10. Magisches Feuer
Ihr Herz raste, während sich die großen Flammen in ihren dunklen Augen spiegelten. Sie spürte die Kälte der Wüste mehr als zuvor und die kleinen Härchen an ihren Armen stellten sich auf. In ihrem Inneren zog es sich zusammen und die Angst übernahm die Führung ihres Körpers. „Schneller.", schrie sie und drückte dem galoppierenden Pferd ihre Fersen in die sie Seiten. „Hey, Habibi tut schon sein bestes.", flüsterte er ihr ins Ohr und strich ihr beruhigend über den Oberarm. „Und was ist, wenn wir zu spät kommen?", fragte sie verzweifelt und die ersten Tränen liefen ihr über die Wangen. „Jemand von den Wachen wird das Feuer schon bemerkt haben. Du wirst deine Familie gleich gesund und munter treffen.", versuchte er sie zu beruhigen. Er spürte, wie sie vor ihm zitterte, und er selbst musste sich ebenfalls zusammen reißen, um ihr nicht zu zeigen, dass er ihre Ängste nur allzu gut nachempfinden konnte. ‚Hoffentlich denken sie auch an die Diener. Bitte, oh Ra, rette meine Familie, rette Alexander und Mariah.', flehte der Blonde.
Schon bald hatten sie den Stadtrand erreicht und ritten weiter durch die kleinen, engen Gassen auf den Palast zu. Der Sand wurde unter den Hufen des Pferdes aufgewirbelt und ließ eine Wolke hinter ihnen herwirbeln. Der Wind spielte mit ihrem kinnlangen Haar und ließ es wie verrückt um ihren Kopf wirbeln, sodass Draco es zeitweise ins Gesicht bekam. Ihr Duft wurde ihm geradezu ins Gesicht geschlagen, vermischt mit kleinen Sandkörnern, weswegen er zeitweise die Augen zukneifen musste und der unwissenden Virginie die Führung kurz überließ. Sie war jedoch so sehr darauf konzentriert, so schnell wir möglich zum brennenden Palast, zu ihrer Familie zu kommen, dass sie gar nicht bemerkte, dass sie das Pferd teilweise ohne Hilfe ritt.
‚Wieso brennt der Palast? Hoffentlich geht's allen gut. Was ist, wenn jemand verletzt ist? Oh, hätte ich doch meinen Zauberstab mitgenommen! Dann könnte ich jetzt per Zauber einfach das Feuer löschen. Moment mal, das könnte jeder aus meiner Familie. Das heißt, dass sie entweder noch alle schlafen oder es kein normales, sondern ein magisches Feuer ist. Aber außer uns kann niemand ein magisches Feuer legen. Verflucht. Schneller.'
Schließlich kamen sie auf dem Palasthof an. Dort im Licht des Feuers hatten sich bereits einige Leute versammelt, die panisch durch einander riefen und durch die Gegend liefen, auf der Suche nach ihren Verwandten und Freunden. Hastig sprang Draco vom Pferd und Virginie rutschte schnell, wenn auch unelegant hinterher. Es war ein seltsames Gefühl wieder harten Boden unter den Füßen zu haben und sie ging die ersten Schritte fast so breitbeinig wie ein Cowboy. Der Blonde musste sich bei ihrem Anblick ein Grinsen verkneifen. „Warte hier.", sagte er an Virginie gewandt, die im Moment Kouvo's Identität angenommen hatte. Er griff nach Habibis Zügeln und führte ihn eiligst von dem Feuer weg.
Nachdem er das Pferd außer Reichweite der Flammen festgebunden hatte, rannte er schnell zu dem Platz zurück, wo er Virginie zurück gelassen hatte, doch sie war nicht mehr da. „Verflucht.", fluchte er und sah sich besorgt nach ihr um. Aber im Licht der tanzenden Flammen hatten viele Haare einen leichten, roten Stich, sodass ihre in der Menge nicht auffielen. Er rannte durch die Leute und rief immer wieder: „Kouvo!" Es antwortete jedoch niemand. Und auch ohne jemanden zu fragen wusste er, dass sie in den Palast gerannt sein musste. Er seufzte, bevor er ebenfalls auf die offen stehende Tür zu lief, sich geschickt an den Wachen vorbei schlich und schnell den Gang runter rannte. „Hey, bleiben Sie hier. Es ist viel zu gefährlich da drinnen.", brüllte man ihm nach, doch er überhörte die aufgebrachten Wachen und legte noch einen Schritt zu. Er musste sie finden.
Wie ein verrücktet rannte er durch die schwach erleuchteten Gänge. Er riss sämtliche Vorhänge und Türen auf, um zu gucken, ob sie dort war. Meistens war der Raum jedoch leer. Nur einmal lag noch jemand im Bett. „Aufwachen, los stehen Sie auf.", schrie er und eilte auf das Bett zu. Eine ältere Frau blinzelte ihn verschlafen an, als sie bemerkte, dass es ein junger, fremder Mann war, der neben ihrem Bett stand, schrie sie ihn an und schlug mit ihren Händen nach ihm. „Nicht doch, M'am. Bitte, Sie müssen hier raus. Es brennt.", sagte er wütend, während er seine Arme vor seinen Kopf hielt um ihre Schläge abzuwehren, „der Palast brennt.", wiederholte er diesmal etwas lauter. Plötzlich hielt die Frau inne und starrte ihn ungläubig an. „Was sagen Sie da?", fragte sie mit tiefer Stimme. „Es brennt, Sie müssen schnell nach draußen!", wiederholte er genervt und rannte aus dem Raum. Er hatte genug für sie getan, er musste Virginie finden.
Weitere zehn Minuten später hatte er sie allerdings immer noch nicht gefunden. Er hatte schon den gesamten nicht in Flammen stehenden Bereich des Palastes abgesucht: die Salons, ihre Gemächer, Alias Zimmer, die Aufenthaltsräume und selbst die Gemächer der restlichen Königsfamilie, doch sie waren alle leer. Scheinbar hatte man tatsächlich schon die ganze Familie geweckt, doch keiner von ihnen war zu sehen. Aber Virginies Zimmertür hatte offen gestanden, es sah also ganz so aus, als wäre sie kurz vor ihm noch dort gewesen. „Kouvo, Virginie!", rief er, doch er bekam abermals keine Antwort.
Er holte tief Luft, ihm würde nichts anderes übrig bleiben, als in linken Trakt des Palastes zu laufen, dort wo das Feuer brannte. Ohne weiter kostbare Zeit zu verschwenden drehte er sich um und rannte weiter, die Seitenstiche missachtend. ‚Hoffentlich ist ihr nichts passiert. Hätte ich sie doch bloß nicht alleine gelassen. Man wird mir den Kopf abschlagen, wenn ich Schuld daran habe, dass ihr etwas zugestoßen ist. Wo ist sie nur?'
Er lief so schnell ihn seine Füße trugen durch die Gänge. Trotz der späten Stunde war er jetzt wieder hellwach und es kam ihm so vor, als wäre er noch nie so schnell gelaufen. Er sah die Landschaft nur verschwommen an ihm vorbei rauschen, ein Meer aus Sandsteinen und zwischendurch den Flammen der Fackeln. Je weiter er rannte, desto heißer und stickiger wurde es. Schon bald kamen ihm Massen an Qualm entgegen, die ihm wie extrem dichter Nebel die Sicht nahmen. Er hielt sich die bloße Hand vor den Mund und rannte blind weiter. „Kouvo! Virginie!", schrie er erneut. Sein Puls raste und sein Herz schlug wie wild gegen seine Brust. Leichte Panik stieg in ihm auf, als er weiterhin nur das Knistern von Flammen hörte und kein menschliches Lebenszeichen.
Kurz darauf entdeckte er dann auch die erste brennende Tür. Er atmete Asche ein und musste prompt husten. Zu seinem Glück konnte sich das Feuer nur langsam und schwierig ausbreiten, weil sämtliche Wände aus Stein gebaut waren und nur die Möbel und Türen Nahrung für die Flammen bildeten. Nur selten schaffte es eine Flammenzunge den weiten Weg über den Flur zu einer gegenüberliegenden Tür. Immer auf das Feuer achtend lief er gebückt weiter und sprang ab und zu über verkohlte Türen, die auf dem Boden lagen. Dabei fühlten seine Füße sich an, als würden sie glühen oder gar brennen. Denn die Steine hatten sich durch das Feuer erhitzt und nur wegen der dicken Hornhautschicht unter seinen Füßen, die sich in all den Jahren gebildet hatte, in denen er schon barfuss ging, war es ihm überhaupt möglich ohne Schuhe den Boden zu berühren. Doch es schmerzte immer mehr und seine Fußsohlen waren schon ganz rot. Seine Augen tränten von dem Qualm und den Schmerzen, er biss jedoch die Zähne zusammen. Vielleicht brauchte sie seine Hilfe, oder wer anders. Er konnte jetzt nicht umkehren, dafür war er schon zu weit gekommen.
Er lief eine weitere Treppe hoch und bog nach recht in einen langen, verzweigten Gang. Er rannte und rannte und rannte, niemand schien ihn aufhalten zu können. Im Notfall wäre er sogar bis nach Abu Simpel gerannt, nur um sie zu retten. Es traf ihn wie einen Schock, dass er sich so große Sorgen um sie machte, bedeutete, dass er um einiges mehr für die kleine Prinzessin empfand, als er sich eingestehen wollte. Sie war in letzter Zeit wirklich so was wie eine sehr gute Freundin für ihn geworden, das was er immer hatte vermeiden wollen! Denn es würde nur Schwierigkeiten geben. Doch darum ging es jetzt nicht, wenn er sich nicht beeilte, würde ihre Freundschaft vielleicht erst gar keine Chance bekommen. Wenn sie jetzt verbrannte, würde er sich selbst die Schuld daran geben und daran zerbrechen. Es war schon immer seine Aufgabe gewesen sie zu beschützen – er hatte sie schon als kleines Kind immer beschützt.
Gedankenverloren bog er um eine weitere Ecke, bevor er abrupt stehen blieb. Überall auf dem Boden lagen brennende Holzlatten, die aus den Türen gefallen sein mussten, vermischt mit den zu Boden gefallenen Fackeln. Der Flur war so erhellt, als wäre es Tag und nicht tiefste Nacht. Der ganze Gang schien zu brennen und demnach war auch die Temperatur hoch. Aber all das bemerkte Draco nicht, seine Augen waren geradeaus auf Virginie gerichtet. Sie trug ihre Haare noch offen und auch die Klamotten von Kouvo, während sie zusammen mit den restlichen vier Mitgliedern ihrer Familie mitten im Flur stand. Sie passte äußerlich überhaupt nicht zu ihnen, weil die anderen alle edle Kleidung trugen und sie eigentlich nur einen Stoffrest. Doch sie gehörte zu der königlichen Familie, die einen Kreis bildend im Flur stand, und jeder von ihnen hielt einen hölzernen Stab in der Hand.
„Ich, Anubis-Arth, Herrscher über Ägypten, rufe dich oh Ra, du Sonnengott, mächtigster aller Götter, schick mir deine Macht.", rief der Pharao mit deutlicher Stimme. „Ich, Nephthys-Mol, Herrscherin über Ägypten, rufe dich oh Ra, du Sonnengott, mächtigster aller Götter, schick mir deine Weisheit.", stimmte die Pharaonin mit in das Ritual ein. „Ich, Bill-Horus, zukünftiger Herrscher über Ägypten, rufe dich oh Ra, du Sonnengott, mächtigster aller Götter, schick mir deine Kraft.", war der Thronfolger an der Reihe. „Ich, Amun-Char, zweitgeborener Sohn der Herrscher über Ägypten, rufe dich oh Ra, du Sonnengott, mächtigster aller Götter, schick mir deinen Mut.", rief der nächste. Und zuletzt war ihre Stimme klar und hell zu hören: „Ich, Isis-Virginie, einzige Tochter der Herrscher über Ägypten, rufe dich oh Ra, du Sonnengott, mächtigster aller Götter, schick mir deine Stärke."
Die Gewänder des Pharaos und seiner Frau hatten bereits Feuer gefangen, doch sie machten nichts dagegen, sie schienen es noch nicht mal bemerkt zu haben. Während die Gewänder ihrer Kinder nur bis zu deren Knien gingen, sodass die Flammen sie nicht so leicht erreichen konnten. Draco stand noch immer an der gleichen Stelle, nicht fähig sich zu bewegen oder seine Augen von diesem außergewöhnlichen Schauspiel zu nehmen, und sah weiterhin zu, wie die Spitzen der Holzstäbe zu glühen begannen, bevor alle fünf gleichzeitig riefen: „Ra Caerúleus Ignis!" Es hörte sich so an, als wären die Worte nur aus einem Mund gekommen, war das letzte, das Draco dachte. Denn augenblicklich erschien ein blauer Flammenkreis aus ihren Zauberstäben und breitete sich in Lichtgeschwindigkeit in alle Richtungen aus. Der Blonde sah das Licht noch auf sich zu kommen, spürte noch die angenehme Kälte, dann wurde alles schwarz.
Fortsetzung folgt
