13. Angst, Trauer und Sehnsucht

Virginie musterte sein Gesicht kritisch. ‚Wie viel soll ich ihm erzählen? Wie sehr kann ich ihm trauen? Andererseits kann ich ihn auch nicht anlügen, das würde die Freundschaft zerstören und das will ich auf keinen Fall. Was würde ihm die Wahrheit denn bringen? Nichts, also kann ich sie ihm auch sagen!' Sie sah ihm in seine silbernen Augen und drohte dahin zu schmelzen. ‚Was ist nur mit mir los?' Sie wandte sich von ihm ab, ging zum Fenster und sah hinaus in die weite, sandige Ferne.

„Es war auf jeden Fall ein magisches Feuer. Jemand, ein Magier, muss es mit einem Zauberstab entfacht haben.", sagte sie leise. „Gibt es hier noch mehr Zauberer als euch?", wollte er wissen und setze sich auf die Bettkante. Sie wandte sich ihm zu und schüttelte den Kopf. „Mein Vater ist ein sehr mächtiger Zauberer. Er hat kurz nach meiner Geburt den letzten Zauber hier in der Stadt gespürt.", berichtete sie und fügte blass hinzu, „außerdem ist das Feuer durch keinen Zauberstab von einem Familienmitglied entstanden." „Das heißt, es gibt noch einen Zauberstab!", vermutete Draco interessiert. Virginie nickte: „Ja und noch einen Zauberer. Aber wer sollte den Palast abbrennen wollen?" Sie lief unruhig im Zimmer umher. „Was will der Zauberer? Auf wen hat er es abgesehen? Ich meine, man macht das doch nicht einfach so. Jetzt ist jeder in Gefahr, wenn man noch nicht mal im Palast sicher ist!"

Draco griff nach ihrer Hand, als sie nicht aufhörte an ihm vorbei zu laufen, und zog sie neben sich auf das Bett. „Beruhig dich erstmal. Du hast doch auch einen Zauberstab. Du kannst dich doch gegen den Eindringling wehren und außerdem seid ihr in der Überzahl!", versuchte er ihr etwas von der Angst zu nehmen. „Er wird bestimmt besser zaubern als ich und was mache ich dann? Was ist, wenn er es auf mich abgesehen hat?", fragte sie und sah ihn ängstlich aus großen Augen an. „Wieso sollte er?" „Ich weiß nicht…. Vielleicht ist er verrückt?" „Jetzt hör aber auf, Virginie. Du hast doch keine Ahnung, wer es warum getan hat. Vielleicht was es ein Missgeschick, vielleicht kann der Jemand nicht richtig zaubern und hat aus Versehen ein Feuer entfacht! Außerdem bist du nicht allein – zumindest nicht in nächster Zeit. Wenn ich dich erinnern darf, ich bin hier mit dir eingeschlossen." Sie nickte betrübt. „Dann können wir noch nicht mal fliehen…", murmelte sie vernichtend betrübt. Draco schlug sich die Hände vor das Gesicht. ‚Das kann doch nicht wahr sein…'

„Können wir mal über was anderes reden?", fragte er leicht genervt. „Klar, zum Beispiel könntest du mir sagen, wer Sophie ist!", meinte Virginie nach einiger Zeit des Überlegens. Augenblicklich wurde der Ausdruck in Dracos Augen traurig und schweifte irgendwie in die Ferne ab. ‚Habe ich was Falsches gesagt?', fragte sich die Prinzessin, doch sie konnte ihre Worte nicht rückgängig machen und so standen sie schwer im Raum. Sie lehnte sich zurück, bis sie auf ihrem Bett lag und starrte die hohe Decke an. Minuten des Schweigens vergingen, in denen sie einfach nur vor sich hinstarrte.

Erst, als sie schon längst mit keiner Antwort mehr gerechnet hatte, räusperte er sich und erzählte mit seltsam belegter Stimme: „Sophie war meine ältere Schwester." Er guckte sie nicht an, sein Kopf war weiterhin nach vorne gerichtet und sie nahm an, dass er weiterhin in die Ferne sah. So blieb sie ruhig liegen und betrachtete seinen braunen Rücken, sie konnte dabei nicht verhindern, dass sich ein Lächeln auf ihre Lippen schlich. Andererseits hatte er schon alleine mit dem Satz ihre Aufmerksamkeit erregt. ‚Draco hat eine Schwester?'

„Sie war 12 Jahre älter als ich. Sie hat sich immer um mich gekümmert, man könnte fast sagen, dass sie die Rolle meiner Mutter übernommen hat. Sie war immer für mich da. Hat mit mir gespielt, wenn sie Zeit hatte. Hat mich abends ins Bett gebracht und mir Geschichten erzählt oder mich in den Schlaf gesungen.", seine Stimme war verträumt und seine Gedanken hingen in einer längst vergangen Zeit. Virginie hörte gespannt zu, Draco hatte noch nie etwas von seiner Vergangenheit erzählt, bevor er zu ihr in den Palast kam. Sie wusste eigentlich gar nichts über seine Herkunft. „Sie war wunderschön. Zumindest ist sie das in meiner Erinnerung. Sie hatte langes, glattes, blondes Haar und sturmgraue Augen. Sie war nicht größer als du, vielleicht eher noch ein Stück kleiner. Sie hat es geliebt zu reiten, aber sie durfte nicht oft. Unsere Eltern waren streng, was ihre Erziehung anging…" Draco verstummte.

Virginie wartete, doch als er von alleine nicht weiter redete, fragte sie vorsichtig: „Was ist passiert?" Sie sah, wie sich seine Rückenmuskeln anspannten, und sie widerstand der Versuchung ihre Hand auf seinen nackten Rücken zu legen und ihm die Anspannung weg massieren. „Sie ist tot.", war seine knappe Antwort und in seiner Stimme klang so viel Trauer und Sehnsucht mit, dass sie nicht anders konnte, als sich aufzurichten und ihn von hinten zu umarmen. Nach und nach fiel die Anspannung wieder von ihm ab. „Ich vermisse sie so sehr…", flüsterte er traurig.

„Ich vermisse meine Brüder auch…", flüsterte sie in derselben Tonlage. Draco strich ihr sacht über den Arm, den sie um ihn geschlungen hatte. „Hast du jemals wieder was von Aton-Perce gehört?", fragte er leise. Sie schüttelte den Kopf. „Aber ehrlich gesagt, vermisse ich ihn am wenigsten. Ich hatte nie sonderlich viel mit ihm zu tun. Außerdem hat er uns verraten, ich will ihn gar nicht wieder sehen.", berichtete sie stur, „aber die Zwillinge und auch Ron-Seth, obwohl ich ihn nie gekannt habe, weil er bei der Geburt gestorben ist." Sie merkte, wie ihr die Tränen in die Augen stiegen, sie hatte zwei wunderbare Brüder, doch wie schön wär es erst gewesen, wenn die anderen auch für sie da wären?

Draco spürte, wie ein warmer Tropfen auf seine nackte Schulter fiel und drehte ihr langsam den Kopf zu. Er weinte nicht mehr, wie sie erkannte, doch seine Wangen waren feucht. Sie sah ihm tief in die durch die Nässe scheinbar noch tieferen, silbernen Augen. Es war, als würde sie in die Unendlichkeit fallen. Doch die Unendlichkeit war nicht grausam und kalt, sondern umfing sie sanft und voller Wärme, sodass sie sich wohl fühlte. In dem Augenblick wusste sie, dass Draco sie vor dem mysteriösen Fremden beschützen würde, auch ohne Zauberstab. Vor ihr saß der muskulöse Kämpfer, doch in seinen Augen sah sie etwas anderes, etwas das sie noch nie bei ihm gesehen hatte. Sie konnte es nicht richtig deuten, vielleicht war es Sehnsucht. Doch die Sehnsucht nach was? Ihr wurde warm ums Herz, während sie leicht wie eine Feder durch seine Gefühle zu schweben schien. Sie war gefangen von seinen Augen, doch er hielt sie nicht fest, wenn sie wollte, konnte sie sich jederzeit befreien und sie wusste das. Doch es fiel ihr schwer sich von seinen Augen los zu reißen, da diese sie magisch anzogen.

Sie hatte so etwas noch nie erlebt. Es war schon in der Wüste bei ihrem Ausflug vor einiger Zeit so seltsam gewesen. Auch damals hatte ihr Herz gerast. Doch sie hatte sich eingeredet, dass es in der Situation ganz normal gewesen war, schließlich hatte ein Mann, nein nicht irgendein Mann – ein sehr gut aussehender Mann, auf ihr gelegen. Im Moment hingegen lagen nur ihre Arme auf seinem Oberkörper, okay, seinem nackten Oberkörper. Doch es war nicht nur die Berührung, die ein Kribbeln in ihr auslöste. Dieser Blick, mit dem er ihr in die Augen sah, brachte sie fast um den Verstand. Sie spürte den Rhythmus ihres Herzens in ihrem ganzen Körper, glaubte es sogar laut und deutlich schlagen zu hören. Sie spürte seinen warmen Atem, wie er über ihre Wange strich und ihre Nackenhärchen stellten sich auf. Noch immer sah sie ihn an und regte sich nicht.

Erst als eine warme Träne in ihren Ausschnitt tropfte, fuhr sie aus der Hypnose hoch und errötete, als sie sich über seine Nähe bewusst wurde. „Glaubst du, sie schicken uns etwas zu essen?", fragte Draco und sein Magen knurrte laut. Er grinste sie dämlich an, stand auf und ging zur Tür. Er klopfte lauthals dagegen, doch nichts geschah.

Virginie nutzte die Zeit um ihren Herzschlag zu beruhigen und ihre Enttäuschung zu verstecken. „Sie hören dich nicht", entgegnete sie trocken, „es liegt ein Schalldicht-Zauber auf meinen Gemächern. Und um deine Frage zu beantworten, ich denke nicht."

Fortsetzung folgt