Carpe Diem
„Wer hat eigentlich Geschwister erfunden?", erregte Rilla sich, nachdem sie und Ken Ingleside verlassen hatten, „ich meine, die sind doch sowieso zu nichts nütze, oder?"
„Naja, manchmal schon", bemerkte Ken amüsiert. Rilla warf ihm nur einen mörderischen Blick zu und fuhr fort, sich über ihre älteren Geschwister aufzuregen. Ken hörte ihr mit halbem Ohr zu und stellte gleichzeitig fest, wie wunderschön sie geworden war.
„Weißt du eigentlich, wie süß du aussiehst, wenn du dich aufregst?", murmelte er in ihr Ohr. Rilla drehte sich zu ihm um und tat empört, als sie nach Luft schnappte und erklärte: „Kenneth Ford, das habe ich jetzt nicht gehört!"
Als er sie nur weiterhin angrinste, boxte sie ihn sachte gegen die Brust. Er hob eine Hand zum Herz, setzte einen leidenden Blick auf und verkündete theatralisch: „Das war mein Ende. Und Ihr seid Schuld, Miss Blythe. Das einzige, was mich jetzt noch retten kann ist ein Kuss von Ihnen."
Sie lachte und rollte mit den Augen, teils um ihre Unsicherheit zu überspielen, als sie näher trat und ihn schnell küsste. Ken jedoch hielt sie fest und küsste sie ein zweites Mal, bis sie sich losriss und ihn triumphierend ansah.
„Friede?", bot Ken an und trat einen Schritt auf sie zu. Rilla nickte widerstrebend und kam ebenfalls näher. Er legte einen Arm um ihre Taille und sah sie grinsend an. „
Also, du warst grade dabei, dich darüber aufzuregen, dass Jem, Nan und Di am besten niemals auf die Welt gekommen wären, richtig?", neckte er und fing sich dafür wieder einen mörderischen Blick ein.
Ken fing die Hand ab, die sie schon wieder erhoben hatte und bemerkte: „Etwas gewalttätig sind wir, nicht wahr?"
Rilla wollte wieder von ihm wegtreten, doch Kens Arm um ihre Taille hielt sie wirksam davon ab. Er ließ ihre Hand los und legte den anderen Arm ebenfalls um sie, sodass sie einander nun ansahen.
Rillas Gesicht wurde weicher, als sie die Hand hob und mit einem Finger so sachte die Narbe an Kens Wange nachfuhr, dass er kaum etwas davon spürte.
„Wo hast du die her?", fragte sie vorsichtig und vermied es, Ken, der unverwandt auf sie herab sah, in die Augen zu sehen.
„Schrapnell, Somme-Front", erwiderte er knapp. Sein Gesichtsausdruck war hart geworden.
Ihr Finger fuhr an seinem Hals hinunter, an dem sich ebenfalls eine Narbe befand, allerdings klein und auf den ersten Blick nicht sichtbar, zu seiner Uniform und verharrte über den Orden, die an Kens Brust geheftet waren.
„Victoria Cross?", fragte sie, „wofür?"
„Fürs Töten", Kens Stimme hatte einen bitteren Unterton angenommen.
„Wann?", fragte Rilla vorsichtig weiter, um nichts zu seinem letzten Kommentar sagen zu müssen.
„Vimy", war seine Antwort. Ken schien mit den Gedanken weit weg zu sein. Sein Gesichtsausdruck war hart und bitter. Rilla fuhr sich nervös mit der Zunge über die Lippen. Sie wusste nicht, wie genau sie handeln sollte.
„Ken… ich… es tut –", begann sie unsicher, doch er legte er sanft einen Finger auf die Lippen und brachte sie zum Schweigen.
„Kein Grund sich zu entschuldigen, Honey", murmelte er und zog sie näher zu sich, „mir tut es Leid. Ich sollte nicht so reden. Vergessen wir's, okay?"
Rilla nickte, legte den Kopf gegen seine Schulter und kuschelte sich an ihn. In Gedanken jedoch fragte sie sich, ob die Soldaten jemals über den Krieg hinweg kommen würden. Sie bezweifelte es stark.
„Was hältst du davon, wenn du heute mit uns zu Abend isst?", fragte Rilla einige Zeit später und sah zu Ken auf.
„Kann ich machen", erwiderte er und grinste.
„Hey, nicht so enthusiastisch", bemerkte Rilla sarkastisch, woraufhin Ken sich zu ihr herunter beugte und sie küsste.
„Willa! Willa!", ertönte dann eine Stimme und ließ die beiden auseinander fahren. Jims rannte, so schnell ihn seine Beine trugen, auf sie zu und rief immer wieder seinen Spitznamen für Rilla.
Es war schließlich nicht so, als könnte er ihn, mit viereinhalb Jahren, nicht aussprechen. Nein, vielmehr hatte Jims irgendwann einmal beschlossen, dass er sie ab jetzt ‚Willa' nennen würde und war dabei geblieben.
Als er sie erreicht hatte, beugte Rilla sich zu ihrem ‚Kriegsbaby' und umarmte ihn.
„Hallo Willa", grinste er sie an und warf einen Blick auf Ken, der die beiden beobachtete. Auch Rilla wandte sich jetzt an ihn: „Ich denke, du erinnerst dich noch an Jims!"
„Natürlich", erwiderte Ken, ging aber unter, als Jims krakeelte: „Wer ist das, Willa?"
„Das kannst du ihn auch selbst fragen", forderte sie den Jungen auf, „er beißt nicht." Jims, der sich da anscheinend nicht so sicher war, beäugte Ken misstrauisch, handelte aber weisungsgemäß.
Ken kniete sich hin, damit er auf Augenhöhe mit dem Jungen war und erwiderte freundlich: „Kenneth Ford und du?"
„James Kit-Kit-Kit…", Jims runzelte die Stirn und versuchte krampfhaft, seinen zweiten Namen hervorzubringen.
„James Kitchener Anderson", half Rilla aus und musterte den Jungen liebevoll.
„Genau das", Jims nickte heftig, „aber du kannst mich Jims nennen."
„Na gut, Jims. Und wem genau bist du grade ausgebüxt?", bevor Jims Zeit hatte, Kens Frage zu beantworten, hörten die drei auch schon die Stimme seiner Stiefmutter: „Da bist du, James Kitchener Anderson! Einfach so wegzulaufen. Ich habe mir Sorgen gemacht."
„Tut mir Leid", Jims wirkte nicht wirklich, als meinte er seine Worte.
„Ich hoffe, er hat Sie nicht belästigt", entschuldigte sich Mrs. Anderson.
„Aber nein", beruhigte Rilla sie, „überhaupt nicht. Mrs. Anderson, darf ich Ihnen Kenneth Ford vorstellen? Ken, Mrs. Anderson, die zweite Frau von Jim Anderson."
„Freut mich Sie kennen zu lernen", Ken lächelte höflich und schüttelte Mrs. Andersons Hand.
„Die Freude ist ganz auf meiner Seite. Aber ich muss mich schon wieder verabschieden. Ich muss noch einkaufen. Jims, verabschiede doch von Miss Blythe und Mr. Ford."
„Tschüß Willa. Tschüß…", Jims schien unsicher, welche Anrede er für Ken verwenden sollte. Der beugte sich wieder zu Jims herunter und flüsterte ihm etwas ins Ohr, woraufhin der Junge einen gewichtigen Ausdruck auf dem Gesicht bekam. Rilla und Mrs. Anderson tauschten einen amüsierten Blick.
„Tschüß Ken", Jims winkte und sprang schon wieder in die andere Richtung davon. Mrs. Anderson verdrehte die Augen, lächelte aber gleichzeitig liebevoll: „So ein Wirbelwind…! Auf Wiedersehen dann."
„Auf Wiedersehen", erwiderten die beiden und kaum, dass Mrs. Anderson sich ein paar Meter entfernt hatte, drehte Ken sich zu Rilla und fragte grinsend: „So, wo waren wir stehen geblieben?"
Rilla rollte mit den Augen und erkundigte sich ihrerseits: „Wie kommt's, dass du so gut mit Kindern umgehen kannst?"
„Ich mag Kinder", erklärte Ken, „und meine Cousins und Cousinen sind teilweiße älter als ich und haben selbst schon seit Jahren eigene Kinder. Mit denen habe ich mich früher hin und wieder beschäftigt."
Rilla lächelte und warf einen Blick auf die Uhr. „Ich muss leider los", erklärte sie bedauernd, „kommst du dann heute um 7? Kannst auch deine Eltern mitbringen."
Die beiden verabschiedeten sich voneinander und Rilla schwebte auf Wolke 7 nach Hause.
„Na, wie war's?", fragte Di feixend, als Rilla das Wohnzimmer von Ingleside betrat.
Die jüngere machte auf dem Absatz kehrt und war schon ein paar Schritte entfernt, als Nan ihr hinterher rief: „Rilla? Ich wollte mich noch wegen meinem Verhalten von gestern entschuldigen. Es war nicht angebracht. Tut mir Leid."
„Mir auch", bekräftigte Di und beide sahen erwartungsvoll zur Tür, durch die Rilla grade wieder herein trat.
„Angenommen", sie grinste schon wieder und ließ sich in einen Sessel fallen.
„Und?", jetzt wollte auch Nan wissen, wie genau Rilla und Ken zueinander standen.
„Er kommt heute zum Essen. Mit seinen Eltern", wich Rilla aus und die Zwillinge wechselten einen viel sagenden Blick.
„Ihr seid schrecklich, wisst ihr das?", beschwerte Rilla sich grinsend und warf ein Kissen nach Di, die sich einfach darunter wegduckte.
„Nan?", ertönte in dem Moment Jems Stimme, „ich war grade bei den Meredith drüben und Carl meinte, dass Jerry fragen lässt ob du dich heute Abend mit ihm in Regenbogental treffen willst."
„Jerry?", Nan sprang wie elektrisiert auf.
„Da sieh mal einer an…", bemerkte Rilla schadenfroh und auch Di konnte es nicht lassen: „Liebster Gerald!" Nan warf ihren Schwestern tödliche Blicke zu, die diese aber ignorierten.
„Wirklich?", fragte sie Jem hoffnungsvoll, als ihr Bruder ebenfalls ins Wohnzimmer trat. Er nickte und musterte seine Schwester grinsend. Nan strahlte über das ganze Gesicht und überging ein paar Sticheleien seitens ihrer Geschwister einfach.
„Seit ihr jetzt definitiv fest zusammen, oder nicht?", erkundigte Rilla sich irgendwann.
„Naja…", Nan wand sich innerlich.
„Komm schon, erzähl's ihnen!", forderte ihre Zwillingsschwester sie auf und drehte sich dann zu Rilla und Jem, „er hat sie immerhin geküsst, bevor er gegangen ist."
„Und mich sowohl in seinen Briefen, als auch jetzt nach seiner Rückkehr wie eine gute Freundin behandelt", wiegelte Nan frustriert ab.
„Was nichts heißen muss", bemerkte Rilla. Ihre drei Geschwister sahen sie an. Nan hoffnungsvoll, Di skeptisch und Jem amüsiert.
„Ken hat dasselbe Spielchen mit mir abgezogen", erklärte Rilla achselzuckend, „erst hat er am Tanzabend im August 1914 nicht nur mit mir getanzt, sondern mich auch mit runter an den Strand genommen.
Danach habe ich ein Jahr außer ein paar Briefen und einem Buch zu Weihnachten nichts von ihm gehört und irgendwann kam dann die Nachricht, dass er vor seiner Reise nach Übersee noch mal nach Glen kommt und da ist er mich abends besuchen gekommen."
„Das wusste ich gar nicht", fiel Nan ein.
„Das wusste so ziemlich niemand außer Mum und Susan", erwiderte Rilla, „er hat nachmittags angerufen und gefragt, ob er kommen könnte und ob ich – Zitat – ‚dafür sorgen könnte, dass nicht mehr als ein paar Dutzend Leute um uns herum sind'. Ich konnte.
Es lief auch alles ganz nett, bis Jims angefangen hat zu schreien und nicht mehr aufhören wollte. Ich bin hoch, habe es aber nicht geschafft, ihn zum einschlafen zu bringen und musste nach einer halben Stunde wohl oder übel MIT Baby nach unten."
„So was passiert auch nur dir", ärgerte Jem sie.
Rilla entgegnete schnippisch: „Willst du es nun hören, oder nicht? Wie gesagt, ich dass da dann mit Jims auf dem Arm und habe mich in Grund und Boden geschämt. Das einzig positive war, dass Jims damals sein erstes Wort gesagt hat. ‚Will-Will', für Rilla.
Er ist also irgendwann eingeschlafen und Ken war sie ganze Zeit über so still, dass ich mir wer weiß was vorgestellt habe. Jetzt im Nachhinein weiß ich, dass er etwas vollkommen anderes gedacht hatte, als ich damals annahm…
Wie auch immer. Ich habe Jims dann ins Wohnzimmer gebracht und auf die Couch gelegt und als ich wieder auf die Veranda gekommen bin, hatte Susan da grade Platz genommen."
Hier brach Jem in schallendes Gelächter aus und auch die Zwillinge grinsten bis über beide Ohren.
„Ich fand das damals nicht so sehr zum Lachen", bemerkte Rilla, grinste aber trotzdem, „Susan meinte dann also, Geschichten aus unserer Kindheit ausgraben zu müssen und sagte irgendwann, was ich damals am schlimmsten fand, ich würde ‚auch bald fünfzehn' werden. In Wirklichkeit war ich da knapp sechzehn.
Ken saß die ganze Zeit ziemlich steif und still da, um nicht in Gelächter auszubrechen, was von mir natürlich falsch gedeutet wurde. Irgendwann verabschiedete er sich dann und ich habe ihn noch zum Gartentor gebracht.
Gott, was war ich sauer auf Susan. Bis Ken mich dann also erst geküsst, und danach gebeten hat, dass ich niemand anderen küsse, bis er zurückkommt. Dann ist er also gegangen und ich war irgendwo auf Wolke 7.
Ein Gefühl, dass nicht allzu lange angehalten hat, da Ken alle Briefe, bis auf den ersten, wunderbar nüchtern gehalten hat, bis auf ein-zwei Worte, bei denen ich mir nie sicher war, ob ich sie mir einbilde oder nicht. Nun, am Ende ist er ja dann doch zurückgekommen. Ach, ehe ich es vergesse: Die Fords kommen heute zum Abendessen."
„Dann ist Klein-Rilla also spätestens heute Abend verlobt", neckte Jem. Rilla lächelte nur.
