Luthien
Wieder einigermaßen gut gelaunt betrat ich den Speisesaal. Mel, Donald, Ray und Henry saßen gemeinsam an einem Tisch beim Abendessen und ich gesellte mich zu ihnen. Essen wollte ich noch nichts, aber ich holte mir einen Bananen-Milchshake. Muldoon konnte ich zum Glück nirgendwo entdecken, also setzte ich mich entspannt und hörte Mel zu, wie sie gerade begeistert von ihrem Erlebnis mit Muldoon und Harding im Park erzählte.
Ich wurde fast neidisch. Eigentlich könnte ich mich jederzeit Muldoon und Harding anschließen, um die Tiere ausgewachsen und mal aus der Nähe zu sehen, aber ich hatte es noch nie getan.
„Du machst mich echt neidisch", seufzte ich, als sie geendet hatte.
„Wieso? Weil ich den Tag mit Muldoon und Harding verbringen konnte?" Sie zwinkerte mir zu, aber ich warf ihr einen warnenden Blick zu.
„Nein", empörte ich mich, „ wegen der Dinos."
„Aber du hast sie doch auch schon mal gestreichelt, oder?"
Ich nickte.
„Aber nicht die ausgewachsenen Tiere… und in den Gehegen war ich noch nie."
„Oh, schade. Das solltest du unbedingt mal machen. Da fällt mir was ein: Ich wollte noch zu Dr. Harding und ihn etwas über die Tiere ausfragen. Das macht dir doch nichts aus oder Donald?"
Donald Gennaro wirkte irgendwie abwesend, aber er antwortete dann doch.
„Ja ja, geh ruhig. Ich muss sowieso noch etwas mit Ray besprechen. Wir sehen uns dann später…"
Ray und Henry hatten wohl auch irgendwie rausgefunden, dass Mel und er eine Affäre hatten.
Spätestens wohl, als sie ihm gebeichtet hatten, dass Mel auf der Insel war und er erst mal sehr erleichtert darauf reagiert hatte. Er hatte sich schließlich große Sorgen um sie gemacht, nachdem sie einfach so verschwunden war.
Mel stand auf und hinter ihr, sah ich plötzlich wie Muldoon den Saal betrat.
Schnell trank ich meinen Milchshake aus.
„Warte auf mich", meinte ich hastig zu Mel und sie sah mich merkwürdig an. Dann blickte sie sich um und entdeckte Muldoon. Jetzt konnte sie sich denken, warum ich so schnell weg wollte.
„Macht's gut", verabschiedete ich mich von den anderen und ging mit Mel. Ich versteckte mich praktisch hinter ihr und als wir aus dem Saal waren, blieb sie kopfschüttelnd stehen.
„Sag mal, wie lange willst du das jetzt so machen? Ich meine, vor Robert weglaufen."
„Weiß nicht", antwortete ich schulterzuckend, „ solange wie es geht?"
Mel sah mich verständnislos an, aber grinste plötzlich.
„Dir ist aber schon klar, dass ihr hier auf einer Insel seit, ja? Da wird das nicht lange funktionieren… Ich würde dir raten, mit ihm zu reden. Zu mir war er heute sehr nett… und zu dir ja eigentlich auch immer, oder?"
Ihr Grinsen wurde richtig breit und das ärgerte mich.
„Laß das! Das ist nicht witzig!"
„Ach komm schon Luthien, du magst ihn doch. Also warum das ganze hin und her? Ihr lebt hier auf ner Insel und John ist kaum hier. Da kann doch so gut wie nichts schief gehen."
„Das sagst du!" Gab ich resignierend zurück und verabschiedete mich von Mel.
In meiner Wohnung nahm ich das Telefon und wählte John's Nummer. Er hatte heute schon mehrmals versucht mich im Labor zu erreichen, aber ich hatte nie Zeit gehabt. Jetzt fragte ich mich, was so wichtig war…
Mel
Als ich unterwegs war zu Dr. Harding, fiel mir plötzlich etwas ein.
Verdammt, dachte ich, jetzt hab ich Luthien immer noch nicht erzählt, was Jason noch über Muldoon rausgefunden hat…
Luthien
Am nächsten Tag verkündete ich im Kontrollraum eine frohe Botschaft:
John hatte endlich unserem Bitten und Flehen nachgegeben und den Tierärzten erlaubt, den Raptoren die Sender einzupflanzen. Deswegen hatte er mich auch sprechen wollen. Ray und Henry waren begeistert, ebenso Dr. Harding, nur Robert's Freude hielt sich in Grenzen.
Er ignorierte mich praktisch.
Da Dr. Harding schon alles Notwendige vorbereitet hatte und alle nur auf John's Zustimmung gewartet hatten, wollte er den ersten Eingriff noch heute durchführen.
Also tat er sich mit Robert zusammen um zu besprechen, wie sie vorgehen sollten, um das Alpha Weibchen aus dem Gehege zu holen.
Den ganzen Tag waren sie damit beschäftigt gewesen, Sicherheitsvorkehrungen zu treffen und die Tiere ruhig zu stellen.
Es hatte ziemlich lange gedauert, bis sie alle Raptoren betäubt hatten und sie dann das erste Tier aus der Anlage holen konnten.
Wie Muldoon schon vermutet hatte, vertrugen die Raptoren eine ungewöhnlich hohe Dosis an Tranquilizern.
Nun befand sich das erste Tier in der Obhut der Ärzte und verlief der Eingriff gut, so würden auch die anderen Tiere bald folgen.
Müde lief ich über den Parkplatz zu unserem Wohngebäude und der Wachtposten ließ mich durch das Tor. Die meisten anderen befanden sich noch im Labor, um Dr. Harding bei dem Eingriff zuzusehen, aber eigentlich sollte es ziemlich schnell gehen.
Als ich zum Treppenhaus ging- den Fahrstuhl benutzte hier so gut wie niemand-, hörte ich das vertraute Geräusch des einrastenden elektronischen Sicherheitsschlosses.
Plötzlich kam jemand von rechts aus dem Gang, der zur Küche und dem Speisesaal mit der großen Außenterrasse führte.
Unvorbereitet stieß ich fast mit ihm zusammen.
Es war Muldoon und er sah ziemlich geschafft aus. Jetzt wo der Raptor bei den Ärzten war und sie ihn nur noch zurück in die Anlage bringen mussten, wollte er sich wohl auch endlich ausruhen.
Wir sahen uns nur kurz an und keiner sagte etwas. Er ignorierte mich... und eigentlich hatte er ja auch allen Grund dazu.
Es war mir sehr unangenehm. Mit ein paar Sticheleien hätte ich gut leben können, aber das er mich gar nicht mehr beachtete... Das wollte ich ja eigentlich gar nicht.
Allerdings hatte ich jetzt auch nicht den Mut ihn darauf anzusprechen. Ich wartete etwas und nahm dann ebenfalls die Treppe nach oben.
Endlich in meiner Wohnung setzte ich mich geschafft aufs Bett und wollte mich gerade ausziehen, als im Gebäude ein Alarm ertönte.
Sofort ging ich ins Wohnzimmer und wollte die Nummer des Kontrollraumes wählen, um zu erfahren was los war, als ich ein Geräusch im Innenhof hörte.
Es hörte sich so an, als ob jemand einen der großen Pflanzkübel am Pool umgestoßen hätte.
Ich legte den Hörer wieder auf und ging zurück ins Schlafzimmer.
Durch die Balkontür trat ich ins Freie, blickte nach unten und erstarrte.
Das konnte einfach nicht sein.
Geschockt sah ich einen Raptor am Pool entlang schleichen.
Zum Glück war das Erdgeschoss unbewohnt und es stand auch keine Tür offen, so dass das Tier nicht ins Gebäude konnte.
Der Raptor war etwa zwei Meter groß, hatte eine dunkle lederartige Art und braune Streifen auf dem Rücken. Mit dem Schwanz balancierte er seinen Gang aus. Er lief auf zwei Beinen und bei jedem Schritt hörte ich das klickende Geräusch, dass seine zwei messerscharfen Raubkrallen - eine auf jedem Fuß- auf den Fliesen verursachten.
Mein Herz begann zu rasen.
Das Tier blieb immer wieder stehen und nickte leicht mit dem Kopf. Außerdem reckte es öfter den Kopf nach oben. Wahrscheinlich um potentielle Beute zu wittern, schoss es mir durch den Kopf.
Ich wollte mich gerade zurück in mein Zimmer schleichen, als das Tier sich abrupt umdrehte. Es streckte seinen Kopf nach oben, stieß ein Knurren aus und starrte mich direkt an.
Oh Gott, dachte ich. Er wittert mich.
Ich flüchtete zurück in mein Schlafzimmer und verriegelte die Tür. Sofort wollte ich zum Telefon und die anderen warnen, als ich ein Krachen auf dem Balkon hörte.
Dann stand der Raptor direkt vor meiner Balkontür und sah mich mit kalten Augen an.
Ich war wie gelähmt und starrte einfach nur zurück.
Plötzlich stieß der Raptor mit voller Kraft seinen Kopf gegen die gläserne Balkontür und ich stieß einen Schrei aus.
Zum Glück hatte mein Onkel aber keine Kosten gescheut und überall nur Sicherheitsglas verarbeitet.
Das Tier schien etwas benommen zu sein und schnaubte frustriert.
Ich atmete tief durch, um einen klaren Kopf zu kriegen, als der Raptor eine andere Technik ausprobierte. Er warf sich einfach mit seinem vollen Gewicht gegen Tür und ein unheilvolles Quietschen verriet, dass der Rahmen früher oder später nachgeben würde.
Ich muss hier raus, war mein einziger Gedanke, während der Raptor sich immer wieder gegen die Tür warf.
Sofort stürmte ich aus dem Apartment und warf die Tür hinter mir zu, als ein lautes Krachen mir verriet, dass das Tier es wohl geschafft hatte und nun in meinem Schlafzimmer stand.
Panisch lief ich den Gang entlang und überlegte fieberhaft, wohin ich fliehen sollte.
Dann fiel mir Muldoon ein. Er befand sich ja am anderen Ende des Flures und ich rannte los.
Ich stürmte durch den Durchgang und war froh als ich vor Muldoons Tür stand.
Mit der flachen Hand schlug ich an die Tür und es kam mir vor wie eine Ewigkeit, bis er öffnete.
Da ich mich ja praktisch gegen die Tür geworfen hatte, fiel ich ihm in die Arme.
„Hoppla, nicht so stürmisch", kommentierte er das Ganze und ließ mich nicht los.
Aber ich war nicht zum Scherzen aufgelegt.
„Laß das und mach die Tür zu! Er ist hier!"
Meine Stimme zitterte und ich war total aufgelöst. Das merkte auch Robert und er sah mich verwirrt an.
„Wer ist hier?"
„Ich meine, sie ist hier... ist ja auch egal... ich meine, den Raptor! Er, äh sie ist auf dieser Etage! In meiner Wohnung!"
„Was? Beruhige dich erst mal. Das hast du bestimmt nur geträumt wegen dem Alarm. Ich wollte gerade im Kontrollraum anrufen und fragen, was los ist..."
„Nein", fuhr ich dazwischen und griff nach seinem Arm.
„Er, sie ist da draußen... Das war kein Traum..."
Eindringlich sah ich ihn an.
„Na gut, ich werde einfach mal nachsehen."
Er schien mir nicht zu glauben und das machte mich wütend.
„Du glaubst mir nicht? Das ist kein Scherz, okay! Ich weiß, was ich gesehen habe...Oh oh, bleib von der Tür weg..."
Aber es war zu spät. Robert öffnete sie und ging einen Schritt nach draußen. Er blickte den Flur entlang und traute seinen Augen kaum. Im Durchgang vor der Tür zum Flur stand ein Raptor und schnüffelte an der Tür. Im ersten Moment war Robert genauso geschockt wie Luthien, aber als das Tier ihn erkannte, reagierte er sofort. Genau wie der Raptor.
Das Tier stürmte durch die Tür in den Flur, aber Robert war schneller.
Ich sah, wie Robert erstarrte und dann sofort wieder rein kam. Hektisch schloss er die Tür.
„Okay, wir müssen hier raus."
Er kam auf mich zu, griff nach meinem Arm und zog mich Richtung Balkontür.
Ich war total verwirrt und folgte ihm einfach, dann fiel mir etwas ein.
„Sollten wir nicht anrufen und die anderen warnen?"
Er drehte sich zu mir um.
„Keine Zeit. Wir sollten..."
Ein lautes Krachen gegen die Wohnungstür ließ mich zusammenzucken.
„Wir sollten hier verschwinden, solange das Vieh noch mit der Tür beschäftigt ist."
„Okay", nickte ich und er schob mich zur Balkontür hinaus.
Robert schloss die Tür hinter sich und lief dann mir voraus den Balkon entlang.
„Wenn wir Glück haben, schaffen wir es bis zum Durchgang und dann ins Treppenhaus. Wie ist er überhaupt in deine Wohnung gekommen?"
„Er äh sie war erst am Pool und ist dann auf den Balkon gesprungen..."
„Verdammt, was? Gesprungen? Bis in den zweiten Stock?"
Das überraschte sogar Robert.
„Ja, und als das Biest nicht durch das Glas kam, hat es dann die Balkontür mit seinem gesamten Gewicht aus den Angeln gerissen."
„Bei der Wohnungstür geht das wohl nicht so einfach. Hoffen wir, dass das Vieh noch mit der Tür beschäftigt ist..."
Vorsichtig blickte Robert um die Ecke in den Durchgang.
„Okay", meinte er dann, „ die Luft scheint rein zu sein. Also los jetzt!"
Schnell aber leise schlichen wir uns ins Treppenhaus.
Auf dem Weg nach unten beschlich mich ein komisches Gefühl. Der Raptor war in meine Wohnung gelangt, aber wie in den Flur? War er etwa außen herum gelaufen, über den Balkon? Irgendetwas stimmte da nicht. Etwas passte nicht zusammen, aber ich wusste nicht was...
Als wir unten ankamen, nahm Robert meine Hand und zog mich hinter sich her.
„Ich hoffe der Wachmann am Tor lebt noch...Dann kann er mir seine Waffe geben und ihr lauft rüber zum Kontrollraum..."
„Du kannst doch nicht alleine hier bleiben... Das ist viel zu gefährlich."
Aber meine Proteste interessierten ihn nicht wirklich.
Er wollte schnell zur Tür hinaus, aber aus den Augenwinkeln sah ich jemanden aus dem Gang, der zum Speisesaal führte, kommen.
„Warte!"
Ich riss mich los und lief um die Ecke. Dort schlenderten mir Mel und Donald entgegen.
„Was macht ihr denn hier?" Fuhr ich sie an.
„Was? Wieso denn?"
Sie sahen mich entgeistert an.
„Der Raptor ist abgehauen und schleicht hier im Gebäude rum. Kommt mit, wir sehen zu, dass wir hier raus kommen."
Die beiden folgten mir sofort zu Robert.
Er wartete ungeduldig an der Tür und hatte sie schon geöffnet.
„Kommt schon beeilt euch!" Trieb er uns an, aber plötzlich sah ich einen Schatten von oben herunterfallen und ahnte, was es war.
„Weg von der Tür!" Rief ich und Robert drehte sich um.
Nur ein paar Meter entfernt stand der Raptor und fauchte ihn an.
Das Tier war einfach vom Balkon gesprungen, als es nicht ins Treppenhaus kam und jetzt schnitt es uns den Weg ab.
Robert reagierte sofort und kam zurück ins Gebäude gerannt.
Mel, Donald und ich standen unschlüssig da und wussten nicht, was wir tun sollten. Wir warteten auf einen Vorschlag von Robert, als mir etwas Erschreckendes auffiel.
„Das Schloss ist noch nicht eingerastet", flüsterte ich ängstlich und blickte zur Tür.
„Oh nein", kam von Robert, denn auch der Raptor hatte wohl bemerkt, dass die Tür noch nicht zu war und jetzt stieß er sie langsam mit seiner Schnauze auf.
„Los! Lauft!" Rief Robert und wir stürmten den Gang entlang Richtung Küche.
Die Küche hatte zum Glück ebenfalls eine massive Stahltür, die Robert und Donald hinter uns zuwarfen. Wir atmeten alle erst mal tief durch und hörten das Tier frustriert vor der Tür schnauben. Dann sah ich mich um.
Hier gab es nicht viel. Nur zwei parallele Reihen mit Edelstahl Arbeitsflächen und Herden und natürlich einen Haufen Töpfe, Pfannen und ähnliches. Am Ende des Raumes befand sich einer der verschiedenen Kühlraume, dessen Tür aber offen stand. Im Moment wurde er nicht benutzt.
Auf einmal traf mich die Erkenntnis wie ein Schlag. Mir wurde klar, wie der Raptor so schnell aus meiner Wohnung rausgekommen war, denn auch ich hatte ja wie fast alle mein Sicherheitsschloss an der Tür nicht aktiviert...
„Oh mein Gott... die Türklinke!" Rief ich.
„So ist das Vieh aus meiner Wohnung gekommen!"
Wir alle richteten sofort unsere Blicke auf die Klinke der Küchentür und tatsächlich bewegte sie sich. Der Raptor hatte gelernt, wie er Türen öffnen konnte.
Robert und Donald sprangen fast gleichzeitig zu Tür, um das unvermeidliche zu verhindern, aber es war zu spät.
Der Raptor stieß mit aller Kraft die Tür offen und riss dabei Robert und Donald fast von den Füßen.
Mel und ich schrieen entsetzt auf.
Donald geriet ins Straucheln und fiel hart gegen einen der Herde. Benommen blieb er liegen und Mel rannte zu ihm, um ihm aufzuhelfen.
Der Raptor griff aber nicht Donald an, sondern Robert, der näher bei dem Tier stand und keine Zeit hatte zu reagieren.
Das Tier sprang ihn an und riss ihn um.
Dann fauchte der Raptor und nagelte ihn mit seinen Klauen am Boden fest.
Robert hatte keine Chance sich zu befreien. Es waren wahrscheinlich nur noch Sekunden bis das Tier ihn mit seiner Raubkralle töten würde.
Panisch sah ich mich nach einer Waffe um, um Robert zu helfen, aber ich fand nichts.
Völlig kopflos griff ich das erst beste, was mir auffiel und das war ein schwerer gusseiserner Wok.
Das Teil war verdammt schwer und irgendwie dachte ich noch daran, dass wir wahrscheinlich sowieso alle sterben würden. Also war der Wok wohl gar keine so schlechte Wahl.
Dann dachte ich nicht weiter nach, sondern stürmte auf den Raptor zu. Das Tier sah mich merkwürdig an, so als ob es nicht verstehen konnte, dass ich nicht weglief.
Daher holte ich einfach aus und schlug mit aller Kraft zu.
Damit hatte das Vieh nicht gerechnet und die Wucht des Schlages ließ es taumeln.
Der Raptor verlor das Gleichgewicht und stürzte zur Seite. Robert war frei und er nutzte die Situation um etwas von dem Tier wegzurutschen. Er war trotzdem verletzt und benommen. Aufstehen und weglaufen konnte er nicht, aber der Raptor interessierte sich auch nicht mehr für ihn. Stattdessen sah das Tier mich jetzt feindselig an und knurrte.
Verdammt, was mach ich jetzt, schoss es mir durch den Kopf. Ich war jetzt das neue Ziel des Raptors und das Tier kam langsam auf mich zu. Es wirkte fast vorsichtig. Wahrscheinlich war es sich nicht sicher, ob ich mich nicht doch wieder irgendwie zur Wehr setzen könnte.
Aber der Wok war mir bei meinem Schlag aus der Hand gerutscht und außerdem konnte mir jetzt wohl sowieso nur noch eine Waffe helfen. Die hatte ich nicht, also wich ich vor dem Tier zurück.
Fieberhaft überlegte ich, was ich tun könnte und dann fiel mir etwas ein. Ein kleiner Hoffnungsschimmer...
„Mel, raus hier!" Rief ich ihr zu und sah noch, wie sie Donald aufhalf.
Wenigstens würden sie und Robert sich retten können, dachte ich. Dann wäre mein Tod nicht ganz sinnlos... aber vielleicht klappte ja auch, was ich vorhatte.
Ich hatte nur die eine Chance, also drehte ich mich um und lief los. Direkt in den Kühlraum.
Wie erwartet, folgte der Raptor mir. Womit er aber nicht rechnete war, dass der Boden im Kühlraum glatt gefliest war und da das Tier jetzt nicht mehr vorsichtig lief, sondern auf mich zustürmte, geriet es ins Rutschen.
Ich wich aus und der Raptor schlidderte an mir vorbei.
Sofort rannte ich aus dem Kühlraum und schlug die Tür hinter mir zu. Diese Tür konnte das Tier nicht öffnen, denn der Schließmechanismus der großen Stahltür war nur von außen zu bedienen.
Ich blickte durch die kleine, runde Scheibe in der Tür und sah, wie das Tier sich wieder aufrappelte. Es stürmte auf die Tür zu, aber die massive Tür zitterte nicht einmal.
Frustriert schnaubte das Tier und ich atmete erleichtert auf.
„Das hast du davon, du Mistvieh!" Murmelte ich und dann kam mir noch eine Idee.
Ich fand neben der Tür den Thermostat des Kühlraumes und stellte ihn auf -120° C und Schockfrost ein.
Das würde das Tier nicht überleben... und der Gedanke tat mir nicht einmal leid.
Als ich die Küche verließ stürmte ein halbes Dutzend Wachleute mit Gewehren, sowie auch Henry, Ray und Dr. Harding auf mich zu.
Sie wirkten überrascht, dass ich noch lebte und fragten nach dem Raptor.
„Friert sich jetzt im Kühlraum den Arsch ab." War mein einziger Kommentar.
Im Flur traf ich auch auf Mel, Donald und Robert.
Donald hatte eine Platzwunde am Kopf, die Dr. Harding, der nicht nur Veterinär- sondern auch allgemein Mediziner war, sofort versorgte und Robert war zum Glück auch nicht schwer verletzt. Er hatte ein paar Kratzer und eine tiefere Wunde an der Schulter von den Raubkrallen des Raptors.
Nach ein paar Minuten kam Henry zurück.
„Und?" Fragten einige erwartungsvoll und er sah mich an.
„Hm, na ja, also du hast das Tier schockgefrostet. Da können wir nichts mehr machen..."
Sehr unglücklich war darüber aber niemand.
Ich sprach aus, was alle dachten.
„Ehrlich gesagt ist mir das auch egal. Ich hab die Nase voll von den Raptoren. Die ruinieren uns noch den ganzen Park. Vielleicht sieht John ja jetzt ein, dass es besser wäre sie einzuschläfern..."
Es stellte sich heraus, dass das Tier entkommen war, als sie es zurück in den Pferch bringen wollten. Zum Glück wurde niemand schwer verletzt, aber das Risiko war trotzdem zu groß.
Nach einiger Zeit wollten alle endlich schlafen gehen, aber als ich zu meiner Wohnung kam, war ich geschockt. Das Tier hatte alles total verwüstet und ich wusste nicht, wo ich jetzt schlafen sollte. Mir fiel nur eine Lösung ein... und eigentlich hatte ich Robert sowieso noch besuchen wollen, um mich nach seinem Zustand zu erkundigen.
Mel
Der Schock und die Angst steckten mir immer noch in den Knochen, als Donald mich in mein Appartement brachte.
Nachdem er die Tür geschlossen hatte, kam er zu mir und drückte mich an sich. Ich schlang meine Arme um ihn und vergrub meine Gesicht an seiner Brust.
Allein der Gedanke an die letzten Stunden ließ mich erschauern. Dabei hatte der Tag so schön angefangen.
Nachdem ich Don am Abend zuvor noch zigmal versichert hatte, wie leid mir meine ganze Flugzeugaktion getan hatte und er mir daraufhin zigmal versichert hatte, dass er mir nicht mehr böse war, sonder höchstens erleichtert darüber, dass mir nichts passiert war, hatten wir einen ziemlich entspannten Abend mit den anderen verbracht.
Und der Kreis der Leute, die um unsere Affäre wussten wurde auch immer größer. Ray und Henry waren mittlerweile auch im Bilde und es war nur noch eine Frage der Zeit, bis der Rest der Inselleute Bescheid wusste. „Kreis des Vertrauens" nannte Ray scherzhaft unsere kleine Verschwörung.
Aber Don und ich waren beide darüber erleichtert, dass wir uns, zumindest hier, nicht mehr verstecken mussten.
Nach dem Abendessen machte ich mich auf dem Weg zu Dr. Harding.
In seinem Büro traf ich ihn, in seine Arbeit vertieft, an.
„Oh, hallo, Miss Anderson."
"Bitte, nennen Sie mich Mel. Störe ich?"
„Nein, natürlich nicht. Bitte, setzen Sie sich doch."
Erfreut nahm ich auf dem mir angebotenen Stuhl Platz.
Wir unterhielten uns ziemlich lange und Dr. Hardings Ausführungen zu den Tieren schlugen mich in ihren Bann. Als wir jedoch auf das Thema Fleischfresser zu sprechen kamen, blieb er sehr reserviert. Jedoch konnte er nicht ganz verbergen, dass er von den Raptoren nicht unbedingt begeistert war.
„Diese Tiere sind verdammt intelligent und lernen schnell", antwortete er auf meine Frage, warum er so eine Abneigung gegenüber den Raptoren hatte.
„Ich war von Anfang an dagegen, sie zu züchten. Die meisten Leute hier denken so. Fragen sie zum Beispiel Muldoon. Er ist von den Raptoren nicht gerade begeistert Und wenn Sie mich fragen hat er recht damit, wenn er meint, dass manche Tiere einfach hätten ausgestorben bleiben sollen. Man kann diese Tiere einfach nicht kontrollieren, sie sind völlig unberechenbar. Wir können ja noch nicht einmal genau sagen, wie hoch die Betäubungsmittel-Dosis sein muss, um sie zu betäuben, sollte wirklich mal etwas passieren."
Nach dem Gespräch mit Dr. Harding war ich wieder in mein Appartement zurück gegangen. Donald war nicht da. Aber das hatte ich auch gar nicht erwartet. Obwohl er darauf beharrte, nicht mehr böse zu sein, glaubte ich ihm es irgendwie nicht. Er war beim Abendessen schon so abwesend und schweigsam gewesen.
Allerdings hatte das einen anderen Grund gehabt, als ich zu diesem Zeitpunkt annahm.
Den Grund erfuhr ich dann tatsächlich noch an diesem Abend.
Ich hatte mich bereits Bettfertig gemacht, als es an der Tür klopfte und Donald eintrat.
„Schön, dass man dich mal da antrifft, wo du auch sein sollst", begrüßte er mich.
Ich überging die Spitze. „Was ist denn jetzt schon wieder los?" fragte ich ihn leicht genervt. Anscheinend hatte er es sich zum Hobby gemacht, sauer auf mich zu sein. Und nach heute Nachmittag hatte ich eigentlich gedacht, er hätte sich wieder eingekriegt.
„Du kannst doch nicht einfach in fremden Personalakten rumschnüffeln."
„Und welche sollten das gewesen sein?" Wie zum Teufel hatte er herausgefunden, dass ich mich mit Muldoon etwas näher beschäftigt hatte.
„Robert Muldoon."
„Aha. Und warum hätte ich das tun sollen?"
„Sag du es mir."
„Na schön", seufzte ich. „Luthien hat mich gebeten, mich etwas über ihn zu erkundigen."
„Und was interessantes gefunden?"
„Nein, nicht in seiner Personalakte."
„Aber du konntest es anscheinend nicht lassen weiter im Dreck zu wühlen."
„Ich habe nicht im Dreck gewühlt!"
„Oh, Verzeihung, du hast wühlen lassen."
„Wie kommst du denn schon wieder darauf? Außerdem, woher weißt du das?"
„Oh, kurz vor meiner Abreise hat mich ein gewisser Jason angerufen. Er wollte eigentlich dich sprechen, aber da du nicht da warst..."
„Hast du mit ihm gesprochen", beendete ich seinen Satz. „Und was wollte er?"
„Eigentlich nur wissen, ob du die Informationen über Muldoon gebrauchen konntest."
„Und was für Infos das waren hat er nicht gesagt?"
„Nein, die möchte ich jetzt von dir erfahren."
Er sah mich so durchdringend an, dass mir gar nichts anderes übrig blieb, als ihm alles zu erzählen.
„Es hat mit Australien zu tun. Vor ein paar Jahren war er dort Tieraufseher in einem von Hammonds Tierparks. Er war nicht lange dort, sondern ist für kurze Zeit in den Knast gewandert. Das Traurige an der ganzen Sache ist, dass er unschuldig saß, für den Vorfall nichts konnte und nebenbei dabei noch seinen Sohn verloren hat."
„Von was für einem Vorfall redest du?"
„Er hatte damals die Aufsicht für die Raubkatzen. Zwei der Löwen galten als sehr gefährlich. Bei einer Fütterungsvorführung schaffte es irgend so ein Idiot sich in das Gehege zu schleichen. Die Folge davon kannst du dir sicher vorstellen."
„Er wurde gefressen?"
„Genau. Und Muldoon dafür verantwortlich gemacht. Obwohl er dafür nun wirklich nichts konnte."
„Aber warum wurde er dann eingesperrt?"
„Wie der Zufall es nun mal so will, handelte es sich bei dem Mittagessen der Löwen um einen gewissen Luke McMahon. Er und Muldoon konnten sich auf den Tod nicht ausstehen. Zum einen war McMahon Reporter bei nem kleinen Käseblatt. Er hatte schon öfter Artikel über Muldoon geschrieben, die nicht gerade schmeichelhaft waren. Zum anderen hat er ihm seine damalige Frau ausgespannt. Du kannst dir also vorstellen, dass Muldoon bestimmt nicht gerade traurig über das Ableben von McMahon war."
„Lass mich raten, man hat ihm unterstellt, er hätte die Löwen auf ihn gehetzt."
„Exakt. Und da Muldoon das Gegenteil nicht beweisen konnte, wanderte er in den Bau. Man brauchte einfach einen Schuldigen und da war es egal, dass man ihm nichts beweisen konnte."
„Und was ist mit seinem Sohn?"
„Der hat den Behörden mehr geglaubt als seinem Vater und hat sich von ihm abgewendet."
„Das meintest du also mit ‚verloren'."
„Ja. Soweit ich weiß hat Muldoon seinen Sohn abgöttisch geliebt. Das hat ihn hart getroffen. Selbst als er entlassen wurde und fest stand, dass er absolut unschuldig gesessen hatte, wollte ihm sein Sohn nicht glauben und hat jeglichen Kontakt mit ihm verweigert."
„Warum kam das ganze nie an die Öffentlichkeit?"
Ich zuckte die Schultern. „Da musst du schon Hammond fragen, es war sein Park und Muldoon war sein Angestellter."
„Hm, schlimme Geschichte. Aber er scheint das ganz gut weggesteckt zu haben."
„Das glaub ich nicht", widersprach ich ihm. „So was steckt man nicht so einfach weg. Ich glaube, deswegen ist er auch manchmal so ruppig gegenüber anderen Leuten. Im Grunde ist er kein schlechter Kerl, das habe ich vorhin gemerkt. Ich schätze er hat einfach Probleme anderen Menschen wieder zu vertrauen."
Don sagte eine ganze Weile gar nichts.
„Im übrigen wäre ich dir sehr verbunden, wenn du zu niemandem etwas sagst. Wenn jemand die Geschichte erfahren soll, dann nur von Muldoon selbst."
„Du hast es auch keinem gesagt? Noch nicht mal Luthien?"
„Ich hatte erst überlegt es ihr zu sagen, aber ich finde Muldoon soll es ihr selbst sagen, wenn er es für richtig hält. Dir ist sicher nicht entgangen, dass zwischen den beiden irgendetwas läuft."
Don nickte nur, dann zog er mich in die Arme.
„Sorry, dass ich dich vorhin so angefahren habe."
„Schon gut."
Er blieb die Nacht bei mir und auch den nächsten Tag verbrachten wir zusammen. Es war richtig schön und ungezwungen, bis zu dem Moment, wo der Raptor auftauchte.
Ich hatte noch nie solch eine Angst verspürt. Da stand dieses abgrundtief hässliche Tier und starrte uns aus kleinen tückischen Augen an. Es fegte Robert und Don mit einer Leichtigkeit davon, als wären sie nur Puppen.
An die Szene, wo der Raptor Robert in seinen Fängen hatte, mochte ich gar nicht mehr denken.
„Du zitterst ja schon wieder", riss Dons sanfte Stimme mich aus meinen Gedanken.
„Ich hoffe, es sind nicht noch mehr Raptoren ausgebrochen."
„Bestimmt nicht", versuchte er mich zu beruhigen. „Wir sollten etwas schlafen."
„Du glaubst doch nicht, dass ich jetzt schlafen kann."
„Versuch es wenigstens. Ich bin ja hier und pass auf dich auf."
„Ich werde keinen Schritt mehr vor die Tür gehen."
„Ja, aber jetzt schlaf."
Ich wollte noch mehr protestieren, aber kaum lag ich im Bett, war ich auch schon eingeschlafen.
