Geliehenes Glück

Einige Minuten, nachdem Rilla ihre etwas einseitige Unterhaltung mit Walter beendet hatte, läutete es erneut an der Tür. Wieder erhob sie sich nur widerwillig und überlegte, wer das sein konnte. Ihr fiel niemand ein.

Umso überraschter war sie, als auf der Schwelle in ein durchaus bekanntes, aber vollkommen unerwartetes Gesicht blickte.

„Fred!", Rilla strahlte ihn an, „ich wusste gar nicht, dass du wieder in Glen bist. Komm doch rein! Wie geht es dir?"

„Ähm, hallo Rilla. Ich bin, äh, gestern angekommen. Mir geht's, ähm, gut, nehme ich an", stotterte ein etwas überrumpelter Fred Arnold und folgte Rilla ins Haus.

„Setz dich", forderte sie ihn auf und deutete auf das Sofa, auf dem sie eben noch mit Ken gesessen hatte, „kann ich dir irgendetwas bringen?"

„Ähm, nein… nein, danke", Fred setzte sich etwas steif auf die Sofakante und sah, wie Rilla im Sessel gegenüber Platz nahm und ihn anlächelte.

„Gut, dann nicht. Aber falls du doch noch Hunger oder Durst kriegst, dann sag einfach Bescheid und ich hol dir etwas", bot sie an. Fred nickte nur stumm.

Tatsächlich wusste der arme Fred nicht mehr, wie ihm geschah. Hatte sie nicht seinen Heiratsantrag unter Tränen ausgeschlagen? Und ihm einen freundschaftlichen Kuss verweigert? Wegen Kenneth Ford? Wieso benahm sich Rilla Blythe plötzlich so, als wäre er der einzige Mensch auf Erden?

Sicher, sie hatte ihm regelmäßig geschrieben, aber ihre Briefe waren von rein freundschaftlicher, ernüchterter und ernüchternder Natur gewesen. Die ganze Zeit über hatte sie ihn deutlich spüren lassen, was sie auch an dem verhängnisvollen Tag gesagt hatte, an dem er seine Abschiedbesuch gemacht hatte.

Dass sie ihn mochte und er ihr wirklich wichtig war – als Freund. Dass sie ihn nicht heiraten würde, nie in ihrem Leben. Dass sie Kenneth Ford liebte und ihm versprochen hatte, niemand anderen zu küssen. Aber jetzt…

Wie sollte er ihr Verhalten anders deuten? Es war immerhin eine lange Zeit gewesen. Sollte sie am Ende doch begriffen haben, dass er ihr doch mehr bedeutete, als ein Freund? Sollte sie vielleicht sogar Ken Ford den Laufpass gegeben haben? Sollte sie ihn doch heiraten wollen?

Während Fred langsam wieder neue Hoffnung schöpfte, war Rilla in ihrer eigenen, rosaroten Welt gefangen, in der lediglich ein bestimmter Mann die Hauptrolle spielte. Und das war ganz sicher nicht der, der ihr da grade gegenüber saß.

Tatsächlich freute sie sich, Fred wieder zu sehen, immerhin zählte sie ihn zu ihren guten Freunden, aber die Hauptursache für ihre überschwängliche Freundlichkeit und ihre überquellende Fröhlichkeit, rührte ganz einfach daher, dass sie ihre Glücklichkeit über Kens Besuch jetzt auf Fred projizierte.

Dass sie damit dem armen Fred Hoffnungen machte, kam ihr nicht einmal in den Sinn. So antwortete sie auf seine Frage, ob sie ihn den wenigstens ein bisschen vermisst hätte mit einem beinahe entrüsteten „natürlich!"

Tatsächlich merkte Fred, dass sie mit ihren Gedanken nur halb bei ihm war, legte das aber genau falsch aus. Vielleicht wollte er es auch einfach falsch auslegen, um seine Hoffnungen noch nicht ganz begraben zu müssen.

Und Rilla, der sein Verhalten normalerweise wohl aufgefallen wäre, konzentrierte sich einfach nicht genug auf ihren Gesprächspartner.

Grade, als Fred den Mut gesammelt hatte, die folgenschwere Frage ein zweites Mal zu stellen, öffnete sich die Haustür und Rillas Schwestern, sowie ihre Mutter, betraten das Zimmer.

„Oh, hallo Fred", begrüßte Anne den Gast ihrer Tochter, „ich wusste gar nicht, dass du wieder in Glen bist."

„Guten Tag, Mrs. Dr. Blythe, guten Tag Anne, Diana", grüßte Fred höflich, „ich bin gestern angekommen."

„Und dann kommst du direkt her, um unser Schwesterchen zu besuchen?", Di sah grinsend von Fred zu Rilla und wieder zurück.

„Sag mal, Di, kommt das Wort ‚platonisch' in deinem Wortschatz vor?", erkundigte Rilla sich unschuldig und wie es zu erwarten war, nahm Nan die Seite ihrer Zwillingsschwester ein.

„Die Frage ist nur, ob es in DEINEM vorkommt", bemerkte sie grinsend.

„Mädchen", rief Anne ihre Töchter halbherzig zur Ordnung.

„Ähm, ich denke, ich gehe dann mal", Fred stand auf, „auf Wiedersehen, Mrs. Dr. Blythe. Anne, Diana."

„Ich bring dich noch zur Tür", Rilla erhob sich ebenfalls und warf ihren Schwestern im Vorbeigehen einen mörderischen Blick zu. Woran die mal wieder dachten!

„Also, was wollte er?", fragte Di mit glänzenden Augen.

„Genau, was wollte er?", Nan war ebenso erpicht darauf, zu hören, was der Grund für Freds Besuch gewesen war.

„Er wollte nur mal ‚hallo' sagen, mehr nicht", Rilla rollte mit den Augen.

„Mhm, sicher", bemerkte Nan sarkastisch, „er sah schrecklich nervös aus, als hätte er vorgehabt, dir einen Antrag zu machen und deine Augen strahlen so sehr, dass es einen blenden könnte."

„Fred ist nur ein Freund, wirklich", wiegelte Rilla ab, „immerhin hat er mir schon einen Antrag gemacht und ich habe ihn abgelehnt. Dürfte doch alles sagen, oder?"

Bevor Nan oder Di etwas erwidern konnte, erkundigte Anne sich: „War sonst noch irgendwer da, während wir weg waren?"

„Nur Ken", Rilla zuckte mit den Schultern.

„Ford?", fragte Di sogleich und Rilla nickt betont gleichgültig.

„Dann hat er ja außer dir niemanden angetroffen", überlegte Nan, „kommt er noch mal wieder?"

Wieder nickte Rilla: „Er wollte morgen noch mal reinschauen."

„Zu wem wollte er denn? Zu Jem, zu Nan oder zu mir?", wollte Di jetzt wissen.

„Zu keinem von euch", erwiderte Rilla.

Nan runzelte die Stirn: „Zu wem dann?"

„Überleg mal", forderte Rilla sie auf.

„Hat seine Mutter ihn zu Mum geschickt?", rätselte Di. Rilla schüttelte den Kopf.

„Dann sein Vater?", versuchte Nan es weiter. Wieder schüttelte Rilla den Kopf. Anne stand daneben und amüsierte sich still darüber, wie Rilla langsam immer wütender wurde und Nan und Di tatsächlich vollkommen ahnungslos waren.

„Shirley ist noch nicht wieder hier und außerdem standen die beiden einander nie besonders nah", überlegte Nan, „okay, ich passe."

„Ich auch", schloss Di sich an. Beide sahen ihre kleine Schwester erwartungsvoll an.

„Wer wohnt denn sonst noch in diesem Haus?", fragte Rilla sarkastisch.

„Naja, Susan, aber zu der wollte er ganz sicher nicht. Und du natürlich, aber…", hier wurde Di von Rilla unterbrochen: „Ganz recht. Ich!"

„Er wollte zu DIR?", Nan fiel aus allen Wolken.

„Was sollte er denn von dir wollen?", erkundigte auch Di sich. Rilla starrte ihre Schwester kurz an, drehte sich dann um und verschwand wortlos nach oben.

„Mum?", die Zwillinge drehten sich zu Anne um, als erwarteten sie eine Erklärung von ihr.


Rilla verließ ihr Zimmer den ganzen Abend nicht mehr und da Anne sich strikt weigerte, irgendetwas zu erzählen, saßen die Zwillinge auf heißen Kohlen.

Es tat ihnen mittlerweile Leid, wie sie reagiert hatten, aber die Neuigkeiten (die ja eigentlich keine waren, da Rilla nicht wirklich viel erzählt hatte), waren so überraschend gekommen, dass sie es gar nicht hatten glauben können.

Auch am nächsten Tag ließ Rilla sich morgens nicht blicken. Um elf Uhr überlegten Nan und Di, ob sie hochgehen sollten, da klingelte es an der Tür. Jem ging hin um zu öffnen (Gilbert war bei einem Patienten und Anne und Susan im Dorf) und sah sich zu seiner Überraschung Ken gegenüber.

„Ken", begrüßte er ihn erfreut, „auch wieder im Lande?"

„Seit zwei Wochen und seit gestern hier in Glen", antwortete Ken und folgte Jem ins Haus.

„Und wie kommen wir zu der Ehre deines Besuches, einen Tag nach deiner Ankunft?", erkundigte Jem sich scherzhaft.

„Naja, eigentlich wollte ich zu Rilla", gab Ken zu. Die Zwillinge, die soeben das Wohnzimmer betreten hatten, erstarrten und wechselten einen Blick.

„Nan! Di! Schön euch zu sehen", begrüßte Ken die Zwillinge erfreut. Während sie ihn ebenfalls begrüßten und erklärten, wie toll es doch war, ihn wieder zu sehen, brachte Jem langsam Sinn in Kens Antwort.

„Was genau willst du von Rilla?", fragte er mit gerunzelter Stirn. „

Nur heute oder generell?", erkundigte Ken sich.

„Wie wäre es mit beidem?", schlug Jem vor.

„Jem, die Beschützerrolle steht dir nicht", erklang Rillas Stimme von der Treppe, „hey, Ken." „Hi", grüßte er zurück und trat an den Fuß der Treppe.

Rilla schwebte die Treppe herunter, aber ihre Augen funkelten amüsiert. Als sie ihn erreicht hatte, streckte Rilla Ken eine Hand entgegen, die er ergriff und mit einer galanten Verbeugung küsste.

„Möchte mich jemand aufklären?", schaltete Jem sich ein und überging damit Rillas Kommentar von zuvor.

„Sicher", Ken nickte und schlang gleichzeitig einen Arm um Rillas Taille, „frag nur."

Jem verdrehte die Augen: „Was genau geht hier vor?"

„Ist das nicht offensichtlich?", Rilla war augenscheinlich ziemlich genervt.

„Du hast meine Frage von eben nicht beantwortet", erinnerte Jem Ken. Der grinste.

„Also, für heute habe ich vor, sie runter ins Regenbogental zu entführen und was meine generellen Intentionen angeht, wäre die erste, die es zu erfüllen gilt, sicher zu gehen, dass ich überhaupt die Chance kriege, an die anderen nur zu denken", erklärte Ken, „mir ist lediglich euer Vater noch nicht über den Weg gelaufen."

Rillas Kopf flog nach oben, Jem hob eine Augenbraue und die Zwillinge wechselten wieder einen Blick.

„Nun denn, dann will ich euch nicht länger aufhalten", bemerkte Jem dann, „einen schönen Tag noch."

„Zu gütig", fauchte Rilla, in dem Moment, in dem Ken versicherte: „Werden wir haben."

„Er hat grade nicht angedeutet, dass er vorhat, ihr einen Antrag zu machen, oder?", fragte Di perplex, als beide weg waren.

„Doch", Jem nickte, „genau das."

„Aber sie ist doch noch ein halbes Kind", empörte Di sich beinahe.

„Naja", Nan sah nachdenklich aus dem Fenster, „sie ist neunzehn. Wenn Jerry nicht gegangen wäre, wäre ich mit neunzehn wohl auch verlobt gewesen. So klein ist Rilla nicht mehr."

Di hob überrascht den Kopf. Ja, natürlich hatte sie das Alter ihrer kleinen Schwester gewusst, aber Rilla war immer die Kleine gewesen, immer zu jung für alles und jetzt auf einmal sollte sie praktisch schon verlobt sein?

Die drei beobachteten Rilla und Ken, die sich auf den Weg zum Regenbogental gemacht hatten. Sie redete über irgendetwas, während er sie betrachtete und ihr zuhörte. Nachdem Rilla ihren Redefluss gestoppt hatte, beugte Ken sich zu ihr herunter und flüsterte ihr etwas ins Ohr.

Sie wich zurück, schnappte gespielt empört nach Luft, konnte sich aber ein Grinsen nicht ganz verkneifen, als sie ihn spielerisch gegen die Brust boxte. Ken tat, als wäre er verletzt und legte eine Hand auf sein Herz.

Wieder sagte er etwas, woraufhin Rilla lachend die Augen verdrehte und näher zu ihm ging, um ihn schnell auf die Lippen zu küssen. Als sie sich wieder von ihm löste, hielt er sie fest.

Rilla ließ zu, dass er sie noch einmal küsste, dann machte sie sich aus seinen Armen los, trat ein paar Schritte weg und grinste ihn herausfordernd an.

„Nun, sollen sie glücklich werden", bemerkte Jem ungewöhnlich milde, drehte sich um und verließ den Raum. Seine zurückgebliebenen Schwestern sahen erst einander an, dann auf die halb angelehnte Tür, durch die er verschwunden war und wieder auf Ken und Rilla.

Der Krieg hatte sie alle wohl doch mehr verändert, als sie es wahrhaben wollten.