11. Wahrheit
Er war so müde, dass er seinen Kopf auf ihren Schoß gelegt hatte und ihm seine Augen zugefallen waren. Nun lauschte er ihrer beruhigenden Stimme. „Sei froh, dass du ein Junge bist, Draco. Du verstehst das noch nicht, du bist ja erst vier Jahre alt! Doch Mädchen haben kaum Rechte in unserer Gesellschaft. Ich liebe unsere Eltern wirklich, aber manchmal komm ich mir vor wie in einem goldenen Käfig. Genieß du es bloß draußen rum zu toben und dich schmutzig zu machen. Obwohl ich mich von klein auf benehmen musste, wirst du eins Tages alles erben. In was für eine Welt sind wir nur geboren! Manchmal wünschte ich mir, ich könnte mit meiner Magd tauschen. Aber was erzähl ich dir da? Schlaf ruhig, kleiner Bruder, die Sterne wachen über dich."
Sie fuhr ihm gleichmäßig mit ihren schlanken Händen durch sein kurzes Haar und begann leise vor sich hin zusummen. Sein Atem wurde langsam und regelmäßig und blad darauf war er friedlich eingeschlafen.
Erschreckt riss er die Augen auf und starrte in einen dunkelblauen Himmel, zumindest dachte er anfangs, dass es der Himmel sei. Nach einigem Blinzeln stellte er jedoch fest, dass der Himmel irgendwie seltsam gewellt war, weil es der Himmel eines Himmelbettes war. Sofort saß er kerzengerade und sah sich verwirrt um. Er saß tatsächlich in einem breiten Bett. „Sophie?", flüsterte er noch immer verschlafen.
„Du bist wach?", erklang eine weibliche Stimme. Doch als er ihr folgte, entdeckte er nicht die erwartete Blondine, sondern eine in Blau gekleidete Brünette. Er blinzelte. „Wo bin ich?", fragte er irritiert und wischte sich den Schlaf aus den Augen. „In meinen Gemächern.", antwortete das Mädchen, „wer ist Sophie?" „Ihr kennt sie nicht.", antwortete er steif. Sie sah ihn fragend an, zuckte aber anschließend mit den Schultern.
„Wie geht es dir?", wollte sie wissen und trat an das Bett heran, um ihn zu mustern. Erschreckt fiel ihm auf, dass ihm die Decke bis zu den Lenden gerutscht war und seinen nackten Oberkörper preisgab. Seltsam beschämt zog er sich die Decke wieder höher. „Ich fühle mich etwas schwummerig.", gestand er und fasste sich an den Kopf, „was ist passiert?" „Der Palast hat gebrannt. Aber das Feuer ist schon seit einiger Zeit erloschen.", erzählte sie und setzte sich auf die Bettkante. Draco rutschte von ihr weg. „Was ist los?", sie blickte ihn verwirrt an. „Ihr habt das Feuer mit einem Zauber gelöscht.", gab er seine Gedanken preis und schien selber schockiert von seinen Worten zu sein.
Virginie entglitt für einige Sekunden ihr Gesichtsausdruck, in denen sie ihn vollkommen überrascht und entsetzt ansah. „Aber… aber…", ihre Stimme versagte. Außerdem wusste sie nicht, was sie darauf erwidern sollte. Sie verstand es nicht. ‚Vater hat ihn doch mit einem Muggel-Amnesie-Zauber belegt. Warum kann er sich dennoch daran erinnern?'
„Das musst du geträumt haben, Draco. Du hast mehrere Stunden tief und fest geschlafen.", erzählte sie ihm mit möglichst ruhiger Stimme und legte ihm ihre kühle Hand auf die Stirn. Er hatte kein Fieber, dennoch zuckte er unter ihrer Berührung zusammen. Seine Pupillen waren geweitet und er starrte sie noch immer geschockt an. „Nein, ich weiß, dass es so war. Du, Isis-Virginie, hast Ra um seine Stärke gebeten.", erinnerte er sich bleich, „dann ist ein Feuerkreis um euch entstanden und hat mich in die Bewusstlosigkeit gestoßen." Er fasste sich an seinen schmerzenden Kopf und tatsächlich hatte er eine Beule am Hinterkopf, er musste gestürzt sein. Die junge Prinzessin starrte ihn geschockt an. ‚Kein Diener kennt meinen vollständigen Namen. Außerdem war es genau, wie er erzählt hat. Ich habe gehört, wie er gefallen ist. Doch ich konnte ihn nicht vor meinem Vater verstecken, da er ihn ebenfalls gehört und gesehen hat. Es grenzt schon an ein Wunder, dass ich mich um ihn kümmern durfte…'
Schließlich sackte sie leicht zusammen. Sie wollte ihn nicht mit einem stärkeren Amnesie-Zauber belegen. „Du musst mir bei deinen Eltern schwören, dass du es niemals jemandem erzählen wirst!", sagte sie schließlich leise und sah ihm durchdringend in seine Augen. Er fühlte sich, als hätte sie ihn festgenagelt. Bewegungsunfähig lag er in dem großen Bett, sie an seiner Seite sitzend. Er konnte nicht sagen, ob es ein Déjà-Vu, ein Traum oder eine Erinnerung war, vielleicht war es auch eine Mischung aus allem?
„Wenn du mir bei deinen Brüdern schwörst, dass du mich niemals mit Magie belegen wirst!", entgegnete er mutig und erwiderte entschlossen ihren Blick. Sie streckte ihm ihre Hand entgegen und er reichte ihr seine. „Abgemacht."
Anschließend sackte Draco erschöpft auf ihrem Bett zusammen. Schweiß rann ihm die Seite hinunter und sein Atem ging schwer. „Ruh dich aus. Ich bring dir nachher etwas zum Essen.", sie lächelte ihn blass an, bevor sie sich erhob und ihn allein ließ. Er schloss erledigt die Augen. Es war so viel geschehen. Wie sollte er da schlafen können?
Virginie lehnte mit dem Rücken an ihrer Tür. Er sah unglaublich gut aus, sein nackter Körper war muskulös und gebräunt, am liebsten hätte sie ihn berührt. Sie schluckte. Ihr Bett würde nachher nach ihm riechen, wie sollte sie dann nur schlafen können? Andererseits war sie irritiert, sie konnte sich einfach nicht erklären, wie der Fluch einem einfachen Sklaven nichts anhaben konnte. ‚Er kommt aus Europa. Doch auch da sind die Zauberer nur eine Minderheit. Und ich würde jawohl wissen, wenn er einer wäre! Wahrscheinlich ist er nur immun gegen diese alte ägyptische Magie? Oder sie war einfach zu harmlos? Oder der Feuerkreis hat sein Gedächtnis geschützt? Es könnte so viele Gründe haben. Mist, meine Eltern warten auf mich… Jetzt kann ich etwas erleben. Ich will ihnen das mit Kouvo nicht erklären, es ist mein Geheimnis. Aber was soll ich ihnen stattdessen erzählen? Sie haben das braune Gewand und meine kurzen Haare gesehen…'
„… wie kannst du uns das antun? Wir müssten dich eigentlich solange einschließen, bis dein Haar wieder nachgewachsen ist! Und was wird der Sheik sagen? Verflucht, hörst du mir überhaupt zu, Tochter? Mit den Haaren will dich doch niemand haben. Es sieht schrecklich aus! Und dabei haben wir schon all die jungen Männer zu deiner Geburtstagsfeier eingeladen… Du machst uns immer nur Schwierigkeiten. Khan bring sie in ihre Gemächer und verriegele alle Ausgänge.", befahl der Pharao erzürnt. „Aber, Vater…", versuchte Virginie etwas zu einzuwerfen. „Schaff sie aus meinen Augen.", ignorierte er sie wütend und wandte sich von ihr ab. „Mutter, kannst du nicht?", versuchte die Prinzessin sich an ihre Mutter zu wenden. Diese betrachtete sie mit gerümpfter Nase. „Deine schönen Haare, Kind…", murmelte sie nur ungläubig vor sich hin und schüttelte den Kopf.
Ohne eine faire Chance zu haben wurde Virginie von der Wache am Arm gepackt und aus dem Saal gezerrt. „Lass mich los, du tust mir weh.", beschwerte sie sich lauthals und versuchte seine Finger von ihrem Arm zu lösen, doch die Hand schien wie versteinert um ihren Arm gelegt zu sein und rührte sich kein bisschen. Außerdem griff die Wache an der Tür ihren anderen Arm und zusammen schafften die beiden sie ohne Schwierigkeiten zu ihren Gemächern. Die Wache davor öffnete die Tür und wie eine Gefangene wurde sie hinein geworfen. Sie hörte, wie die Tür hinter ihr verriegelt wurde und gleichzeitig auch das Schloss des Bedienstetenganges zuschnackte.
Weinend sackte sie zu Boden. Ihre Eltern hatte ihr nicht mal die Möglichkeit gegeben ihre Tat zu erklären, sie sahen es als Beleidigung an ihnen an und ließen sich davon auch nicht abbringen. Sie war eben eine kleine verzogenen Prinzessin, die zeigen wollte, dass sie machen konnte, was sie wollte, ohne die Folgen zu beachten. ‚Sie sind so unfair.' Sie schluchzte und verbarg ihr Gesicht hinter ihren Haaren und legte es auf ihre Arme.
Plötzlich spürte sie eine Wärme durch den Stoff ihres Kleides auf ihrem Rücken. Sie hob leicht den Kopf und blickte in das besorgte Gesicht des blonden Dieners. „Was ist passiert?", fragte er irritiert. Doch sie konnte nicht antworten, erneut rannen ihr Tränen aus den Augen und ihre Unterlippe zitterte gewaltig. „Hey, ist es denn so schlimm?", fragte er ungläubig und fuhr ihr mit seiner warmen Hand über den Rücken. Sie nickte mit nassen Augen. „Komm, steh wenigstens von dem kalten Boden auf?", sagte er und wollte ihr aufhelfen. Doch sie schüttelte nur weinend den Kopf und entzog ihm ihre Hand. Draco seufzte und hob sie daraufhin hoch. Wie erstarrt sah sie ihn an, damit hatte sie nun wirklich nicht gerechnet. Er zuckte nur die Schultern. Sie schlang ihre Arme um ihn und kuschelte sich an seine warme Brust. Heiße Tropfen rannen ihm über die Haut und jagten ihm einen Schauer durch den Körper. Was war nur passiert?
Er setzte sich auf ihre breites Bett, doch sie ließ ihn nicht los. So legte er seine Arme um sie und strich ihr beruhigend über den Rücken. Er kam sich so hilflos vor. Dennoch raste sein Herz wie wild, noch nie hatte eine Frau ihn nackt berührt. Ihre Hände waren kalt in seinem Rücken, während ihr Gesicht warm war, genau wie die Tränen, die ihm noch immer den nackten Bauch runter liefen und die Decke durchnässten, die er sich eben um die Hüfte geschwungen hatte.
Sie schmiegte ihre Wange an seine glatte Brust und genoss seinen Duft und seine Wärme. Sie fühlte sich geborgen und sicher in seinen muskulösen Armen. „Bleib bei mir.", flüsterte sie mit brüchiger Stimme. „Ich lass dich nicht allein, Virginie.", versprach er und fasste sich an den Kopf. „Lass mich nicht los!", flehte sie und drückte sich noch mehr an ihn, klammerte sich förmlich an ihn.
Fortsetzung folgt
