ihn dann forttragen, fortschwemmen. Irgendwohin, egal wohin, nur fort. Fort von hier.
Seine Finger fühlten sich klamm an, obwohl es eigentlich nicht kalt war, aber sie waren trotzdem steif und ungelenk, und er genoss dieses Gefühl. Er selbst befand sich in etwa im selben Zustand, war seltsam erstarrt und kalt, kam sich vor, als würde er sich in Zeitlupe bewegen, oder als wäre die Welt um ihn herum plötzlich schneller geworden, als müsse sie vor ihm davonlaufen. Vielleicht hatte die Welt Angst vor ihm bekommen. Und vielleicht hatte sie recht damit.
In der Ferne ertönte der Ruf eines Käuzchens, langgezogen und klagend. Wieviel Zeit war vergangen, seit er seinen Posten bezogen hatte? Er wusste es nicht, aber es hatte auch keine Bedeutung. Die Zeit hatte an Bedeutung verloren, in dem Moment, als er gegangen war. Er kannte den Grund nicht, vielleicht gab es gar keinen, und was machte es auch schon. Es gab Dinge, die wollte man nicht wissen - und es gab Dinge, die wusste man besser nicht, so viel hatte er inzwischen begriffen. Er überlegte, ob das die letzte und entscheidende Lektion war, die man lernen musste. Er hatte es gelernt. Auf die schmerzhafte Weise.
Unwillkürlich ballte er die Hände zu Fäuste. Heiß wallte es in ihm auf... ja, was? Verletzter Stolz? Hass? Trauer? Oder einfach nur Einsamkeit? Den Kopf gegen den kalten, nassen Stein der Mauer gelehnt starrte er hinaus Richtung Verbotenem Wald. Das Gewirr aus Büschen und Bäumen schien undurchdringlicher und ungastlicher als jemals zuvor. Er fühlte den unbändigen Wunsch, Feuer zu legen. Den Wald niederzubrennen, zu sehen, wie die Flammen sich holten, was ihnen gehörten. Sie würden sich langsam emporfressen, erst die niedrigen Büsche und das dürre Gehölz ergreifen. Und dann würden sie höher schlagen, immer höher, bis sie schließlich auch die Wipfel der höchsten Bäume erreicht hätten. Und der ganze Verbotene Wald würde ein einziges Flammenmeer sein. In Gedanken hörte er das Knistern und Knattern und Prasseln des Feuers, er hörte das Gellen und das Blecken der züngelnden, geifernden Flammen. Und vor allem hörte er die Schreie der Monster und Wesen, die dort ihr Zuhause hatten, ihre Hilfeschreie würden einem Chor gleichen, der verzweifelt um Hilfe rief in einer Sprache, die doch niemand verstehen würde. Viele würden es nicht rechtzeitig schaffen, den Waldrand zu erreichen, das sichere Gebiet von Hogwarts, und sie würden ein Opfer des Feuers werden. Ihr Asche würde den Boden bedecken, auch den Ort, an dem sein letzter Freund das Leben verloren hatte. Und er selbst den letzten Rest Menschlichkeit. So kam es ihm vor.
Die Fantasie gefiel ihm.
Er zog seinen Zauberstab hervor und richtete ihn auf den Wald. Sein Mund war schmal, kaum mehr als ein dünner rötlicher Strich in seinem blassen Gesicht. Aber wahrscheinlich würde seine Macht von hier oben aus nicht reichen, er war zu weit entfernt. Zu weit entfern vom Wald, zu weit entfernt von sich selbst. Trotzdem ließ er den Stab nicht sinken. Vor seinen Augen lief bereits ein weiterer Film ab. In einer anderen Welt, einer anderen Zeit hörte er sich Worte sagen, Worte, die einmal seine Eltern in den Tod gerissen hatten. Ein Blitz, ein grüner Blitz schoß aus seinem Stab hervor und suchte sich sein Ziel, der Zauber war gierig, er sehnte sich danach, Leben zu nehmen. Er hörte sich selbst lachen.
„Kämpfst du gegen Gespenster, die niemand außer dir selbst sehen kann?"
Die Stimme war leise, so leise, unglaublich leise und vertraut, dass er für einen winzigen Moment dachte, sie gehörte zu seinem Tagtraum. Aber das war nur der Bruchteil einer Sekunde, kaum mehr als ein Atemzug, ein Wimpernschlag. Mit der fließenden Bewegung eines Schwertkämpfers drehte er sich um, den Stab noch immer ausgestreckt, aber jetzt nicht mehr auf den weit enfernten Wald gerichtet, sondern auf die Gestalt, der die Stimme gehörte. Draco Malfory sah noch genauso aus, wie er ihn in Erinnerung hatte. War tatsächlich so wenig Zeit vergangen? Er machte einen Schritt auf ihn zu, und Draco bewegte sich aus dem Schatten heraus, den der Bogen der Türe geworfen hatte, die auf die Schlossmauer führte. Als er jetzt im Licht stand, erkannte er sofort, dass der erste Eindruck getrogen hatte. Draco hatte sich verändert, sein ohnehin schmales Gesicht war noch hagerer geworden, blasser, so blass, dass er beinahe – durchscheinend schien. Unter seinen Augen lagen Schatten, dunkle Ringe, aber seine Haare und seine Kleidung waren noch immer so gepflegt als würde er Stunden dafür aufwenden. Was vielleicht sogar der Wahrheit entsprach.
Draco lächelte.
Und er, er hatte das Gefühl, dass um ihn herum die Welt in Scherben fiel. Etwas zerbrach. Er wollte etwas sagen, er wollte schreien, aber was er hervorbrachte, war kaum mehr als ein Krächzen, das nur ganz entfernt menschlich klang. Wie konnte er es wagen, hier aufzutauchen, hier einzudringen, wo war er gewesen, was wollte er, ihn töten, vielleicht, er musste... wo war er gewesen, wie konnte er. Einatmen, ausatmen, einatmen, ausatmen. Zwischen roten Wirbeln aus Zorn, die vor seinen Augen tanzten, konnte er erkennen, dass Draco auf ihn zu kam. Er wollte einen Zauber sprechen, er wollte... er wusste nicht genau, was er wollte, aber die Wut, die in seinem Bauch brodelte, wollte Draco Malfoy auf dem Boden sehen. Sich windend vor Schmerzen. Ein Hand legte sich auf seine, die ausgestreckt mit dem Zauberstab auf nichts deutete. Er spürte den sanften Druck, er spürte, wie er seine Hand sinken ließ, er spürte, wie nah Draco plötzlich war, er spürte, wie die eben zerbrochene Welt zurück an ihren Platz fiel, er spürte den Regen in seinem Haar, er spürte das Wasser, das aus einer fremden Strähne tropfte, er spürte eine Wange an seiner Wange, er spürte warmen Atem auf seiner Haut. Er spürte nichts mehr.
„Wo bist du gewesen?"
Er hatte keine Ahnung, wieviel später es war, als er diese Frage stellte. Er wusste, er hatte seine Pflichten als Wache vernachlässigt, er hatte seine Pflichten dem Orden gegenüber vernachlässigt und sich überwältigen lassen, nicht durch Waffengewalt sondern durch die Anwesenheit eines Menschen, den er so sehr vermisst hatte, dass er selbst nicht fassen konnte, zu einer solchen menschlichen Regung überhaupt noch fähig zu sein. Sie saßen einander gegenüber auf der Zinne der Schlossmauer, einer nasser als der andere, aber der Regen hatte aufgehört, und sie kamen einander gerade so nahe, dass sie sich nicht berührten.
Draco Malfoy ließ sich Zeit mit der Antwort, obwol er sicherlich nicht darüber nachdenken musste. Oder vielleicht doch, wer konnte schon genau sagen, was in Draco vorging. „Ich musste etwas zu Ende bringen."
Er hatte nicht wirklich erwartet, dass ihn die Antwort zufriedenstellen würde, schon allein deswegen, weil es keine zufriedenstellende Antwort gab. Trotzdem ärgerte ihn die arrogante Überheblichkeit, die Selbstverständlichkeit, mit der Draco zu erwarten schien, dass seine Antwort genügen würde. „Was glaubst du eigentlich, wer du bist? Glaubst du, du kannst kommen und gehen, wie es dir passt? Woher weiß ich, dass du kein Verräter bist und gerade jetzt der Feind hier eindringt, der Feind, den du eingeschleppt hast, um meine Freunde und die Menschen, die mir wichtig sind, um die Ecke zu bringen?" Er richtete den Oberkörper ein wenig auf, nahm die Haltung eines Anführers ein. „Ich will von dir wissen, wo du warst, was du gemacht hast, warum du wieder hier bist, ich will wissen, wie du herein gekommen bist und wie du mich gefunden hast. Ich will einen Beweis deiner Loyalität."
Draco lächelte nachsichtig, jenes Lächeln, das schon immer immer und immer das Bedürfnis geweckt hatte, es ihm aus dem Gesicht zu schlagen. Vielleicht sollte er das jetzt tun. Er glaubte bereits, das Blut riechen zu können, und er sah, wie es aus dem Mundwinkel des jungen Mannes sickerte und auf den hellen Hemdkragen tropfte, der unter dem schwarzen Umhang hervorlugte. Rotes, heißes Blut. Wie es wohl schmecken würde? Vielleicht sollte er Draco sein Grinsen aus dem Gesicht schlagen, um davon kosten zu können.
„Harry, glaubst du nicht, dass diese Fragen ein klein wenig spät kommen?" Draco ließ ihm keine Zeit zu einer Erwiderung, für die er wahrscheinlich sowieso keine Kraft gehabt hätte, weil seine Vision von Dracos Blut ihn noch zu sehr im Bann hielt. „Nein, lass. Ich will nicht mit dir diskutieren, hör mir einach zu. Danach kannst du mit mir machen, was du willst, meinetwegen kannst du mich auch gleich hier hinunter in den Schlossgraben werfen. Einverstanden?"
Die Aussicht, Draco die Mauer hinunter zu stürzen klang verlockend. Das Angebot klang beinahe fair. Harry nickte.
Draco nickte ebenfalls, als hätte er keine andere Reaktion erwartet. „Ich habe es dir schon einmal gesagt, aber vielleicht wirst du es jetzt verstehen..." Er rollte den Ärmel seines Umhangs und des Hemdes, das er darunter trug, nach oben und streckte Harry seinen rechten Arm entgegen. Auf der weißen Haut, unter der die Venen bläulich schimmerten, glänzte wie mit frischer Tinte gemalt ein Totenschädel, aus dessen leicht geöffnetem Mund sich eine Schlange ringelte. Das Dunkle Mal schien auf Dracos Haut eine Art Eigenleben zu führen, aber vielleicht war das auch nur eine optische Täuschung. Aber es war ganz offensichtlich, dass das Brandzeichen vom Ruf seines Meisters schwärzlich glühte. „Ohne Verrat würde man Treue nicht bemerken."
"Es ist soweit. Die Sonne geht unter."
"Und die Welt wird in Stücke zerfallen."
"Hast du Angst?"
"Nein. Nein, ich fürchte nichts."
"Aber das solltest du. Du solltest Angst haben."
Es ist Nacht. Dunkel. Oder vielleicht habe ich nur meine Augen geschlossen. Aber es ist auch schon lange nicht mehr wichtig, nichts könnte dunkler sein als mein Herz. Ich habe das Wesentliche aus den Augen verloren, alles ist bedeutungslos geworden, es gibt nichts mehr, das von Wert wäre, von Dauer oder Gewicht. Das Wesentliche hat meist kein Gewicht. Irgendwann einmal, vor langer Zeit – ich erinnere mich, ich erinnere mich – war das Wesentliche nur ein Lächeln, ein Lächeln auf seinem Mund, für das ich alles getan hätte. Ein Lächeln ist oft das Wesentliche. Man wird mit einem Lächeln bezahlt. Man wird durch ein Lächeln belebt. Und die Art eines Lächeln kann Schuld daran sein, dass man stirbt.
Er lächelt kaum, und jetzt sowieso nicht. Er schläft, ich weiß nicht, wie er schlafen kann. Spürt er nicht, wie ich zerbreche? Wie der letzte Rest meiner Welt langsam in Scherben zerfällt? Vielleicht nicht. Vielleicht kann nur ich es hören, hier in der Stille, die so laut ist, dass sie in meinen Ohren dröhnt. Ich frage mich, ob er Angst hat, so wie ich früher einmal. Er kann keine haben, sonst könnte er nicht so ruhig und tief schlafen. Aber ich habe jetzt auch schon lange keine Angst mehr. Zu weit bin ich schon gegangen, zu weit gekommen. Meine Angst habe ich als erstes verloren, und jetzt gibt es nichts mehr, das ich verlieren könnte.
Ein Glück, sagen sie, ein Glück, dass wir noch leben. Ich verstehe sie nicht. Wie können sie sich Glück wünschen, zu diesem sogenannten Glück, dass sie noch leben? Ich lebe noch, aber was ist Leben nach so viel Tod? Das Leben, es trägt die Schuld der Unschuld, der verlorenen Unschuld, die zur Schuld wurde im Krieg, Gegenschuld, die so schwer wiegt wie die Schuld der Gegner, der eigentlichen Mörder, die uns zu Mördern gemacht haben. Sie haben ihre Blutschuld abgewälzt auf uns, unentschuldigt. Unenetschuldbar. Wie oft muss ich sterben, dafür, dass ich nicht gestorben bin? Wie kann ich von Glück sprechen, wo ich doch nichts bin, nichts mehr, schon so lange?
Er sagt, dass es irgendwo noch immer Leben gibt, Leben bis es stirbt. Und dieses Leben atmet tief ein und aus und es singt und es schreit und es hasst und liebt und es sieht Farben und schläft und es wacht und ist traurig und altert. Irgendwo, sagt er, gibt es noch Leben. Leben bis es stirbt. Aber hier, in mir, da ist nichts als Hass gegen das Sterben, gegen das Sterben all dieser Menschen, meiner Freunde, meiner Eltern, der Menschen, die mir wichtig sind, und deren Sterben ich nicht verhindern konnte. Hass gegen das Sterben unter den Händen der Mörder von gestern, die vielleicht noch nicht tot sind und die vielleicht noch alt werden trotz ihrer Schuld, und Hass gegen das Sterben der Kinder von heute unter den Händen der Mörder von morgen, die heute schon leben. Ich habe gekämpft, gegen dieses Sterben gekämpft, und nur dieses Sterben fühle und denke ich. Jetzt noch, noch immer. Ich kann nicht aufhören, das Sterben ist in mir, so tief in mir, dass ich gar nicht mehr lebe, wie irgendwo noch das, was lebt bis es stirbt. Mein Leben dreht sich im Kreis, und der Kreis wird immer enger, zieht sich zusammen, immer mehr, bis mir irgendwann die Luft zum Atmen wegbleiben wird.
Er spricht nicht von Glück, er behauptet nicht, noch Hoffnung zu haben oder schon keine mehr. Er ist einfach, und je länger er ist, umso weiter und weiter entfernt er sich von mir, und es tut weh und doch fast schon nicht mehr weh. Er ist, und ich kann nicht mehr sein. Es ist Nacht, und es ist kühl geworden. Der Wind bewegt sich im Vorhang, die Fenster haben Ritzen. Jemand müsste ihn zudecken.
"Am Horizont verblutet Leben... überall Sterben."
"Ein schwacher Trost, dennoch, wir haben gesiegt."
"Was bedeutet das schon - Sieg?"
"Dass es vorbei ist."
"Es wird niemals vorbei sein."
Juni 1998
Stumm blickte er über das Feld, über das die Sonne gerade ihre ersten, vorsichtigen Strahlen streifen ließ. Der analytische Teil seines Gehirns registrierte vage, dass es lange dauern würde, alle Leichen zu bergen, und noch länger, alle zu identifizieren. Zu viele waren bis zur Unkenntlichkeit entstellt von Zaubern, deren grausame Macht vielleicht nicht einmal denen bewusst gewesen war, die sie gesprochen hatte. Wieviele Menschen hatte die letzte Nacht zu Mördern gemacht, und wieviele zu Opfern? Wahrscheinlich würde es nie eine Antwort auf diese Frage geben. Auch er selbst hatte getötet, hatte wieder getötet, aber er hatte vor scheinbar unendlich langer Zeit aufgehört, sich zu fragen, ob es ihm etwas ausmachte.
Jetzt hatte ein neuer Tag begonnen, und ihm blieb nicht mehr viel, was zu tun war, und auch nicht viel Zeit. Noch war er allein, aber bald wurden andere kommen um zu tun, was getan werden musste. Deshalb war auch er hier, um zu suchen, von dem er nicht hoffte, es zu finden, auch wenn er bereits die Gewissheit besaß, dass seine Hoffnung umsonst war. Er gab sich einen Ruck und ging den Hügel hinunter, hinab auf das Schlachtfeld, das einmal ein unschuldiges Kornfeld gewesen war, und das die Menschen mit ihrem Blut getränkt hatten.
Der süßliche Geruch von Tod kroch ihm in die Nase, und er musste nicht weit gehen, ehe er das erste bekannte Gesicht entdeckte. Aber natürlich würden ihm fast alle Gesichter bekannt sein, die Zaubererwelt war nicht besonders groß. Man kannte einander, wenigstens vom Sehen oder Hörensagen. Lange blickte er auf das Gesicht von Padma Patil hinunter. Wer mochte es gewesen sein, der ihr das Leben genommen hatte? Wer auch immer es gewesen war, er hatte es gründlich getan – und ihre zahlreichen Verletzungen, der leere schmerzverzerrte Blick und ihre geballten Fäuste ließen in ihm den vagen Eindruck entstehen, dass es kein leichter Tod gewesen war. Sie hatte um ihr Leben gekämpft, daran festgehalten und am Ende doch verloren.
Er ging weiter, stieg über Leichen hinweg, brauchte all seine Selbstbeherrschung, sich nicht die Nase zuzuhalten, und konnte nichts dagegen tun, dass ihm die Erinnerung nicht nur die Namen der Gefallenen nannte, sondern auch Szenen, die ihm ins Gedächtnis gebrannt waren. Ludo Bagman, ganz unsportlich von hinten mit einem einzigen Avada Kedavra getötet. Alecto. Er sah sie vor sich, wie sie mit seiner Mutter und seiner Tante Tee trank. Er hatte sie nie gemocht, trotz der Galleone, die sie ihm jedes Mal mit verschwörerischem Zwinkern zusteckte. Florean Fortescue. Es würde also nichts mit der Eiscafé-Neueröffnung werden. Dean Thomas, der in seiner verkrümmten Haltung jetzt selbst wie eine seiner Karikaturen aussah, die er stets mit blitzenden Augen gezeichnet hatte. Und schließlich, sein Vater. Lucius Malfoy hatte im Tod seine arrogante Eleganz verloren, er war nicht mehr der überhebliche, selbstsichere Aristokrat – sein ganzes Geld hatte ihm nichts genutzt, hier im Dreck der aufgequollenen Erde, mit dem blutigen Umhang, dem zerkratzten Gesicht und dem halbgeöffneten Mund war er nicht mehr, als eine Hülle. Leer und verbraucht. Nicht einmal ein letzter Abglanz des Schreckens, den er im Leben verbreitet hatte, war ihm geblieben.
Er ging neben seinem Vater in die Knie, die Arme vor der Brust verschränkt. Es waren nicht viele übrig geblieben von seiner Familie, aber vermutlich war das kein großer Verlust. Außerdem war er noch hier. Ein bitteres Lächeln huschte über sein Gesicht. Wer hätte das gedacht. Er selbst vielleicht am allerwenigsten. Aber er war hier, war noch da und am Leben. Das war mehr, als die meisten von sich behaupten konnten – seine Narben waren unsichtbar. Er legte die Hand über die Augen seines Vaters und schloss sie ihm, denn wenigstens das war er ihm schuldig. Mehr zu geben war er nicht bereit gewesen. „Incende quod adorasti." Nur einen Augenblick gönnte er sich, um an früher zu denken, an seine Kindheit, an damals, als sein Vater noch das Maß aller Dinge gewesen war. Dann erhob er sich und ging weiter ohne noch einmal zurückzublicken. Seine Mutter sollte er weder an diesem Tag finden, noch irgendwann später. Sie gehörte zu den vielen, die verschwunden blieben, spurlos, aber in seinem Inneren wusste er, was mit ihr passiert war.
Als er auf das Schlachtfeld zurückgekehrt war, war er der Einzige hier gewesen. Die Helfer hatten sich noch nicht formiert, um die Toten zu bergen und auf den Weg zu ihrer letzten Ruhe zu geleiten. Wahrscheinlich würde es noch eine Weile dauern, zu sehr waren alle paralysiert vom Schrecken dieses letzten Kampfes, und es würde einen starken Charakter brauchen, der in der Lage war, diese Aufgabe zu koordinieren. Draco wusste, dass Harry Potter sich dafür als gänzlich ungeignet erweisen würde. Harry war ein guter Anführer gewesen, einem Krieger gleich der sein Heer in die Schlacht führte. Aber Draco wusste auch etwas anderes, etwas, das er vor langer Zeit erkannt hatte. Etwas, das im schlaflose Nächte bereitet hatte. Etwas, das ihn zum ersten Mal in seinem Leben bis ins Mark erschüttert hatte: Harry Potter war genau das, ein Held in der Schlacht, ein Anführer im Krieg. Es schien, als wäre er für diese Aufgabe geboren, und es hatte Momente gegeben, da wäre er an dieser Aufgabe wohl beinahe zerbrochen. Aber er war nicht zerbrochen, im Gegenteil.
Er war an seiner Aufgabe gewachsen – und hatte sich immer mehr von der normalen Welt distanziert. Draco vermutete, dass er der einzige Mensch war, der erkannt hatte, dass Harry Potter mit seiner Aufgabe untergehen würde. Harry Potter, der große Zauberer, der den Dunklen Lord nicht nur einmal, sondern mehrmals besiegt und letztendlich vernichtet hatte, würde an einer ganz simplen Sache scheitern. Er würde daran scheitern, am Leben zu bleiben. Denn Harry war kein Phoenix. Das wusste Draco, er wusste es mit schlafwandlerischen Sicherheit, fast so, als könnte er in die Zukunft blicken. Und weil er das wusste, hatte er sich auf den Weg gemacht, Harry zu suchen. Nicht bei den anderen des Ordens, bei den anderen Zauberern. Nein, er suchte Harry bei den Toten, denen er jetzt mit Sicherheit schon näher war als allem anderen auf der Welt.
Und schließlich fand Draco ihn, seine Suche hatte Erfolg, und dass er Recht behalten hatte, versetzte ihm einen Stich. Harry Potter hockte auf dem Boden, sein Umhang war schmutzig und an mehreren Stellen zerissen, sein Haar noch wirrer als sonst. Er hockte neben der Leiche von Colin Creevey und starrte stumm ins Nirgendwo. Draco ließ sich langsam neben Harry nieder. So saßen sie eine lange Zeit, schweigend, ohne ein Wort zu verlieren. Irgendwann, wie auf ein geheimes Kommando hin, wandte Draco sich dem anderen zu und zog ihn in seine Arme. Harry blieb starr, er rührte sich nicht, aber Draco kümmerte das nicht weiter. Er hielt ihn einfach fest, und irgendwann flüsterte er leise: „Noch bist du da – wirf deine Angst in die Luft."
Es waren wohl weniger die Worte selbst als die Tatsache, dass er überhaupt etwas sagte, der den Bann brach. Harry lehnte seinen Kopf gegen Dracos Brust und weinte. Draco ließ ihn, hielt ihn fest auf eine Art, wie er ihn bisher nur einmal festgehalten hatte. Andere zu trösten war ihm fremd, er fand, dass es nicht seiner Art entsprach, und dennoch tat er es wohl. Irgendwie. Schließlich machte Harry sich los. Die Tränen hatten Spuren auf seinem Gesicht hinterlassen wie bei einem kleinen Jungen, der sich beim Spielen das Knie aufgeschlagen hatte. Draco blickte zum Himmel.
„So viel Blut, sieh es dir an, so viel Blut." Harrys Stimme klang heiser, „Und alles ist meine Schuld."
„Ich dachte, du wärst über die Märtyererphase hinaus."
Harry lächelte bitter, antwortete aber nicht. Draco strich mit den Fingern über das Gras neben sich. Der Boden fühlte sich aufgeweicht an, zu viele Menschen waren darüber hinweggetrampelt. Aber das Gras richtete sich bereits wieder auf, das Gras würde nicht klein bei geben. Menschen waren nicht wie Gras. Wieder schwiegen sie, wenn er genauer darüber nachdachte, hatten sie wohl öfter zusammen geschwiegen als miteinander geredet. Mit einem Mal bemerkte er, dass Harry ihn beobachtete. Er drehte den Kopf und fand diese irritierend grünen Augen auf sich gerichtet. Sie sahen sich an, forschend, und zwischen ihnen lag die Welt offen. Er glaubte nicht, dass sie noch Geheimnisse vor einander hatten, oder vielleicht war es eher so, dass jeder die Geheimnisse des anderen kannte, auch wenn dieser sie lieber für sich behalten hätte.
„Deine Eltern..."
Draco schnitt ihm das Wort ab, „Darüber gibt es nichts zu sagen. Das hatten wir bereits." Harry nickte, „Trotzdem solltest du wissen, dass es mir leid tut." Draco lächelte spöttisch: „Deine Lügen sind noch schlechter als deine pathetischen Reden. Aber du musst dir keine Mühe geben. Mir tut es auch nicht leid." Harry nickte wieder. Ganz plötzlich richtete er seinen Blick auf Colin Crevey, und sein Gesicht wirkte dabei, als würde er die Leiche des Jungen zum ersten Mal sehen. Draco sah, wie Harry schauderte. „Findest du es nicht abartig, dass ich hier sitze, zwischen den ganzen... den vielen..." „Den ganzen Toten, Potter. Nein, ehrlich gesagt überrascht mich das gar nicht. Es..." Draco hielt inne und dachte über seine Worte nach, „Es entspricht dir." Harry runzelte die Stirn, sagte aber nichts.
„Du hattest schon immer eine Vorliebe für Alpträume. Du konntest sie noch nie loslassen."
Harry sprang auf: „Vielleicht, weil ich dazu verdammt bin, in meinen Alpträumen zu leben!"
Auch Draco stand auf, gemächlich. Da standen sie, zwei Gestalten auf einem Schlachtfeld. Ihre Blicke hielten einander stand. Sie waren weit gekommen, fand Draco, es war lange her, dass sie einander zum ersten Mal begegnet waren, damals bei Madam Malkins. Sie waren weit gekommen, in der Tat. Aber alles im Leben hatte irgendwann einmal ein Ende, das war ein natürliches Gesetz. Asche zu Asche, Staub zu Staub. Und sie wussten es beide.
„Vielleicht, weil du dazu verdammt bist, mit deinen Alpträumen zu sterben."
"Ich halte dich nicht auf."
"Du bist noch immer hart."
"Wenn hart sein bedeutet, dass ich nicht deine Entschuldigung zu leben sein werde – dann ja."
"Ich bin nichts mehr, aber du, du bist nicht Nichts ohne mich."
"Ich weiß. Ich werde auch ohne dich noch sein."
"Wirst du mich vergessen?"
"Vielleicht. Eines Tages werde ich dich vielleicht vergessen können."
"Dann versuch es."
Finis
Incende quod adorasti ist ein Ausspruch von Remigius von Reims, einem fränkischen Bischof, den er bei der Taufe des fränkischen Königs Chlodwig gebrauchte. „Beuge nun, stolzer Sicamber, dein Haupt und unterwirf es dem sanften Joche Christi! Bete an, was du bisher verbrannt hast, und verbrenne, was du bisher angebetet hast!" Adora quod incendisti, incende quod adorasti!
Auch Noch bist du da – wirf deine Angst in die Luft ist „geklaut". Von Rose Ausländer.
That's ist, Brandzeichen wurde letzten Endes doch noch irgendwie vollendet, auch wenn das letzte Kapitel wahrlich kein Meisterwerk ist. Falls Fragen offen geblieben sind, so geschah das mit Absicht, was nicht zwangsläufig bedeutet, dass diese Fragen unbeantwortet bleiben müssen.
Noch mal ein Dank an alle, die bis hierher durchgehalten haben!
