Kapitel 6 – Looking for a sign of life
Obwohl sie sich Lenny nun anvertraute, lief für Amy längst nicht alles so gut, wie sie sich es vielleicht erhofft hatte. Sie versuchte zwar wieder mehr zu essen, aber es wollte ihr aber noch immer noch nicht so recht gelingen. Zwar aß sie nun regelmäßiger, sprich etwa ein bis zwei Mal in der Woche, aber noch immer klappte das mit dem drin behalten nicht so ganz wie es sollte. So sehr sie sich bemühte, sie nahm einfach nicht zu.
Doch das Essen sollte nicht ihr einziges Problem sein. Noch immer drifteten ihren Gedanken besonders im Unterricht ab und so war es nicht sonderlich verwunderlich, dass sie von ihrer Umgebung nicht viel mitbekam. Dies wirkte sich wiederum nicht gerade positiv auf ihre Noten auf, was ihr am letzten Tag vor den Ferien mehrmals mitgeteilt wurde.
Sowohl Professor Sprout als auch die Professoren Snape und Flitwick teilten Amy mit, dass sie sich ranhalten musste, wenn sie nicht durchfallen wollte. Doch das war noch harmlos im Vergleich zu der Standpauke, die sie sich von McGonagall hatte anhören durfte.
„Miss Even" ,meinte die Verwandlungslehrerin nachdem sie Amy zu sich gerufen hatte, „Im Anbetracht der Tatsachen haben sowohl ich als auch die anderen Lehrer unsere Erwartungen an Sie deutlich herunter geschraubt, aber Sie wissen selbst am besten, dass es so nicht weitergehen kann." Amy zog nur eingeschüttert den Kopf ein und zuckte zaghaft mit den Schultern. Natürlich wusste sie das.
„Wenn Sie nicht bald etwas dagegen tun" ,fuhr McGonagall fort, „Kann ich Ihnen nicht versprechen, dass Sie ihre Abschlussprüfungen bestehen. Ich weiß es klingt hart, aber Sie müssen endlich weitermachen. Natürlich fällt es schwer, sich nach so einem Verlust auf andere Dinge zu konzentrieren, aber der Tod von Mr. Diggory ist nun schon ein halbes Jahr her. Sie können nicht ewig frühere Zeiten betrauern, Sie müssen nach vorne schauen. Cedric hätte sicherlich auch nicht gewollt, dass Sie sich so hängen lassen. Denken Sie doch mal nach, wenn sie die UTZ nicht schaffen und das Jahr wiederholen müssen, welcher Arbeitgeber würde Sie dann schon noch nehmen? Ich will Sie nicht niedermachen, ich versuchen nur Ihnen zu helfen. Miss Even, haben Sie mir überhaupt zu gehört?"
Amy nickte heftig und konnte es sich gerade noch verkneifen, die Augenbraue nach oben zu ziehen. „Natürlich habe ich Ihnen zu gehört, Professor. Ich... Ich werde mich bessern." Professor McGonagall nickte und damit war das Gespräch beendet. Schuldbewusst ging Amy aus dem Klassenzimmer und nach oben auf ihr Zimmer, wo sie sich im Bett fallen ließ. McGonagall hatte Recht, dass wusste Amy genau. Aber es fiel ihr so schwer sich im Unterricht oder am Nachmittag während ihrer Hausaufgaben zu konzentrieren. Noch immer schweiften ihre Gedanken viel zu oft zu Cedric und ihren gemeinsamen Tagen. Sie konnte doch nichts dagegen tun, immer wieder versuchte sie endlich damit aufzuhören. Doch sie war schon längst nicht mehr Herrin ihrer Gedanken. Weder wenn sie zu Cedric wanderten, noch wenn sie zu Jamie abdrifteten.
Die ersten Ferientage zogen nur langsam vorwärts. Amy war eine der wenigen Schüler, die über Weihnachten in Hogwarts blieben. Lenny, Ciara und Luca waren alle nach Hause gefahren, aber Amy war der Weg nach Irland für gerade mal zwei Wochen einfach zu lang. Dave war neben ihr der Einzige aus ihrem Jahrgang, mit dem sie sich verstand, der über die Ferien ebenfalls da blieb. So hatte sie wenigstens ein bisschen Ablenkung.
Es war der Nachmittag des Heiligabends, als Amy sich erneut nach Hogsmeade begab, um Jamie zu besuchen. Zuerst schaute sie im Eberkopf vorbei, doch der Besitzer teilte ihr mit, dass Jamie heute frei hatte. Also ging sie zu der Seitengasse, in die sie Jamie vor ein paar Wochen gefolgt war. Sie hatte etwas Probleme mit den Klingelnschildern, da sie nicht einmal seinen Nachnamen kannte. Doch bevor sie sich überhaupt für irgendeins entscheiden konnte, ging die Haustür von selbst auf und sie fand sich Jamie gegenüber.
„Malone" ,meinte Jamie und sein Blick folge Amys ausgestrecktem Arm, dessen Hand eben noch verzweifelt über die Namensschilder gehuscht war, „Jedenfalls nehme ich an, dass du zu mir wolltest. Willst du reinkommen?" Amy ließ ihren Arm sinken und folgte Jamie, der die Tür wieder aufgeschlossen hatte, nach drinnen. Sie gingen die Treppen zu seiner Wohnung nach oben und durchquerten die Küche, um sich im Wohnzimmer nieder zu lassen.
Amy saß, das Geschenk für Jamie in den Händen drehend, auf dem Sofa und schaute sich um. Der Raum war nur ansatzweise festlich geschmückt, nämlich in Form eines kleinen Christbaums. Dieser wiederum war mit roten und silbernen Kugeln, ein paar Girlanden und Kerzen geschmückt. Amy mochte es, sie hatten den Hehl, den die Leute aus Weihnachten machten, noch nie verstanden. Sie mochte es lieber klein und gemütlich.
„Äh... das ist für dich" ,nuschelte Amy dann und reichte Jamie das in silbernes Packpapier eingewickelte Geschenk. Jamie nahm es, mit in Falten gelegter Stirn, entgegen und wollte gerade eine Frage stelle, als Amy auch schon fort fuhr. „Als kleines Dankeschön für... alles" ,meinte sie ein wenig verlegen. Mit einem kleinen Lächeln legte Jamie das Geschenk auf den Tisch und bedankte sich. „Willst du was mit essen?" ,fragte er dann, „Ich hab Lasagne gemacht." Amy hatte schon angesetzt ihm zu erklären, dass sie keinen Hunger hatte, als er sie unterbrach: „Sag nicht, dass du keinen Hunger hast. Du weißt genauso gut wie ich, dass das nicht stimmt. Ich will nicht mies sein, aber man sieht dir an, dass du seit Monaten kaum noch etwas isst. Also behaupte nicht, dass du keinen Hunger hast."
Amy öffnete den Mund und schloss ihn gleich wieder, während sie Jamie anstarrte. Langsam machte er ihr doch ein wenig Angst. Nicht nur, weil er so genau über sie Bescheid zu wissen schien, sondern auch, weil er sich traute es auszusprechen. Bis her hatte sie niemand, selbst Lenny nicht, auf ihr Gewicht angesprochen und dann kam dieser Typ, den sie erst einmal in ihrem Leben gesehen hatte und sagte ihr knallhart ins Gesicht, dass sie zu dünn war. „Naja, es ist nur..." ,stotterte sie dann, „Dass mir vom Essen immer schlecht wird..." Jamie verzog keine Miene, doch in seinem Inneren begann es zu rattern. Das war nicht gut. „Das... ähm, liegt wahrscheinlich nur daran, dass du das Essen nicht mehr gewohnt bist... Du solltest langsam wieder anfangen. Mit wenig... weißt schon."
Amy konnte nicht anders. Ein Lächeln huschte über ihre Lippen und verweilte dort für einen Moment, bevor es wieder verschwand. Sie wusste nicht wie, aber irgendwie schaffte es Jamie immer wieder die Gefühle in ihr hervor zu locken, die sie schon so lange vermisste, wenn auch nur für einen kurzen Moment. Deshalb nahm sie auch seinen Vorschlag an und ging mit ihm in die Küche, um ein wenig Lasagne mit ihm zu essen.
Mühsam würgte Amy einen Bissen nach dem anderen ihre Speiseröhre hinunter. Das Essen fiel ihr unheimlich schwer, weil sie die ganze Zeit daran denken musste, dass sie es später wahrscheinlich wieder erbrechen müsste. Doch Jamie ließ nicht locker, bis sie auch den letzten Krümel ihres sowieso schon mickrigen Stück Lasagne gegessen hatte. Es fiel ihm schwer, zu sehen, wie sie sich quälte, aber er wusste, dass es sein musste. Sie konnte so nicht weiter machen, irgendjemand musste ihr das begreiflich machen. Und da ihre Freundinnen das scheinbar nicht schafften, hatte er sich dessen angenommen. Er war es Cedric schuldig, er war es ihr schuldig und er war es seinen Gefühlen schuldig, obwohl er sich noch nicht einmal sicher war, welche Art von Gefühlen er ihr gegenüber hegte.
„Die war wirklich lecker" ,meinte Amy, nachdem sie aufgegessen hatte, obwohl sie keinen Bissen hatte genießen können. Jamie schüttelte nur leicht den Kopf, verkniff sich jedoch jegliches Kommentar. Es herrschte einen Moment Schweigen, in dem nur kurze Blicke gewechselt wurden, bevor Jamie das Wort ergriff: „Wie bist du hergekommen? Ich glaube nicht, dass heute ein Hogsmeade- Tag ist. Überhaupt, warum bist du nicht nach Hause gefahren?" Amy musste ein wenig schmunzeln bei seiner Neugierde und dieser Anblick brachte auch Jamie zum Lächeln, da er es einfach unheimlich süß fand. Dagegen musste Amy feststellen, dass ein Lächeln bei Jamie sich weniger auf seinen Lippen als viel mehr in seinen Augen abspielte. Er verzog kaum eine Miene, doch seine Augen funkelten wie frisch poliertes Silber. Das faszinierte sie.
Als sie sich wieder von seinen Augen losgerissen hatte, antwortete sie: „Was soll ich denn zu Hause, wenn ich hier genauso gut rumsitzen kann? Außerdem ist Irland nicht gerade um die Ecke. Und nein, heute ist kein Hogsmeade- Tag, aber ich wollte dir Frohe Weihnachten wünschen. Also hab ich mich halt hergeschlichen. War nicht sonderlich schwer, ist ja eh kaum ein Schwein in Hogwarts." Amy musste nach ihrem Redeschwall Luft holen, so viel hatte sie in den letzten Monaten zusammen nicht mehr geredet. Erneut huschte ein kurzes Lächeln durch Jamies Augen, bevor er nickte. „Davon geschlichen also? Dann solltest du dich besser nicht erwischen lassen... aber ich find's schön, dass du so was nur für mich auf dich nimmst. Leider hab ich kein Geschenk..." „Oh, das brauchst du auch nicht" ,unterbrach Amy ihn leise, „Du hast schon genug für mich getan."
Nun war Jamies Lächeln sogar auf seinen Lippen deutlich erkennbar. Seine Mundwinkel hatten sich leicht nach oben gezogen und darum hatten sich kleine Fältchen gebildet, wie früher immer bei Cedric. Überhaupt musste Amy feststellen, dass so verschieden Cedric und Jamie auch schienen, waren sie sich doch so ähnlich. Sie hatte Jamie erst einmal getroffen, trotzdem hatte sie das Gefühl, als würde sie ihn schon ewig kennen. Bei ihm fühlte sie sich sicher und wusste, dass sie ihm alles erzählen konnte. So ähnlich hatte sie sich nach ihren ersten unsicheren Tagen in der Zauberwelt auch bei Cedric gefühlt. Es war ihr fast ein bisschen unheimlich.
„Über was denkst du nach?" ,fragte Jamie plötzlich unerwartet und riss sie damit aus ihren Gedanken. Amy musterte ihn einen Augenblick nachdenklich, so als ob sie seine Frage nicht ganz verstanden hätte, bevor sie schließlich antwortete, dass es nicht so wichtig wäre. Jamie ließ locker, seine Menschenkenntnis, von der er sich einbildete, dass er ziemlich viel hatte, sagte ihm, dass es tatsächlich nicht wichtig war oder sie nicht darüber reden wollte. Diese grünen Augen schauten ihn mit einem unleserlichen, stumpfen Blick an, dem er nicht standhalten konnte. Dem einzigen Blick, dem er bisher nicht hatte standhalten können, war der seines Vaters, aber das hatte ganz andere Gründe. Nicht die Angst ließ ihn bei Amys Blick die Augen senken, sondern pures Mitgefühl. Jamie wusste, wie es war eine Mutter zu verlieren, aber dann auch noch den besten Freund, in den man zu allem Unglück auch noch über beide Ohren verliebt gewesen war? Nein, das konnte er sich bei Weitem nicht vorstellen und er wollte es auch nicht.
Nach einer erneuten Schweigepause ergriff Jamie erneut das Wort: „Und wie läuft's sonst so bei dir? Schule und so, alles klar?" Amy wollte bejahen, doch als sie die Lippen öffnete, kam nur ein ‚Nein' heraus. Sie wusste nicht warum, aber sie konnte ihn einfach nicht anlügen. „Nein?" ,hakte Jamie nach, „Was ist los?" Nur zögernd bekam er eine Antwort: „Naja... ich bin nicht gerade das, was man aufmerksam nennt im Unterricht... was sich wohl auf meine Noten ausgewirkt hat. Das ist zumindest das, was die Lehrer mir sagen."
Jamie nickte, so etwas hatte er sich gedacht. Wahrscheinlich drifteten ihre Gedanken im Unterricht ständig ab, sodass sie gar nichts mehr mitbekam. Aber wie sollte er ihr klar machen, dass sie das ändern musste? Erstens Mal musste sie das selbst begreifen und selbst wenn, was könnte gerade er bewirken? Er war doch der jenige gewesen, der im letzten Schuljahr von der Schule gegangen war, weil es ihm zu blöde gewesen war. In Sachen Schule, Verantwortungsbewusstsein und Disziplin war er nun wirklich nicht gerade ein Vorbild. Trotzdem versuchte er es: „Ich will dich ja zu nichts zwingen, aber ewig kannst du so nicht weiter machen, dass weißt du hoffentlich."
Es kam, wie er es sich gedacht hatte. Amy schaltete auf stur, wahrscheinlich hatte sie diesen oder ähnliche Sätze schon tausendmal gehört. „Und das sagst du mir?" ,fragte sie und zum ersten Mal klang ihre Stimme nicht mehr so dumpf und teilnahmslos, sondern gereizt, „Wo du doch die Schule abgebrochen hast... Warum eigentlich? Warum bist du im letzten Schuljahr abgegangen? Und warum bist du nach Schottland gekommen? Warum gerade nach Hogsmeade?" Von einer Sekunde auf die andere hatte sich die gereizte Amy in eine neugierige Amy verwandelt, was Jamie überraschte. Er wusste zwar, dass er insofern eine Wirkung auf sie hatte, dass sie ihm gegenüber nicht ganz so apathisch wirkte, wie gegenüber anderen Leuten, aber dass sie sich so sehr für ihn interessierte, erstaunt ihn tatsächlich.
Amy bemerkte Jamies Zögern und fragte sich, ob sie etwas Falsches gesagt hatte. Er wusste so viel über sie, aber sie wusste von ihm nichts. Nichts, außer dass er im Eberkopf arbeitete und aus Kanada kam und irgendwie schien es so, als wollte er es dabei belassen. Sie hatte das Gefühl, es gab einen großen Schatten in seiner Vergangenheit, den er versuchte zu verstecken, nicht nur vor den anderen, sondern auch vor sich selbst. Irgendetwas war passiert über das er nicht reden wollte und um sich nicht zu verplappern, erzählte er lieber gleich gar nichts von sich. Das gefiel Amy nicht. Ihr Verstand sagte ihr, dass sie Jamie in Ruhe lassen sollte, aber ihr Herz sagte ihr, dass sie alles über ihn wissen wollte.
„Ich hatte keine Lust mehr auf die Schule" ,antworte Jamie schließlich auf zumindest eine ihrer Fragen. Aber dabei beließ er es auch und Amy beschloss, sich vorerst damit zufrieden zu geben. Es stand ihr nicht zu ihn so aus zuquetschen. Obwohl er das Selbe auch mit ihr tat, wusste sie, dass es nicht richtig war, da es einen Unterschied zwischen ihnen gab. Amy wollte und musste über diese Dinge reden, um damit klar zukommen, Jamie wollte das nicht. Und Amy war sicherlich die Letzte, die ihn dazu zwingen würde. Erstens war es nicht ihre Art und zweitens wusste sie, wie schwer es war, sich jemanden anzuvertrauen. Was immer Jamie belastete, wenn er darüber reden wollte, würde er es schon zeigen.
Um die erneute Stille zu unterbrechen, fragte Amy nach der Uhrzeit. „Kurz vor 8 Uhr" ,erwiderte Jamie, „Willst du schon gehen?" „Nein, war nur so ne Frage" ,nuschelte Amy, „Aber wenn ich gehen soll..." „Quatsch so war das doch nicht gemeint... Ich freu mich, wenn du noch bleibst." Amy gab keine Antwort, sie war zu sehr damit beschäftigt ihren Blick wieder von diesen silbernen Augen abzuwenden. Auch Jamie schwieg, schwer damit beschäftigt Amys grüne Augen aus seinen Gedanken zu bekommen. Warum nur fühlte er sich so angezogen von diesem Mädchen? Warum war er sich so sicher, dass er wieder nicht aufhören könnte an sie zu denken, auch wenn sie schon längst seine Wohnung verlassen hatte?
„Wieso bist du über Weihnachten eigentlich nicht bei deinen Eltern?" ,fragte Amy und stockte kurz, bevor sie doch weiter fragte, „Oder... bei deiner Freundin?" Sie wusste nicht warum, aber sie hoffte, dass er ihr sagen würde, dass er keine Freundin hatte. Das alles verwirrte sie. „Ich hab keine Freundin..." ,kam nach einigen Sekunden die gewünschte Antwort. Eine Antwort auf die Elternfrage blieb er ihr jedoch schuldig und Amy fragte sich warum. Hatte der Schatten in seiner Vergangenheit etwas mit seinen Eltern zu tun? Hatte er vielleicht mit ihnen gebrochen und war deswegen nach Schottland gekommen? Oder war es noch schlimmer? Amy wollte es sich lieber nicht vorstellen. Sie hatten in den Muggelnachrichten oft genau gesehen, was manche Eltern mit ihren Kindern taten. Aber eigentlich glaubte sie nicht, dass Jamie solche Eltern hatte. Woher hatte er sonst die guten Gene?
Die Beiden unterhielten sich noch eine Weile und als Amy das nächste Mal einen Blick auf die Uhr warf, war es schon weit nach neun. „Oh nein" ,stöhnte sie und sprang vom Sofa auf, „Ich muss zurück." Sie wuselte im Wohnzimmer herum, um ihren Schal, ihre Schuhe und ihre Jacke einzusammeln, bevor sie sich wieder Jamie zu wand. „Soll ich dich bringen?" ,fragte dieser und war schon dabei in seine Stiefel zu schlüpfen. Amy wollte wiedersprechen, entschied sich aber dann doch dagegen und nickte. Nachdem beide auch Jacke und Schal angezogen hatten, machten sie sich auf den Weg nach Hogwarts.
Immer wieder suchten sich vereinzelte Schneeflocken ihren Weg nach unten auf die dickweiß bedeckten Wiesen und Felder, während Amy und Jamie schweigend über die, zum Glück geräumten, Straßen tapsten. Als sie am Schlosstor ankamen, blieben sie nebeneinander stehen und starrten verlegen auf ihre Füße. Beide wussten nicht so recht, wie sie sich verabschieden sollten. Ein einfaches ‚Tschüss', eine kurze Umarmung? Jamie dachte sogar für einen kurzen Moment an einen kleinen Kuss auf die Wange, bevor er sich in Gedanken selbst dafür schlug. Was dachte er denn nur schon wieder? „Naja" ,machte Amy, um die peinliche Stille zu durchbrechen, „Mach's gut Jamie... Wir sehen uns!"
Jamie schrak aus seinen Gedanken auf und nickte heftig. „Ja, natürlich..." ,nuschelte er, „Komm einfach vorbei, wenn ihr mal wieder ein Hogsmeadewochenende habt. Nicht wieder davon schleichen, ja? M... mach's gut, Amy." Die Worte schienen einen Moment zwischen ihnen zu schweben, bevor sie davon huschten. Amy wollte sich schon umdrehen und davon laufen, als Jamie sie am Ärmel packte, sie umdrehte und sie in seine Arme zog. Ein Prickeln zog sich über Amys Wirbelsäule bis nach oben zu ihren gingerfarbenen Haaren und die hellblonden Härchen auf ihrem Arm standen zu Berge. Sie fühlte sich plötzlich so sicher und geborgen und wollte sich nie mehr von ihm lösen. Doch schneller als sowohl ihr und auch Jamie lieb war, ließ er sie wieder los und stopfte seine Hände zurück in seine Hosentaschen.
„Bye" ,murmelte er und wand sich ab, um langsam seinen Heimweg anzutreten. Er hörte Amy seinen Abschiedsgruß erwidern, doch er kümmerte sich nicht darum und ging weiter. Was war mit ihm los gewesen? Er kannte dieses Gefühl, dass er eben gehabt hatte, als er Amy im Arm gehalten hatte, aber es war schon so lange her... und es war bei weitem nicht so intensiv gewesen wie gerade eben. Dabei war er sich sicher gewesen Grace geliebt zu... Moment mal, was dachte er da überhaupt? Nein, nein. Er war sicherlich nicht in Amy... er kannte sie doch gerade mal ein paar Wochen, hatte erst zwei Mal mit ihr gesprochen.
Amy dagegen stand ans Tor gelehnt und blickte Jamie nach. Was war das gewesen, dieses Gefühl? Es kam ihr so fremd vor und doch so bekannt. Und plötzlich fiel es ihr wie Schuppen von den Augen, so hatte sie sich immer bei Cedric gefühlt. Sie hatte es zwar nie richtig gemerkt, da sie ihre Gefühle immer verdrängt hatte, aber es war doch immer da gewesen. Aber das würde ja bedeuten... „Quatsch" ,grummelte Amy, wand sich um und ging zum Schloss.
Sie wollte gerade die Treppen zu ihren Räumlichkeiten nach oben gehen, als hinter ihr eine tiefe, ruhige Stimme zu sprechen begann. Dumbledore! Amy fuhr herum und suchte verzweifelt nach einer Ausrede. „Miss Even" ,meinte Dumbledore und kam auf Amy zu, „Ich frage nicht, wo du warst und du brauchst mir keine Lügen erzählen. Aber trotzdem muss ich dich bitten mit in mein Büro zu kommen, es gibt einiges, was du mir erzählen musst und eine ganze Menge mehr, dass ich dir erzählen muss. Also, wenn du mir bitte folgen würdest."
Verdutzt schaute Amy den Schulleiter an, bevor sie ihm die Treppen bis zum siebten Stock nach oben folgte. Dort blieb er vor einem Wasserspeier stehen und nannte ihm das Passwort. Der Wasserspeier schob sich zur Seite und gab den Blick auf eine steinerne Treppe frei. Kaum hatten Dumbledore und Amy die erste Stufe betreten, fuhr die Treppe von selbst nach oben und sie kamen vor einer großen, dunklen Holztür zum Stehen. Der Schulleiter öffnete die Tür und ließ Amy eintreten, bevor er ihr selbst in das riesige Büro eintrat.
„Setzt dich" ,meinte er dann zu Amy und ließ sich selbst auf dem Stuhl hinter seinem Schreibtisch nieder. Zögernd nahm Amy auf dem Stuhl gegenüber Platz und schaute sich nervös in dem vollgestopften Raum um. Was gab es so wichtiges, dass er sogar darüber hinwegsah, dass Amy sich davon geschlichen hatte und erst mitten in der Nacht zurückkam? Amy konnte sich nicht daran erinnern, etwas noch schlimmeres getan zu haben. Die Stille hielt noch einige Momente an und machte Amy fast wahnsinnig, bis Dumbledore sich schließlich räusperte. Er musterte Amy einen Moment mit seinen blauen Augen, bevor er schließlich das Wort ergriff: „Du hast einiges durchgemacht in letzter Zeit und darum habe ich ein Angebot für dich, auch wenn ich glaube, dass du es inzwischen nicht mehr annehmen wirst, was vielleicht ganz gut so ist. Ich weiß es nicht."
Amy war nun noch perplexer als zuvor und hatte den Mund schon geöffnet, um eine Frage zu stellen. Doch nach einer Handbewegung von Dumbledore schloss sie ihn wieder. „Du fragst dich, was ich meine, nicht wahr? Also, lass mich erklären" ,fuhr er fort, „Vor etwa 1 ½ Jahren, zum Beginn von Cedrics 6. Schuljahr ist dir etwas seltsames passiert, nicht wahr? Es sollte nun auch dein 6. und gleichzeitig erstes Hogwartsjahr werden. Du kamst von einer Muggelwelt, in der man Zauberer und Hexen nur aus Büchern kennt, in unsere Zauberwelt und wusstest nicht wie oder wieso. Ich habe mich lange mit diesen Fragen beschäftigt und kam zu verschiedenen Antworten. Nun, auf das wieso kann ich dir auch keine Antwort geben, es war wohl Schicksal, aber das wie kann ich dir beantworten... Das heißt, wenn du es wissen möchtest."
„Ich... ähm" ,stotterte Amy, „Ja, das möchte ich." Sie hatte gewusst, dass dieser Mann viel wusste. Aber so viel? Woher wusste er, dass sie aus der Muggelwelt kam? Sonst war es doch auch niemandem aufgefallen, wirklich niemandem. Und warum hatte er nicht schon früher etwas gesagt? Und von was für einem Angebot sprach er? Er hatte sie wirklich neugierig gemacht. „Ich habe mehrere Bücher und Freunde von mir zu Rate gezogen, bis ich mir ganz sicher war. Erst einmal musst du wissen, dass es Parallelwelten gibt. Deine Muggelwelt existiert parallel zu dieser Zauberwelt und einigen anderen. Viele Leute können sich das nicht vorstellen, aber es ist wirklich so. Und in jeder Welt gibt es eine Amy Hannah Even, so auch in unserer Welt. In dem Moment, indem du durch die Absperrung gegangen bist, die eine Art Tor zwischen den verschiedenen Welt ist, muss wohl etwa folgendes abgelaufen sein: Die Amy aus unsere Welt muss wohl zur selben Zeit ebenfalls durch die Absperrung gegangen sein, allerdings in die andere Richtung. So hat sich das Tor geöffnet und ihr habt eure Plätze getauscht. Du kamst in die Zauberwelt und sie in die Muggelwelt."
Amy schwirrte der Kopf von all den Information und sie war vollkommen verwirrt. Parallelwelten, Hunderte von Amy Evens? Hilfe! Doch bevor sie ihre Gedanken sortieren konnte, sprach Dumbledore schon weiter: „Das klingt vielleicht etwas verwirrend, aber es ist wirklich so. Es gibt sicherlich noch mehr solcher Tore, aber sie sind bis jetzt noch nicht bekannt. Außerdem glaube ich, wird es nur dann geöffnet, wenn zwei identische Personen aus verschiedenen Welten zur gleichen Zeit hindurchgehen. Trotzdem habe ich ein Angebot für dich, denn ich glaube der Weg zwischen diesen Welten lässt sich auch auf andere, kompliziertere, Weise zurücklegen... Deshalb möchte ich dich fragen, ob du, nach allem, was dir hier passiert ist, wieder zurück möchtest, Amy!"
Die verschiedensten Erinnerungen an ihr Zeit in der Zauberwelt schossen in Amys Gedanken. So viele schöne Momente hatte sie in dem Jahr mit Cedric gehabt, dafür waren die, die folgten, als er gegangen war umso schlimmer und es wurde noch immer nicht viel besser, obwohl schon ein halbes Jahr vergangen war. Warum also nicht wieder ‚nach Hause' zurückkehren und die guten Erinnerungen mitnehmen und die schlechten hinter sich lassen? In ‚ihrer' Welt hatte sie immer noch Joel... oder nicht? „Was ist mit der anderen Amy?" ,fragte Amy leise, „Muss sie wieder hier her zurück? Weiß sie überhaupt...?"
„Nun, wenn du zurück möchtest, wäre es sicherlich das Beste wenn jeder wieder in seiner eigenen Welt wäre" ,antworte Dumbledore, „Alles andere würde nur Verwirrung stiften. Aber wenn Amy nicht zurück möchte, lässt sich bestimmt auch ein anderer Weg finden. Und nein, sie weiß nichts von Cedrics Tod und ich gedenke es auch dabei zu belassen, es sei denn du entscheidest dich dafür zurück zu gehen, dann muss sie es natürlich wissen." Amy nickte leicht und wurde wieder ihren Gedanken überlassen. Sie rutschte tiefer in ihren Stuhl und vergrub die Hände in einander, sie wusste partout nicht, was sie tun sollte. Zurückkehren, bleiben? Beides schien seine Vor- und Nachteile zu haben. Aber was wollte sie?
In der Muggelwelt hatte sie Joel. Aber er war auch der Einzige... und sie war sich nicht sicher, ob sie immer noch klar kommen würde mit ihm oder überhaupt mit ihrer ehemaligen Welt. War das noch ihr zu Hause? Oder gehört sie hier her, in die Zauberwelt? Was wenn es ihr in ihrer alten Welt auch nicht besser gehen würde, wenn sie genauso verloren wäre wie hier? Wäre es nicht sinnvoller hier zu bleiben, hier wo sie immerhin drei Freundinnen hatte, die ihr zur Seite standen? Was wenn die andere Amy sich in Joel verliebt hatte, ebenso wie sie selbst sich in Cedric verliebt hatte, aber mehr Glück gehabt hätte? Würde sie das verkraften? Noch einen geliebten Freund zu verlieren, wenn auch auf ganz andere Weise? Sollte sie, sollte sie nicht? Amy fühlte sich hin und hergerissen, wusste nicht mehr wo sie hingehört oder wo sie hingehören wollte. Lenny, Ciara und Luca standen Joel gegenüber und Amy konnte sich nicht entscheiden, außer...
Etwas silbernes wischte alle anderen Gedanken aus ihrem Kopf. Es waren ein paar Augen, die ihr eindeutig mitzuteilen versuchten, dass sie nicht gehen sollte. Amy sog hörbar die Luft ein. Nein! Er konnte nicht ihr einziger Beweggrund zum Bleiben sein... überhaupt, was hatte er schon wieder in ihrem Kopf verloren? Amy schüttelte leicht den Kopf und bemerkte dabei Dumbledores Blick, der auf ihr ruhte, gelassen, aber doch ein wenig abwartend.
„Ich glaube ich möchte hier bleiben, Sir" ,meinte sie schließlich, nachdem sie tief Luft geholt hatte, „Trotz... Cedrics Tod habe ich mich hier schon eingewöhnt und kann mir eigentlich nicht mehr vorstellen in der Muggelwelt zu leben. Das ist nicht mehr mein zu Hause, ich gehöre hier her. Und ich glaube auch, dass es der anderen Amy nicht anders gehen wird. Anderthalb Jahre sind eine lange Zeit... Außerdem habe ich hier Freunde gefunden, die mir helfen über all das hinwegzukommen, in der anderen Welt habe ich fast niemanden. Selbst wenn, ich glaube nicht, dass ich mich noch gut mit ihnen verstehen würde. Ich bin ein anderer Mensch geworden. Außerdem ist das Leben mit Zauberei irgendwie einfacher... und Lenny, Ciara und Luca sind mir zu sehr ans Herz gewachsen. Ein weiterer Verlust ist wirklich das Letzte, was ich gebrauchen könnte. Ich hoffe Sie können das verstehen!"
Dumbledore schwieg einen Moment, bevor er verständnisvoll nickte: „Natürlich kann ich das verstehen, Amy. Und find ich es schön, dass dir die Zauberwelt so gut gefällt, dass du bleiben möchtest. Ebenfalls denke ich, dass du Recht hattest, als du sagtest Amy wird es nicht anders gehen. Das glaube ich auch, aber trotzdem werde ich sie fragen. Was natürlich nicht heißt, dass du nicht bleiben kannst, falls sie zurück möchte. Sollte es wirklich so sein, werden wir eine Lösung finden... Aber um eines muss ich dich noch bitten, wenn du hier bleibst." Er machte eine kleine Künstlerpause mit der er Amy wieder zurück in ihren Stuhl drängte, von dem sie schon halb aufgestanden war.
„Ich weiß du hast es schon hundert Mal, wenn nicht öfter gehört" ,fuhr er dann fort, „Aber ich muss dich ebenfalls darauf hinweisen, dass sich deine schulischen Leistungen deutlich steigern müssen. Ich kann deine Trauer verstehen, aber trotzdem wirst du sitzen bleiben, wenn du nichts tust. Die Regeln sind nun mal so, wir sind auch nur eine Schule." Amy nickte und konnte sich das Augenrollen gerade so verkneifen. Natürlich, was sonst? Er wäre kein Lehrer, wenn er sie nicht auf ihre schulischen Leistung hingewiesen hätte. Aber er wäre nicht Dumbledore, wenn er das ganze anstatt in einer Standpauke nicht in einer höflichen Bitter verpackt hätte. Amy nickte ein wenig: „Natürlich, Sir. Ich werde mich bessern und versuchen mich im Unterricht wieder mehr zu beteiligen."
Dumbledore nickte, schwieg jedoch und ließ Amy in dem Glauben, dass das Gespräch nun endgültig beendet sei. Warum auch nicht? Amys Meinung nach war nun alles gesagt. Also stand sie auf und ging langsam zu der hölzernen Tür. Doch bevor sie sie öffnete, warf sie einen Blick auf den Vogel, der in seinem Käfig schlief. Die Zeilen im Buch waren ihr gerade durch den Kopf gegangen, als Harry den Phönix das erste Mal gesehen hatte und sie musste ihn einfach sehen. Zum Glück war heute kein Tag, an dem Fawkes in Flammen aufgehen würde um neu geboren zu werden, sodass der Phönix in seiner ganzen Schönheit erstrahlte. Amy war begeistert und konnte ihren Kiefer nur mit Mühe ohne ihre Hand wieder einrenken.
Sie hatte ihre Hand gerade auf die Türklinke gelegt, als sie erneut von Dumbledores ruhiger Stimme aufgehalten wurde. „Einen Moment noch" ,sagte er und Amy hielt in ihrer Bewegung inne, „Es gibt da noch etwas." Verwirrt wand sich Amy noch einmal um, ohne die Hand von der Klinke zu nehmen. Was denn nun noch? Wollte er sie doch zurück schicken? Hatte er es sich anders überlegt? Abwartend schaute sie den Schulleiter an, während ihr Blick nervös von einem Auge zum anderen huschte. Sie wusste nie in welches Auge sie schauen sollte, aber bei Dumbledore fiel es ihr besonders schwer. Es gab nur zwei Menschen bei denen sie es schafft in beide Augen gleichzeitig zu blicken. Cedric... und Jamie.
Dumbledore steigerte ihre Anspannung, indem er noch eine ganze Weile schwieg und sie einfach nur anschaute. Schließlich rang er sich doch dazu durch, ihr endlich mitzuteilen, was denn so wichtig war: „Er ist nicht Cedric, aber das macht ihn noch lange nicht zu einem schlechtern Menschen." Amy starrte ihren Schulleiter völlig perplex an. War er denn nun schon völlig senil geworden? Von was sprach der Mann denn? Er konnte doch nicht... Nein, das konnte nicht sein. Davon konnte er nichts wissen. Sie hatte nur Lenny von ihm erzählt. Und selbst wenn, was sollte das bedeuten? Das wusste sie doch... Jamie war vollkommen in Ordnung und ein guter Freund. Was also...? „Auch wenn du das jetzt vielleicht nicht verstehst" ,meinte Dumbledore und schaute sie mit einem durchdringenden Blick an, „Musst du mir versprechen, dass du es nicht vergisst. Verstehst du?"
Amy schwirrte der Kopf, doch sie nickte: „Natürlich. Ich... verspreche es, Professor. Gute Nacht." Mit Kopfschmerzen verließ das Büro von Dumbledore und ging zurück in ihr Zimmer. Was hatte er bloß damit gemeint? Diese Frage sollte sie nicht nur die ganze Nacht lang beschäftigen, sondern noch wesentlich länger.
