Das Blatt wendet sich
„Apropos ‚verlobt'", wandte sich Di nun an Jem, „wie steht's eigentlich mit dir und Faith?"
„Wenn ich mein Studium beendet habe, heiraten wir", erwiderte Jem lässig.
„Wann habt ihr euch denn das überlegt?", hakte Nan nach.
„Inoffiziell verlobt haben wir uns bevor ich gegangen bin und geplant haben wir das meiste während meines Urlaubs", erklärte ihr Bruder.
„Und was hat es mit dieser Rose auf sich, die sie dir angeblich gegeben hat?", wollte jetzt Rilla wissen. Jem kramte in seiner Hosentasche herum und zog schließlich eine kleine, unscheinbare Holzdose heraus.
Er öffnete sie und offenbarte dein Kopf einer getrockneten, verblichenen Rose, die ursprünglich wohl einmal rot gewesen sein musste.
„Meinst du die hier?", fragte er. Rilla nickte und inspizierte die Blume.
„Es gibt sie also tatsächlich. Und du trägst sie immer bei dir. Wie romantisch!", Nan schmolz nahezu dahin.
„Wenn du meinst…", Jem rollte mit den Augen.
„Komm, gib's zu, Jem. Es ist süß", sprang Di ihrer Schwester bei. Jem verzog das Gesicht. ‚Süß' wollte er jetzt wirklich nicht sein. Seine Schwestern lachten.
„Also, Nan, jetzt erzähl uns mal von Jerry", lenkte Rilla ihre Schwestern von Jem ab, der ihr einen dankbaren Blick zuwarf. Bevor Nan zu einer Antwort gezwungen war, öffnete sich die Tür und Anne und Susan traten ein.
„Nanu?", Anne wirkte überrascht, „was sitzt ihr vier an einem so wunderschönen Tag wie heute hier drinnen?"
„Wir haben uns bloß unterhalten", winkte Rilla ab, „übrigens, die Fords kommen heute zum Abendessen, wenn das in Ordnung ist."
„Ja, natürlich", Anne schien sich wirklich zu freuen, „ich habe Leslie und Owen seit einer halben Ewigkeit nicht mehr gesehen. Kommt Persis auch?"
„Ich denke doch. Zumindest ist sie hier in Glen.", überlegte Rilla, wurde aber von Susan unterbrochen: „Frau Doktor, könnten sie mir in der Küche helfen? Ich habe schon eine wunderbare Idee, was ich kochen könnte."
„Ich kann helfen", warf Rilla ein und auch die Zwillinge boten ihre Hilfe an, welche aber dankend abgelehnt wurde.
„So, und was machen wir jetzt?", erkundigte Di sich und sah ihre vier Geschwister aufmerksam an.
„Ich geh hoch. Brief schreiben oder was lernen oder so. Mal sehen", Jem erhob sich und verschwand mit einem halbherzigen Winken aus dem Raum.
„Gehe ich richtig der Annahme, dass heute Morgen ein Brief von Faith in der Post war?", erkundigte Rilla sich und Nan bejahte, während sie sich ebenfalls erhob.
„Ich gehe mal rüber ins Pfarrhaus", erklärte sie betont lässig, „vielleicht hat Jerry ja jetzt schon Zeit. Soviel bleibt uns ja nicht mehr." Nan verschwand mit dieser Anspielung auf die Tatsache, dass sowohl Di, als auch sie selbst nur Ferien auf Ingleside machten und in zwei Wochen zurück an ihre jeweiligen Schulen gehen würden.
Auch Di stand auf: „Ich denke, ich werde mich mal aufraffen und Mary besuchen gehen. Ihre spitze Zunge ist doch immer wieder erheiternd. Und du?"
„Was lesen oder so", Rilla zuckte mit den Schultern, „mal sehen."
Sie entschied sich tatsächlich, etwas zu lesen und machte es sich mit einem Buch im Garten bequem. Besagtes Buch, dessen Anfang sich etwas dahin gezogen hatte, fesselte sie nun unerwartend so sehr, dass sie die Zeit vergaß.
So bemerkte sie auch nicht, wie es immer später wurde, geschweige denn die Rückkehr ihres Vaters und der Zwillinge oder die Ankunft der Fords.
„Leslie! Owen! Wie schön euch zu sehen", begrüßte Anne ihre alten Freunde, „und Kenneth und Persis! Kommt doch herein. Gilbert ist noch in seinem Büro, die Zwillinge oben, Jem und Susan in der Küche und Rilla müsste soweit ich weiß immer noch im Garten sein."
Anne führte die Gäste ins Esszimmer und stellte bei sich fest, dass die Kenneth und Persis mittlerweile vollkommen nach ihren Eltern schlugen. Hatte Ken das gute Aussehen seines Vaters geerbt, so war Persis ein Abbild ihrer Mutter.
Sie war schon als Mädchen immer sehr hübsch gewesen, aber jetzt, in ihren frühen Zwanzigern und zudem glücklich verlobt, strahlte sie beinahe.
„Persis, was hältst du davon, wenn du Nan und Di herunter holst, Ken guckt mal, ob er Rilla von ihrem Buch wegholen kann und ich werde meinen Mann von seiner Arbeit trennen müssen."
„Das kann ich auch machen", bot Jem an, der grade den Raum betrat und die Neuankömmlinge mit einem Kopfnicken begrüßte, „ich wollte ihn eh noch etwas fragen."
„Oh nein!", Anne schüttelte lachend den Kopf, „ihr beide fangt nur wieder eine von euren endlosen Diskussionen an. Ich werde Gilbert selber holen, denke ich."
Derweil betrat Ken längst den Garten von Ingleside und betrachtete Rilla, die vollkommen in ein Buch vertieft in einem Liegstuhl lag, für ein paar Sekunden, bevor er zu ihr hinging.
„Hey", begrüßte er sie leise, als er sich neben ihr niederließ. Sie sah von ihrem Buch auf und augenblicklich erschien ein bezauberndes Lächeln auf ihrem Gesicht.
„Was ließ du da?", erkundigte er sich und nickte in Richtung des zu gut zwei Drittel ausgelesenen Buches.
„‚Pride and Prejudice' von Jane Austen", erwiderte Rilla und schob ihr Lesezeichen zwischen die Seiten.
„Das Buch ist über hundert Jahre alt", stellte Ken fest. Rilla hustete kurz und lächelte ihn dann an: „Na und? Mir gefällt's trotzdem. Aber abgesehen davon glaube ich, dass wir langsam reingehen sollten."
„Was denn? Ich kriege vorher keinen Kuss?", erkundigte er sich und grinste.
„Das hat niemand je behauptet", stellte sie fest, richtete sich halb auf und küsste ihn.
„Na, was haben wir hier denn?", zum zweiten Mal an diesem Tag wurden die beiden von einer Stimme unterbrochen, welche diesmal allerdings Persis Ford gehörte.
„Sag einfach gar nichts" wies Ken seine grinsende Schwester an und erhob sich.
„So, Persis, und du bist jetzt also verlobt?", erkundigte Anne sich einige Zeit später während des Essens.
Die Augen der jungen Frau begannen augenblicklich zu strahlen: „Ja. Er heißt Thomas Gardiner und besitzt eine Bank in Toronto."
„Und wir alt ist er?", wollte Di wissen.
„Vierunddreißig", antwortete Persis bereitwillig. Die Tatsache, dass ihr Zukünftiger mehr als zehn Jahre älter war, als sie selbst, schien sie nicht im Geringsten zu stören.
„Er ist schon vor ein paar Monaten aus Übersee zurückgekehrt", plauderte sie weiter, „er ist Hauptmann."
„Kein Grund ihn in den Himmel zu loben", warf Ken ein, „Hauptmann bin ich auch. Und hat es mir irgendetwas gebracht? Nein."
Jem warf ihm einen verständnisvollen Blick zu. Es war nicht grade leicht, die kleine Schwester gehen zu lassen.
Während Persis sich in weitere Beschreibungen ihres Verlobten stürzte, die einem Halbgott geschmeichelt hätten und Nan und Di ihr lauschten, während Gilbert und Owen, sowie Ken und Jem in ihre eigenen Gespräche vertieft waren, beobachtete sowohl Leslie, als auch Anne, Rilla sehr genau.
Denn fast allen Anwesenden war klar, welchen Zweck dieses Abendessen hatte.
Rilla selbst war die ganze Zeit über ungewöhnlich still und abwesend gewesen, hatte nur reagiert, wenn man sie angesprochen hatte, und ihr Essen kaum angerührt.
„Rilla? Alles in Ordnung mit dir?", erkundigte Leslie sich irgendwann. Rilla hob den Kopf, blinzelte ein paar Mal und lächelte dann.
„Jaja, alles klar. Ich habe nur ein bisschen Kopfschmerzen", erklärte sie. Die anderen wechselten amüsierte Blicke. Was Aufregungen nicht alles mit einem machen konnte.
Auch Ken wurde mit Fortschreiten des Abends immer abwesender und nachdenklicher, bis sie die Mahlzeit irgendwann beendet hatten. Als Gilbert sich erhob, stand auch Ken auf und bat um ein Gespräch unter vier Augen.
Während die beiden der Raum verließen, grinsten die anderen einander zu und Jem überlegte sich schon einen passenden Kommentar für seine kleine Schwester.
Die streckte grade eine Hand nach ihrem Wasserglas aus, allerdings waren ihre Bewegungen so fahrig, dass sie es, anstatt zu nehmen, umwarf. Di verdrehte die Augen, Nan stand auf, um einen Lappen zu holen und Rilla selbst schien nicht wirklich etwas zu bemerken.
„Also, worüber wolltest du mit mir sprechen, Kenneth?", fragte Gilbert und deutete auf den Stuhl gegenüber dem seinen.
Ken setzte sich, atmete einmal durch und erklärte dann mit fester Stimme: „Ich wollte Sie um die Hand Ihrer Tochter bitten."
„Rilla, nehme ich an!", hakte Gilbert nach und Ken nickte.
„Ich kann dir darauf keine Antwort geben. Es ist Rilla, die entscheiden muss, ob sie deine Frau werden will."
„Darüber bin ich mir im Klaren. Dennoch wollte ich sie nicht fragen, bevor ich nicht die Erlaubnis und den Segen ihres Vaters habe", erwiderte Ken ruhig.
„Klug von dir", Gilbert nickte, „und wieso genau möchtest du meine Tochter heiraten."
„Sie ist eine der schönsten und klügsten Frauen die ich kenne, der bloße Gedanke an sie hat mich da drüben ein ums andere Mal gerettet und…", Ken brach ab.
„Und?", Gilbert sah ihn erwartungsvoll an.
„Ich liebe sie", fuhr Ken fort und sah dem anderen Mann fest in die Augen.
„Nun, sofern du mir versprichst, sie so gut zu behandeln, wie sie es verdient und sie glücklich zu machen, gibt es von meiner Seite keine Einwände", erklärte Gilbert dann und lächelte.
„Versprochen!", auch Ken grinste, zufrieden mit sich und der Welt.
Als Gilbert und Kenneth sich wieder zu den anderen gesellten, war der Ausgang des Gesprächs an ihren Gesichtern abzulesen. Tatsächlich war die einzige Person, die davon keine Notiz nahm, ja, überhaupt keinerlei Regung zeigt, Rilla.
Sie hatte die Augen zusammen gekniffen, eine Hand gegen die Stirn gepresst und schien nichts von dem, was um sie herum geschah, wahrzunehmen.
„Rilla? Hast du irgendwas?", fragte Ken sie vorsichtig und beugte sich etwas über sie. Statt einer Antwort hob sie nur den Kopf, eine Bewegung, die einen unnatürlich großen Kraftaufwand von ihr zu fordern schien, sah ihn kurz an und begann dann zu husten.
Ein trockener, lang andauernder Husten, der die anderen dazu brachte, sich nach ihr umzusehen. Während Rillas Husten langsam abebbte und sie dankbar das Glas mit Wasser annahm, welches Ken ihr reicht, beobachtete Gilbert seine Jüngste mit gerunzelter Stirn.
„Hast du dich in den letzten Tagen nicht gut gefühlt?", wollte er dann von ihr wissen.
„Ich hatte gestern schon ein bisschen Kopfschmerzen und war ziemlich müde und heute Nachmittag war da noch so ein Kratzen im Hals, aber mehr nicht", Rillas Stimme klang rau und müde.
„Du hast Fieber", stellte Ken fest, nachdem er eine Hand auf Rillas Stirn gelegt hatte. Sie nickte nur.
„Leg dich ins Bett", ordnete Gilbert an, „ich komme sofort." Wieder nickte Rilla und stand auf, doch kaum das sie drei Schritte getan hatte, gaben ihre Beine unter ihr nach.
Ken, der damit gerechnet hatte, fing sie auf und hob sie anschließend so leicht hoch, als würde sie gar nichts wiegen.
„Jem, Ken, bringt sie nach oben", befahl Gilbert.
„Warm halten und ein kaltes Tuch auf die Stirn, richtig!", erkundigte Jem sich und Gilbert nickte, tief in Gedanken. Während Ken Rilla bereits nach oben trug, drehte Jem sich in der Tür noch einmal um.
„Dad? Glaubst du, dass sie…?", er beendete seinen Satz nicht, doch Gilbert nickte. Jem biss sich auf die Unterlippe, nickte dann und verließ ebenfalls den Raum.
„Gilbert?", Anne berührte ihren Mann am Unterarm, „was hat sie?"
„Ich bin mir nicht sicher", wich dieser ihr aus.
„Aber du ahnst doch etwas", warf Anne ein und hob den Blick besorgt zur Decke, „bitte, sag mir, was du vermutest."
Gilbert, nicht in der Lage, dem Flehen seiner Frau zu widerstehen, erwiderte: „Wenn wir Glück haben, ist es nur eine Erkältung…"
