Kapitel 3 – In a perfect world you'd still be here

Die letzten Ferienwochen vergingen schnell und als Amy am 1. September mit ihrem Bruder das Gleis 9 ¾ betrat, befand sie sich wieder bester Gesundheit – zumindest physisch. Psychisch jedoch war ihr Zustand mehr oder weniger unverändert. Zwar hatte sie ab und an etwas lichtere Momente, in denen sie sogar ansprechbar war, aber meistens zog sie sich doch in sich zurück und ließ niemanden an sich heran. Noch immer trug sie größtenteils schwarz, zum Teil auch weil sie sich einfach daran gewöhnt hatte.

„Hey, Kleiner..." ,meinte Amy zu ihrem Bruder, „Ich muss nach vorne zu den Vertrauensschülern. Du kommst klar, oder?" „Natürlich" ,erwiderte dieser, „Ich bin ja schon groß." Beinahe wäre Amy ein Lächeln über die Lippen gehuscht, doch ihre Muskeln hatten sich schneller um entschieden, als Amy überhaupt reagieren konnte und so nickte sie nur. Den besorgten Blick, mit welchem ihr Bruder ihr hinterher schaute, bemerkte sie nicht, da sie schon auf dem Weg zu den vorderen Abteilen war, wo die Vertrauensschüler saßen.

In eben diesem Abteil angekommen, ließ sie sich auf ihrem Platz neben David fallen und ließ ihn reden. Er machte das wunderbar und so waren Amys Gedanken schon bald wieder am Abschweifen. Erst als ihr Name fiel, kam sie wieder zu sich und schaute sich fragend um. „Ich habe gefragte, ob du noch etwas anzufügen hast?" ,wiederholte David nach einem Moment seine Frage. „Äh... nein" ,nuschelte Amy, „Sind wir dann fertig?" David nickte seufzend und schon war Amy aus dem Abteil verschwunden. Verzweifelt suchte Amy nach einem leeren Abteil, wo sie ihre Ruhe hätte, aber nachdem sie auch beim zweiten Durchqueren des Zugs keins gefunden hatte, setzte sie sich zu Lenny, Ciara und Luca ins Abteil.

Irgendwann war sie wohl eingeschlafen und erneut plagten sie ihre Träume. Diesmal träumte sie jedoch nicht von Cedrics Tod oder Cho und Cedric. Nein, diesmal waren da nur Cedric und sie selbst. Es war ein herrlicher Sommertag, sie saßen am See und unterhielten sich, nicht mehr und nicht weniger. Nur hin und wieder wurde der idyllische Schein durch ihr eigenes Lachen unterbrochen. Sie waren glücklich und genossen die Zeit miteinander. Amy streckte gerade die Hand aus, um nach der von Cedric zugreifen, als dieser plötzlich verschwunden war. Wiederholt rief sie seinen Namen, doch anstatt, dass Cedric wieder auftauchte, begann sich auch ihre Umgebung aufzulösen, verschwand in einem Nebel aus grünem Licht. Amy wollte schreien, doch es war als hätte jemand ihre Luftröhre durchschnitten.

Dann wachte sie plötzlich auf. Sie war von ihrem Sitz gerutscht und saß nun verdutzt auf dem Boden. Ihre drei Freundinnen musterten sie besorgt, bis Lenny ihr wieder auf ihren Platz half. „Alles in Ordnung?" ,fragte dann drei Münder synchron. Amy nickte und wischte sich die Haare aus dem Gesicht. „Hab nur schlecht geträumt" ,erwiderte sie nuschelnd. „Ja, das haben wir mitbekommen" ,meinte Lenny und legte einen Arm um die Freundin, „Du hast geschrieen." „Geschrieen?" ,hakte Amy nach und schaute die Freundin verwundert an. Diese nickte: „Ja, nach Cedric. Immer wieder. Wir haben versucht dich aufzuwecken, aber du hast nichts mitbekommen. Wirklich alles okay?" Amy beteuerte erneut, das es ihr gut ginge und fragte, ob sie denn bald da seien. „In ner Stunde" ,erwiderte Luca.

Als Amy die Große Halle betrat, hielt sie für einen Moment inne und lauschte. Es war alles wie immer und genau das störte Amy. Alle machten weiter wie vorher, nur ihr gelang das nicht. Für sie war die Zeit fest gefroren, aber der Rest der Welt tickte weiter – unaufhaltsam und Amy kam nicht mehr hinterher. Sie blieb stehen, schaute melancholisch zurück auf die Vergangenheit, während die Welt vorantrieb und den Blick starr auf die Zukunft gerichtet hatte. Wieder einmal schüttelte Amy den Kopf über sich selbst und ließ sich auf ihrem Platz fallen. Der Platz ihr gegenüber war besetzt, aber nicht von dem, von dem er hätte besetzt sein sollen. Amy musste sich zusammen reißen, um Liam nicht anzufahren.

Der Abend zog fast spurlos an Amy vorüber, beinahe hätte sie sogar verpasst, wie ihr Bruder nach Hufflepuff geschickt wurde, aber Lenny hatte sie freundlicherweise darauf aufmerksam gemacht. Nun wollte sie sich mit den anderen auf den Weg zum Gemeinschaftsraum machen, doch McGonagall rief sie zurück. Amy entschuldigte sich bei den anderen und schlurfte wieder zurück zu McGonagall, bei welcher schon David stand.

„Nun, zunächst einmal möchte ich ihnen noch ein mal gratulieren" ,erklärte die stellvertretende Schulleiterin, „Natürlich werden nun einige neue Pflichten auf Sie zukommen, aber das werde ich Ihnen morgen nach dem Unterricht genauer erklären. Ihre Räumlichkeiten sind hinter dem alten Wandteppich im zweiten Stock neben der Statue von Eibhleann der Schönen. Sie müssen dreimal über den Teppich streichen und dabei ‚Knuddelmuff' sagen. Ich wünsche Ihnen eine Gute Nacht." Amy nickte und wollte David nach draußen folgen, doch sie wurde zurückgehalten. McGonagall musterte sie einen Moment besorgt, bevor sie meinte: „Ist alles in Ordnung mit Ihnen, Miss Even? Kann ich Ihnen irgendwie helfen?" Amy schüttelte den Kopf. Warum wollten ihr bloß immer alle helfen? Sie wollte keine Hilfe.

Schnell verabschiedete sich Amy von Professor McGonagall und folgte David nach oben in den zweiten Stock. Schroff strich sie über den Teppich, nuschelte Knuddelmuff und trat ein. Anstatt sich umzuschauen, wie David es tat, lief Amy jedoch gleich weiter durch eine der beiden Türen zu ihrer Rechten. Dort ließ sie sich auf dem breiten Himmelbett fallen und starrte aus dem Fenster. Es ging ihr gewaltig auf den Keks, dass sich alle Sorgen um sie machten. Sie wollte doch nur ihre Ruhe, weiter in ihrer eigenen kleinen Welt hausen. Zwar gefiel ihr diese Welt, welche sie einzuengen und zu erdrücken schien, nicht, aber für die Weiten der Realität war sie noch nicht bereit.

Amy wusste nicht, ob sie eingeschlafen war oder noch immer wachte, ob es Traum oder Halluzination war, aber als sie das nächste Mal die Augen öffnete, stand Cedric am Fenster und lächelte sie an. Bei seinem Anblick musste sie automatisch lächeln, das erste Lächeln seit Monaten. Cedric streckte die Hand nach ihr aus und Amy stand auf, um auf ihn zu zugehen. Doch kurz bevor sich ihre Fingerspitzen berührten, klopfte es an der Tür und der Schatten von Cedric verstand. Amy fuhr herum und starrte David entgeistert an.

„Was ist?" ,fauchte sie und wand sich wieder von ihm ab. David setzte mehrmals zum Sprechen an, hielt dann aber wieder inne. „Lenny ist im Wohnzimmer... ich dachte du willst... äh, vielleicht auch rauskommen!" ,brachte er schließlich hervor. Amy seufzte, nickte aber schließlich und folgte David nach draußen. Dort saßen sie nun und schwiegen sich an. Amy auf einem Sessel und David und Lenny auf dem Sofa, schwer darum bemüht einander nicht anzufassen, obwohl sie seit dem Ball kaum die Finger von einander lassen konnten.

Nach etwa 10 Minuten wurde es Amy jedoch zu dumm. Sie stand wortlos auf und verschwand wieder in ihr Zimmer. Kaum hatte sie sich jedoch auf ihrem Bett fallen gelassen, wurde die Tür erneut aufgerissen und Lenny kam herein. Diese setzte sich auf den Bettrand und musterte die Freundin ratlos, bevor sie schließlich das Wort ergriff: „Es tut mir Leid. Ich dachte nur... keine Ahnung. Es war komisch." Amy nickte, das war es wirklich gewesen. Es herrschte für einen Moment Stille, bevor Lenny sich ein Herz nahm und die Frage stellte, die ihr schon lange auf der Zunge brannte. „Du weißt, dass du immer zu mir kommen kannst. Aber ich hab das Gefühl, das tust du nicht... bist du sicher, dass du mir nichts erzählen willst?"

Die Angesprochene starrte einige Momente nachdenklich in die Luft, bevor sie sich schließlich zu einer Antwort durchrang: „Nein... eigentlich nicht. Warum?" Lenny wusste genauso gut wie Amy, dass das nicht der Wahrheit entsprach. Aber was sollte sie tun? Sie konnte Amy nicht dazu zwingen mit ihr zusprechen. Und so gab sie den Gedanken weiter zubohren schnell wieder auf und ließ sich stattdessen nur zu einem lauten Seufzer hinreißen.

Amy schaute schuldbewusst zur Seite. Was hätte sie denn sagen sollen? Für die Wahrheit war sie noch nicht bereit. Sie konnte Lenny noch nicht anvertrauen, was sie fühlte, war es doch für sie selbst fast noch zu viel. Eines Tages würde sie es ihr mit Sicherheit erzählen, aber dieser Tag lag noch in weiter Ferne. Amy musste erst einmal wieder mit sich ins Reine kommen, bevor sie das auch mit ihrer Umwelt konnte. „Na ja" ,machte Lenny und stand auf, „Ich geh dann mal wieder, du siehst müde aus. Gute Nacht, Amy."

Leise verschwand Lenny wieder aus dem Zimmer und Amy schaute ihr nach, bis sie die Tür lautlos hinter sich schloss. Dann vergrub sie sich unter ihrer Decke. Es bereitete ihr ein schlechtes Gewissen, dass sie nicht mit Lenny darüber sprechen konnte. Sie wollte es ihr doch sagen. Aber jedes Mal, wenn sich die Chance dazu ergab, legte sich ein Schalter zwischen ihrem Hirn und ihrem Mund um, sodass die Verbindung unterbrochen war. Dann drehte sich schon beim bloßen Gedanken ihr Geheimnis irgendjemandem anzuvertrauen ihr Magen um. Sie fühlte sich im Gefängnis ihrer eigenen Gefühle gefangen und hatte das dumpfe Gefühl, dass die messerscharfen Wände immer näher auf sie zukamen.

Wieder einmal wurde Amy bis spät in die Nacht von ihren Gedanken wach gehalten und im Schlaf schließlich von ihren Träumen verfolgt, sodass sie am nächsten Morgen aussah wie ein Zombie. Nachdem sie sich angezogen hatte, ließ sie David, dem ein Kommentar auf der Zunge lag, stehen und lief die Treppen nach unten. Sie ging nicht zum Frühstück in die Große Halle, sondern ging daran vorbei nach draußen. Was sollte sie am Frühstückstisch, wenn sie sowieso kaum etwas essen würde? Hier konnte sie wenigstens ihr Vater nicht dazu zwingen.

Amy ließ sich am Seeufer nieder und starrte auf die spiegelglatte Fläche. Es dauerte einen Moment bis sie ihr Spiegelbild darin erkennen konnte. Aber da war nicht nur ihr Gesicht. Ein blasses Gesicht mit grau-blaue Augen blickte sie verstohlen grinsend an. Amy wusste genau, dass es nur ein Trugbild ihrer Wünsche war, trotzdem wand sie sich um, um enttäuscht zu werden. Natürlich saß Cedric nicht neben ihr. Ihr stiegen die Tränen in die Augen. Sie wollte, dass das aufhörte. Warum musste ihr ihre Fantasie immer wieder solche miserablen Streiche spielen? War es nicht schon schlimm genug, dass Cedric weg war? Musste sie ihn jetzt auch noch überall sehen, obwohl er doch nicht da war?

Kurz bevor es klingelte, bewegte Amy sich zurück ins Schloss. An der Tür zur Großen Halle kamen ihr Lenny, Ciara und Luca schon entgegen. „Hey, wo warst du?" ,fragte Lenny und hielt ihr ihren Stundenplan und zwei Toastbrote entgegen. Amy nahm das Pergament und zuckte mit den Schultern. „Frische Luft schnappen" ,nuschelte sie, während sie den Blick über den Stundenplan wandern ließ. „Amy?" ,fragte Lenny und wedelte mit den Broten vor Amys Nase herum. Amy schaute auf und schüttelte den Kopf: „Danke, ich hab keinen Hunger. Wir haben Kräuterkunde... gehen wir?" Sie ging voran zur Flügeltür nach draußen, während Lenny und die anderen Beiden einen lauten Seufzer ausstießen.

Amy stand teilnahmslos an einem Kasten mit Euphorbia lathyris, den sie sich mit Lenny und Ciara teilte, während Professor Sprout einen Redeschwall über sie hernieder ließ. Alle lauschten der rundlichen Lehrerin, um ja nichts falsch zu machen, während Amy ganz anderen Gedanken nachhing. Kräuterkunde war ihr Lieblingsfach gewesen – hier hatten sich Cedric und sie immer wie Kinder benehmen können. Sie hatten sich, immer darauf bedacht, dass Sprout nichts mitbekam, mit Erde beworfen, sich die neusten Witze erzählt oder völlig grundlos gelacht.

Doch dieser Erinnerungen schienen ihr nun so weit weg und es war unmöglich, sie wieder zurück zuholen. Alles schien ein ewiger Trott zu sein, ein vor sich Hinvegetieren ohne Sinn. Und Amy hatte sich damit abgefunden. Sie hatten den Kampf gegen die Trostlosigkeit aufgegeben, falls sie ihn überhaupt schon begonnen hatte. Es gab so viele nette Menschen, die ihr gerne dabei geholfen hätten, diesen Kampf zuführen, doch Amy schlug ihre helfenden Hände achtlos von sich. Sie konnte sich nicht erklären, woran das lag. Vielleicht war es die Gewohnheit, vielleicht war es die mangelnde Bereitschaft für diesen Kampf oder aber es war Angst. Die Angst vor dem, was kommen würde, wenn sie sich wieder für ihre Umwelt öffnen würde. Angst vor neuerlichem, vielleicht noch schlimmerem, Schmerz, wer wusste schon was es noch für schreckliche Dinge auf dieser grausamen Welt gab.

„Amy?" ,rief jemand und Amy wurde angestupst, um aus ihrer Gedankenwelt geholt zu werden. Es dauerte einige Moment und Amy musste einige Male blinzeln, bis sie wieder ganz in die Realität zurückgekehrt war. Das Gewächshaus war bis auf sie und Lenny wie leer gefegt. „Wo sind die Anderen?" ,wollte Amy wissen und schaute sich erstaunt um. Dann klingelte es vom Schloss her und Amy zuckte zusammen. „Die Stunde ist schon rum?" ,fragte sie verdutzt. „Genau genommen, sind schon zwei Stunden um" ,antwortete Lenny mit einem ernsthaft besorgten Ausdruck in ihren Augen und gerunzelter Stirn.

Den Rest des Tages brachte sie ähnlich gedankenverloren hinter sich und am Abend ließ sie sich nur noch entnervt auf einen Sessel fallen und starrte die Wand an. Erst als David sie ansprach, schreckte sie aus ihrer apathischen Starre auf und schaute ihn verwundert an. Wann war er rein gekommen? „Ich soll dir sagen, dass morgen Abend Qudditchtraining ist" ,meinte er und ließ sich auf dem Sofa fallen. Amy musterte ihnen einen Moment ratlos, bevor sie schließlich leicht nickte. Qudditch, richtig, sie war ja Hüterin.

„Wer ist denn der neue Kapitän?" ,fragte Amy mehr oder minder interessiert und drehte sich so, dass sie David anschauen konnte. „Mickey Newton" ,antwortete dieser, „Aus der... uh, 5. glaub ich. Ist auch gleichzeitig der neue Sucher, er soll ganz gut sein. Aber Ced wird er wohl nicht... 'Tschuldigung." Amy zuckte nur mit den Schultern. Es störte sie nicht, solange die Leute nicht gerade in Vergangenheit über ihn sprachen, schließlich dachte sie sowieso die ganze Zeit an ihn. „Naja, wird sich dann schon noch zeigen" ,murmelte Amy und stand auf, „Ich werd dann mal ins Bett gehen. Nacht, Dave."

Auch der nächste Tag verging schleppend und Amy war kurz davor das Training ausfallen zulassen, raffte sich aber dann doch zusammen und ging mit ihrem Sauberwisch nach unten zum Feld. Dort wartete der Rest der Mannschaft schon auf sie, da sie geschlagene 15 Minuten zu spät war. So fing sie sich auch gleich den ersten Rüffler von ihrem neuen Kaptain ein, der sie aber nicht weiter interessierte. „Können wir dann jetzt anfangen?" ,fragte sie tonlos, nachdem Mickey seine Gardinenpredigt beendet hatte. Dieser schaute sie mit offnem Mund an, wurde von Luca, welche neben ihm stand, angestubst und nickte schließlich.

Amy stieg auf ihren Besen und stieß sich leicht vom Boden ab. Einen Moment schwebte sie nur knapp über dem Boden, bevor sie schließlich ganz abhob und zu den Torringen schoss. Zum ersten Mal seit Ewigkeiten fühlte sie sich wieder richtig frei, sogar frei von ihren Gedanken. Es schien als würde der kühle Wind nicht nur ihre Haare durch die Gegend pusten, sondern auch die Erinnerungen aus ihrem Kopf. So beflügelt und befreit schoss sie quer über das Feld und bemerkte nicht, wie Luca, die Jägerin im Team war, sie glücklich beobachtete.

Doch kaum das sie von Mickey wieder auf den Boden zurückgerufen wurden, um das weitere Vorgehen zu besprechen, waren das plötzliche Hochgefühl verschwunden und Amy kroch wieder in ihren Kokon zurück. „Ich denke, wir machen heute nur ein kleines Trainingsspielchen ohne Sucher. Geoffrey macht dafür den zweiten Tormann und ich schau mir das Ganze an. Mannschaft 1 Amy, Luca, Jeff und Ewan gegen den Rest. Los, los."

Hätte Amy sich als Hüterin etwas mehr konzentriert und nicht jeden zweiten Ball durch die Ringe gelassen, hätte ihr Team vielleicht nicht 340 zu 160 verloren. Doch so war das Unglück unvermeidbar und Amy der Depp. Während die Andern sich beim Umziehen beeilten, um rechtzeitig zum Abendessen zukommen, ließ Amy sich Zeit und kam erst eine halbe Stunde später aus dem Umkleideraum der Mädchen. Doch das hatte Mickey nicht daran gehindert, dort auf sie zuwarten. Gemeinsam gingen sie zum Schloss nach oben.

Es dauerte einen Moment, bis Mickey die Stimme erhob: „Ich weiß, dass du es im Moment ziemlich schwer hast, aber... wenn du dir nicht ein bisschen mehr Mühe gibst und dich zusammenreißt, müssen wir uns einen neuen Hüter suchen. Es tut mir Leid, aber..." „Ist schon in Ordnung" ,fuhr Amy ihm leise ins Wort, „Ich werd's versuchen, aber ich kann nichts versprechen. Wenn ich schlecht bleibe, schmeiß mich einfach raus. Ich kann dich verstehen, ich würde das Selbe machen." „Es tut mir wirklich Leid... Kommst du nicht mit essen?" Sie waren inzwischen an der Großen Halle angekommen. Amy wollte weiterlaufen, Mickey hob die Tür auf. Sie zuckte mit den Schultern, eigentlich hatte sie keinen Hunger. „Na gut..." ,meinte sie dann, drehte wieder um und folgte ihm.

Lenny und die Anderen machten große Augen, als Amy sich plötzlich auf ihrem alten Platz niederließ. „Was machst du denn hier?" ,fragten dann auch schon drei neugierige Mäuler. Amy zuckte nur mit den Schultern und nahm sich zwei Brote und die Wurst. „Sicher, dass du das auch isst?" ,fragte Lenny, die noch immer ziemlich verwirrt schien. Mit dem Brot schon zwischen den Zähnen, nickte Amy und kaute. Erst jetzt fiel ihr auf, dass ihr durch das mangelnde Essen einiges an Energie verloren gegangen war. So blieb es nicht nur bei den zwei Broten.

Doch das Essen bekam ihr nicht so gut, wie sie es sich erhofft hatte. Als sie etwa eine Stunde später im Bett lag, bemerkte sie gerade noch rechzeitig, wie ihr furchtbar übel wurde und sie rannte ins Badezimmer. Es dauerte eine Weile bis sie wieder vom Klodeckel loskam, dann ging sie zum Waschbecken und spülte sich den Mund aus, bevor sie sich gegen die Duschwanne lehnte. Sie fühlte sich hundsmiserable. David ließ fragen, ob alles in Ordnung wäre und Amy bejahte leise. In einer raschen Bewegung wischte sie sich die Strähne aus dem Gesicht. Zu rasch, mit ihrem Daumen hatte sie sich über die Wange gekratzt, aber inzwischen war ihr selbst das egal. Sie ließ den Kopf gegen die Glaswand der Dusche knallen und seufzte laut. Warum geriet denn plötzlich alles noch mehr aus den Fugen? War vorher denn nicht schon alles schlimm genug gewesen?

Sie hatte eigentlich sogar geglaubt, dass es nicht noch schlimmer kommen könnte, aber gerade hatte sie sich selbst vom Gegenteil überzeugt. Das Essen würde sie in nächster Zeit doch eher wieder meiden. Stumme Tränen bahnten sich einen Weg über ihre Wangen und Amy schniefte leise auf. „Oh Ced" ,flüsterte sie mit tränenerstickter Stimme in die Dunkelheit hinein und schluchzte, „Hilf mir." Ihre Bitte blieb, wie erwartet, ungehört und vor allem unbeantwortet. Was sollte sie nur tun? Sie wollte nicht so weiterleben, das machte sie fertig. Amy sah plötzlich etwas am Waschbecken funkeln und schluchzte noch lauter auf.

Eigentlich war es keine schlechte Idee, aber den Mut dazu brachte sie nicht auf. Sie versuchte mehrmals sich aufzuraffen und zum Waschbecken zugehen, doch es klappte nicht. Die Energie dazu fehlte ihr also auch, sie kam sich so erbärmlich vor. Nicht einmal dazu war sie fähig. Wo war nur die lustig, lebensfrohe Amy, die immer einen klugen Spruch parat hatte? Sie fehlte ihr.