und morgen kommt ein neuer Tag

Hier mal meine Version, wie es nach ‚Rilla of Ingleside' weitergehen könnte. Ich habe einfach genau da angefangen, wo Ken auf der Türschwelle steht.

Disclaimer:
Iin meinem Profil.

Summary:
Die alte Welt ist zerstört und nur langsam heilen die Wunden, die der große Krieg hinterlassen hat. Jetzt liegt es bei den Überlebenden, die neue Welt zu einer besseren zu machen. Aber auch das ist einfacher gesagt, als getan.


Jedes Ende ist ein neuer Anfang

Es läutete an der Tür. Rilla ging widerwillig los, um aufzumachen. Es blieb ihr wohl nichts anderes übrig, denn außer ihr war niemand im Haus. Aber wieso musste ausgerechnet jetzt Besuch kommen! Ganz langsam ging sie die Treppe hinunter und öffnete schließlich die Haustür.
Ein Mann in Uniform stand auf der Treppe, ein großer Mann mit dunklen Augen und dunklem Haar, mit einer schmalen weißen Narbe quer über die braungebrannte Wange. Rilla starrte ihn einen Augenblick entgeistert an. Wer war das? Den kannte sie doch von irgendwoher, er hatte so etwas Vertrautes –
„Rilla-meine-Rilla", sagte er.
„Ken!", rief Rilla und schnappte nach Luft. Natürlich, das war Ken, aber er sah um so viel älter aus und so verändert. Diese Narbe, diese Falten um seine Augen und seinen Mund. Ihre Gedanken kreisten hilflos durcheinander.
Ken nahm ihre Hand, die sie ihm unbeholfen entgegenstreckte, und sah sie an. Die magere Rilla von damals hatte Rundungen bekommen. Ein Schulmädchen hatte er zurückgelassen, eine Frau fand er nun wieder, eine Frau mit wunderschönen Augen und einem Grübchen in der Lippe, mit rosigen Wangen, eine wirklich schöne, begehrenswerte Frau – die Frau seiner Träume!
„Du bist doch Rilla-
meine-Rilla?", fragte er erwartungsvoll.
Rilla bebte von Kopf bis Fuß. Freude, Glück, Trauer, Angst – all diese Gefühle, mit denen sie sich die letzten vier Jahre hatte abquälen müssen, wallten nun mit einem Mal wieder auf. Sie versuchte zu sprechen, doch ihre Stimme wollte zuerst nicht mitmachen. Dann flüsterte sie: „Ja, Kenneth."

Rilla biss sich auf die Zungenspitze. Da kam ihr Liebster nach beinahe vier Jahren aus dem Krieg zurück und sie hatte nichts Besseres zu tun, als zu lispeln. Wieso musste so was immer ausgerechnet ihr passieren?

„Was ist los?", erkundigte sich Ken besorgt. Rilla errötete und drehte den Kopf weg.

„Nichts", erwiderte sie steif, krampfhaft darauf bemüht, nicht zu lispeln, „es ist nichts."

Ken dagegen verstand die Welt nicht mehr. Grade eben hatte sie ihm noch versichert, sie wäre sein und jetzt verhielt sie sich so abweisend. Als Rilla immer noch keine Regung zeigte, schob Ken seine Hand unter ihr Kinn und drehte ihren Kopf mit sanfter Gewalt, sodass sie ihn ansehen musste.

„Was ist los?", fragte er noch einmal. Rilla errötete nur noch mehr und gestand schließlich leise: „Es ist… dumm. Ich habe früher gelispelt und naja, mittlerweile passiert mir das nur noch, wenn ich nervös, aufgeregt oder verwirrt bin und…"

„…und grade hast du gelispelt?", vervollständigte Ken, als sie nicht mehr weiter sprach. Rilla nickte schwach.

Für ein paar Augenblicke sagte keiner von beiden etwas, dann brach Ken in schallendes Gelächter aus.

„Lach nicht!", protestierte Rilla. Ihr Gesichtsausdruck war irgendwo zwischen beschämt, gequält, glücklich und verwirrt.

Kens Gelächter ebbte ab, aber ein Grinsen konnte er sich nicht verbeißen. Er sah ein paar Sekunden schweigend auf Rilla hinab, bis sie den Blick hob und ihn zaghaft ansah.

Ganz sanft begann er mit der Hand, die bis eben noch ihr Kinn gehalten hatte, ihre Wange zu streicheln. Sein anderer Arm legte sich um ihre Taille und zog sie näher, während sein Grinsen zu einem Lächeln verblasste.

Rilla schloss die Augen, lehnte sich gegen ihn und genoss es, einfach bei ihm zu sein. Wenn es nur nicht so kalt gewesen wäre…

Rilla schlug in genau dem Augenblick die Augen auf, in dem Ken sich vorgelehnt hatte, um sie zu küssen. Jetzt wich er wieder etwas zurück und hob eine Augenbraue.

„Oh Gott, Susan hätte einiges zu sagen, wenn sie mich jetzt grade sehen konnte. Mir scheint, ich bin ein hoffnungsloser Fall. Wie lange genau habe ich dich jetzt draußen auf der Türschwelle stehen lassen?", Rilla errötete schon wieder und entwand sich aus seinen Armen.

Ken zuckte die Achseln und folgte ihr grinsend ins Haus. Sie mochte noch so sehr eine erwachsene Frau sein, im Moment war sie genauso unsicher, wie sie es vor vier, fünf Jahren gewesen war, damals auf der Party oder später, als Ken seinen Abschiedsbesuch gemacht hatte.

„Setz dich", forderte Rilla ihn auf, nachdem sie ihn ins Wohnzimmer geführt hatte, und deutete auf die Couch. „Kann ich dir irgendwas anbieten? Etwas zu trinken? Oder bist du vielleicht hungrig? Sag mir einfach, was du möchtest", Rilla überspielte ihre Unsicherheit, indem sie die perfekte Hausfrau gab – oder eben das beides versuchte.

„Was ich möchte, fragst du?", Kens Stimme war sanft und schien tiefer als sonst. Und Rilla bemerkte durchaus, dass er nicht von Essen sprach.

„Es gibt da etwas, wonach ich mich seit fast vier Jahren sehne", fuhr Ken langsam fort und trat hinter sie.

„Und das wäre?", hakte Rilla atemlos nach. Innerlich machte sie drei Kreuze. Ja, gut, ihre Stimme hatte ein bisschen gezittert, aber immerhin hatte sie nicht gelispelt. Ken hatte derweil seine Arme um ihre Taille gelegt.

Sie lehnte sich gegen ihn, ihr Kopf an seiner Schulter, ihr Rücken gegen seine Brust. Ken beugte sich nach vorne und hauchte einen Kuss auf ihre Kehle. Er konnte spüren, dass ihr Puls ungefähr doppelt so schnell schlug, wie normalerweise.

„Ein Kuss von dir", murmelte er dann in ihr Ohr. Rilla, überrascht über ihren eigenen Mut, erwiderte leise: „Dann wollen wir dich mal nicht länger warten lassen."

Sie drehte sich halb in seinen Armen, sodass sie ihn ansehen konnte und Ken beugte sich zu ihr herunter, um sie zu küssen.

„Sonst noch irgendwelche unerfüllten Sehnsüchte?", erkundigte Rilla sich, nachdem sie und Ken sich wieder voneinander gelöst hatten.

„Eine Menge", erwiderte er grinsend, „aber für den Moment bin ich zufrieden. Wie sieht es bei dir aus?"

„Hm…", Rilla tat, als würde sie nachdenken, während sie sich von Ken zum Sofa führen ließ und Platz nahm, „ich hätte höchstens ein paar Fragen, auf die ich eine Antwort bräuchte."

„Okay, dann frag. Komm mir aber jetzt bitte nicht mit dem Sinn des Lebens oder so, ja?", Ken zog sie auf seinen Schoß und begann wieder mit einer Hand ihre Wange zu streicheln.

„Warum hast du nicht geschrieben? Seit zwei Wochen bist du zurück und ich habe keine einzige Zeile erhalten. Nichts!", Rillas Tonfall war ernst geworden, beinahe verletzt.

„Keine Ahnung, warum?", wollte Ken wiederum von ihr wissen. Rilla schüttelte den Kopf: „Halt mich für dumm, aber ‚nein'."

„Wie könnte ich?", Ken griff nach einer einzelnen Haarsträhne, die sich aus ihrer Frisur gelöst hatte und zwirbelte sie um seinen Finger, „wie könnte ich dich für dumm halten?"

„Weil es stimmt", erwiderte Rilla achselzuckend, „Ich bin nun mal der Dummkopf in der Familie. Ich bin die einzige ohne Ehrgeiz, die einzige, die nie studiert hat und anscheinend auch die einzige, die nichts von Mum und Dads Intelligenz geerbt hat. Man gewöhnt sich dran."

Ken lehnte sich etwas zurück, um ihr richtig ins Gesicht sehen zu können: „Glaubst du wirklich, dass jeder dumm ist, der nicht studiert, Rilla-meine-Rilla?"

„Nein, aber… ich weiß nicht. Ich BIN nun mal der Dumm–", begann Rilla, wurde aber unterbrochen, als Ken ihr einen Finger auf die Lippen legte, um sie zum schweigen zu bringen.

„Sag das nicht. Du bist nicht dumm oder weniger intelligent als die anderen. Abgesehen davon habe ich gehört, dass du deiner Mutter in den letzten Jahren eine wirkliche Stütze warst und ich finde, so was ist mehr wert, als irgendein Studium", Ken klang so überzeugt, dass Rilla gar nicht anders konnte, als ihm zu glauben.

„Ja, wahrscheinlich hast du Recht", gestand sie ein, „aber meiner Frage bist du trotzdem ausgewichen."

Ken grinste. „Du hast es also doch noch gemerkt", flachste er, „gut, ich könnte dir jetzt erzählen, dass ich dir persönlich sagen wollte, dass ich zurück bin, was auch stimmt, aber der wahre Grund ist eigentlich viel simpler: Ich habe mich nicht getraut."

„Wieso das nicht?", Rilla verstand die Welt nicht mehr. „Naja. Ich hatte Angst davor, was mir hier erwartet. Dass du vielleicht geheiratet hättest oder krank geworden wärst, dass du mich auf einmal nicht mehr leiden kannst oder dich in jemand anderen verliebt hättest. Es gibt da genug Möglichkeiten", erklärte Ken.

Rilla legte den Kopf schief und lächelte: „Gut, dann werde ich deine Bedenken mal aus der Welt räumen. Ich mag dich wirklich gerne und ich habe mich in niemand anderen verliebt. Ich bin nicht krank – zumindest nicht, dass ich es wüsste – und ich habe niemand anderem ein Eheversprechen gegeben.

Mein einziges Versprechen, was ansatzweise in so eine Richtung geht, war, als ich dir versprochen habe, dass mich kein anderer küsst, bis zu deiner Rückkehr. Und das habe ich gehalten!"

„Ja…", Ken schien sich in seinen Gedanken zu verlieren. Rilla sah ihn aufmerksam an und wartete ab, ob er vorhatte, sie an seinen Überlegungen teilhaben zu lassen oder nicht.

„Weißt du eigentlich, was mir da drüben geholfen hat, wenn ich keinen Ausweg mehr gesehen habe?", erkundigte Ken sich dann und Rilla wusste genau, dass er sich die Worte im Kopf zurechtgelegt hatte. Sie schüttelte den Kopf, obwohl sie durchaus ahnte, was jetzt kam.

„Du", bestätigte Ken ihre Ahnung, „ich habe da diese Erinnerung an dich, wie du auf der Terrasse saßt, Jims im Arm und so wunderschön aussahst, dass es beinahe wehtat. Das war auch der Moment, in dem ich begriffen habe, dass ich dich liebe."

Rilla lächelte und beugte sich vor und küsste ihn.

„Ich dich auch", wisperte sie in sein Ohr. Kens Arme, bis eben nur lose um ihre Taille gelegt, verstärkten ihren Griff. Er zog sie so nach zu sich heran, wie er konnte, hielt sie fest, als würde er sie verlieren, sobald er sie losließ.

„Ich hab dich vermisst", murmelte sie, „und ich war krank vor Sorge um dich." Ken brachte sie durch einen Kuss zum Schweigen.


Wirklich sagen konnte keiner von beiden, wie lange sie auf dem Sofa im Wohnzimmer saßen, redeten und es einfach genossen, beieinander zu sein, aber irgendwann stellte Rilla fest, dass die Sonne unterging.

„Ich gehe dann wohl besser mal", erklärte Ken, rührte sich aber nicht von der Stelle. „Ja, es wird spät", stimmte Rilla zu, zeigte aber keine Anstalten, aufzustehen oder auch nur ihren Kopf zu heben, der auf Kens Schoß ruhte. Er lachte, während sie unwillig das Gesicht verzog.

„Ich komme morgen wieder", versprach Ken nun seinerseits. Widerwillig richtete Rilla sich auf und schwang die Beine über die Sofakante.

„Ich bring dich zur Tür", erklärte sie und folgte Ken zur Haustür. Er öffnete diese, trat hinaus, drehte sich dann aber noch einmal um und gab Rilla einen Abschiedskuss, der einen vermuten ließ, die Zeit bis zu ihrem nächsten Treffen bestände aus Jahren und nicht aus Stunden.

„Bis dann", wisperte Rilla.

Ken küsste sie auf die Stirn: „Träum was wunderschönes, Rilla-meine-Rilla."

Nachdem Ken weg war, ging Rilla wieder in ihr Zimmer und wollte ihr Tagebuch auf den neusten Stand bringen, aber nach ein paar Minuten ertappte sie sich selbst dabei, dass sie verträumt vor einer völlig leeren Seite saß und aus dem Fenster sah.

Leise lachend schlug sie das Tagebuch wieder zu. Das konnte sie auch noch später erledigen. Ihr Blick fiel auf Walters Bild, das über ihrem Schreibtisch hing.

„Weißt du was, Walter? Ich bin verliebt. Wirklich und richtig verliebt. Und das Beste ist, dass er mich auch liebt. Er hat es mir gesagt. Ich glaube, dir würde das gefallen. Er ist immerhin einer deiner besten Freunde.

Hättest du dir jemals vorstellen können, dass Kenneth Ford sich tatsächlich in MICH verlieben könnte? Ach, was frage ich. Natürlich. Für dich war nichts unmöglich oder undenkbar. Und du wusstest es.

Du hast gesagt, dass er zu mir zurückkehrt und er hat es wirklich getan. Ich bin glücklich wie seit Jahren nicht mehr, vielleicht so glücklich wie noch nie. Freust du dich für mich, Walter?"

Und es war ihr, als höre sie sein Lachen, seine Stimme, die ihr versicherte, dass es so war.