So viele Träume starben bereits…

Nachdem Owen, Leslie und Persis wieder zum Traumhaus aufgebrochen waren, legte sich eine stumme Angst über Ingleside. Gilbert und Jem waren bei Rilla und bisher hatte noch keiner der beiden sich blicken lassen.

Di hatte sich irgendwann hingelegt, doch an schlafen war nicht zu denken. Ken, der Annes Angebot, doch bei ihnen zu bleiben, dankbar angenommen hatte, saß zusammen mit Nan schweigend im Wohnzimmer und wartete.

Am Anfang hatte Susan ihnen Gesellschaft geleistet und immer wieder laut Bibelstellen vorgelesen, bis Nan sie irgendwann gebeten hatte, es zu lassen. Statt es ihr übel zu nehmen, wie sie es in jeder anderen Situation getan hätte, strich Susan der junge Frau nur kurz über das dunkle Haar und ging dann in ihr Bett.

Auch Anne hatte sich zurückgezogen, allerdings nicht in ihr Zimmer, wie die anderen annahmen, sondern in das ihres schwarzhaarigen Sohnes mit seinen klaren, grauen Augen, dessen Körper irgendwo in Frankreich begraben lag.

Sie saß am Fenster, ihr rotes, silbern geädertes Haar fiel ihr über den Rücken, ihre sonst strahlenden Augen waren trüb.

Anne Blythe hatte bereits zwei ihrer Kinder zu Grabe tragen müssen. Sie wusste nicht, ob sie es schaffte, noch ein Drittes sterben zu sehen. Denn obwohl Gilbert nichts gesagt hatte, wusste Anne durchaus, was er vermutete.

Spanische Grippe. Jene Krankheit, die im letzten halben Jahr Millionen von Menschen dahingerafft hatte. Jene Krankheit, gegen die es kein Medikament gab, kein Mittel sie irgendwie zu lindern.

Anne seufzte. Sie hatte Joyce nach nicht einmal einem Tag aufgeben müssen, hatte Walter viel zu früh verloren. Wollte man ihr jetzt auch noch Rilla nehmen, ihr Baby? Rilla, ohne die sie diesen Krieg vielleicht nicht überstanden hätte?

Anne fiel ein Ausspruch ein, der Lichtjahre her zu sein schien. Sie hatte einmal gesagt, dass sie das Leben mit seinen Biegungen lieben würde, oder so ähnlich. Jetzt war sie sich da nicht mehr so sicher.

Denn manchmal war das Leben ungerecht. Warum Rilla? Rilla, die Brüder, Freunde und Liebsten ohne eine Träne fortgeschickt und einen Bruder für immer verloren hatte, sich unzählige Male nachts in den Schlaf geweint und doch Tag für Tag die Kraft gefunden hatte, zu lächeln, um es ihr, Anne, ein bisschen leichter zu machen.

Anne sah hinaus zum vollen, silbernen Mond und Bilder ihrer Jüngsten erschienen vor ihrem inneren Auge. Rilla als rundliches Baby, so niedlich und damals schon der Liebling der Familie.

Rilla als Fünfjährige, ein molliges, lispelndes und etwas verwöhntes kleines Mädchen, bei dem man trotz allem nicht umhin kam, es zu lieben. Rilla als Zehnjährige, ein bisschen realitätsfern, immer mit dem Kopf in den Wolken, wie Anne selbst es gewesen war.

Rilla als Fünfzehnjährige, unsagbar dünn, eitler, als es ihr gut tat, aber eine gute Seele. Und schließlich die Rilla von heute, zu der Schönheit geworden, die sich vor Jahren angekündigt hatte, aber viel zu erwachsen und zum ersten Mal seit Kriegsbeginn wieder in der Lage zu hoffen.

Nein, es war nicht fair. Hatten sie nicht alle schon zu viel durchgemacht? Hätten sie es nicht verdient, davon verschont zu bleiben? Endlich ein Happy End zu bekommen? Ihr Happy End?

Annes Gedanken wurden unterbrochen, als jemand die Türe öffnete.

„Mum?", erklang Jems fragende Stimme, „bist du hier?" Anne sammelte sich, bevor sie sich zur Tür umdrehte.

„Ja", antwortete sie und sah, wie das rechteckige Lichtfeld verschwand, als Jem die Tür schloss. Er kam näher, lehnte sich neben sie an die Wand und stieß den Atem aus, den er anscheinend angehalten hatte.

„Sie hat…", begann er, brach dann aber ab.

„…Spanische Grippe", vervollständigte Anne für ihren Sohn, „ich weiß."

Jem nickte. Im Mondlicht konnte Anne sein Konterfei ausmachen, so sehr wie Gilberts und einmal mehr fiel ihr auf, wie alt Jem aussah.

Ihr Jemchen, ihr kleines Baby aus dem Traumhaus, der Junge, für den ‚Furcht' ein Fremdwort war, immer gut aufgelegt, immer einen Scherz auf den Lippen: Alt, besiegt. Es passte nicht.

„Wird sie…?", Anne schaffte es nicht, die folgenschwere Frage über ihre Lippen zu bringen, aber Jem verstand.

„Rein statistisch gesehen stirbt nur jeder dritte Infizierte", versuchte er erfolglos, seine Mutter zu beruhigen.

„Und abgesehen von der Statistik?", fragte Anne und wappnete sich innerlich gegen das Kommende.

Jem seufzte: „Wir wissen es nicht. Dad hat mich rausgeschickt, damit ich mich nicht auch noch anstecke. Er selbst will nicht gehen." Anne nickte. Sie hatte es erwartet.

„Ken ist bei ihr", fuhr Jem fort. Anne sah ihn an, öffnete den Mund, um etwas zu erwidern, aber Jem kam ihr zuvor: „Er hatte die Grippe schon letztes Frühjahr. Ihm kann nichts passieren."

„Er hat sie also überlebt! Das lässt einen hoffen", stellte Anne fest. Jem nickte. Keiner von beiden sprach aus, was beide dachten. Ken war kräftiger als Rilla.

Seine Chancen, die Grippen zu überleben waren wahrscheinlich doppelt so hoch, wie ihre. Eher noch höher, denn Rilla war immer schon zart und anfällig gewesen.


Leise öffnete Gilbert die Tür zum Zimmer seiner Jüngsten. Er hatte mit Dr. Parker aus Lowbridge telefoniert und ihn gebeten, so schnell wie möglich herüberzukommen. Jetzt verharrte er im Türrahmen und betrachtete die Szene vor ihm.

Rilla lag auf dem Bett, ihr Haar war wie ein Fächer auf dem Kissen ausgebreitet und ließ ihr ohnehin schon bleiches Gesicht noch farbloser erscheinen, ihre Augen waren geschlossen und ihre schlanke Gestalt wirkte klein und verloren zwischen den ganzen Decken, in die sie gewickelt war.

Ken saß neben ihr auf der Bettkante, hielt eine ihrer Hände und schien nicht gewillt, sie auch nur eine Sekunde lang aus den Augen zu lassen. Trotz der Ernsthaftigkeit der Situation musste Gilbert schmunzeln.

Der Tag an dem Ken Ford jemals wirklich etwas für ein Mädchen empfindet ist der Tag, an dem ich Bertie Shakespeare Drew heirate", fiel ihm ein Ausspruch von Di ein.

Anne, langsam mache ich mir Sorgen, ob mein Sohn jemals vor hat, zu heiraten. Bisher scheint seine einzige Ambition zu sein, möglichst viele Herzen zu brechen", Leslie, immer die besorgte Mutter.

Sie ist doch noch ein Kind, Gilbert. Nur ein Kind…", Anne.

„Dr. Blythe?", riss Ken Gilbert nun aus seinen Gedanken. Der Angesprochene sah auf und kam näher.

„Wie geht es ihr?", erkundigte er sich, obwohl er die Antwort bereits kannte.

„Keine Veränderung", Ken seufzte.

„Auch nicht aufgewacht?", wollte Gilbert jetzt wissen. Ken schüttelte den Kopf und wandte den Blick dann wieder Rilla zu. Gilbert fühlte ihren Puls, legte dann die Hand auf ihre Stirn, nur um sie kurz darauf wieder wegzuziehen und resigniert den Kopf zu schütteln.

„Sie sieht aus, als wäre sie schon tot", stellte Ken nach einiger Zeit des Schweigens mit belegter Stimme fest.

„Sie lebt", erwiderte Gilbert, „noch."

„Wie kann das sein? Gestern war sie noch völlig gesund und jetzt…", Ken brach ab und seufzte.

„Es scheint nicht unüblich für diese Krankheit zu sein, dass sie sehr plötzlich ausbricht", antwortete Gilbert vorsichtig, „und selbst wenn wir es vorher bemerkt hätten, wir hätten nicht viel machen können. Abwarten ist und bleibt unsere einzige Möglichkeit."

„Warten!", knurrte Ken nur und verfiel wieder in Schweigen. Was hätte er auch groß sagen können?


„Di? Schläfst du schon?", vorsichtig beugte Nan sich über ihre Zwillingsschwester. Die richtete sich auf und schüttelte stumm den Kopf, während sie zur Seite rutschte, um Platz zu machen. Nan krabbelte unter die Decke und lehnte ihren Kopf an die Schulter der Rothaarigen.

„Glaubst du, sie kommt durch?", fragte Di nach einer Weile leise, fast, als würde sie es nicht wagen, den Gedanken laut auszusprechen.

„Sie muss", erwiderte Nan, „sie kann doch nicht…"

„…sterben", vervollständigte Di, als die andere abbrach.

Nan nickte: „Eben das. Ich meine… jetzt, wo der Krieg vorbei ist, sollten wir doch eigentlich alle glücklich werden, oder nicht? Wir haben doch schon genug mitgemacht!"

„Schön wäre es. Schön wäre es, wenn wir ab jetzt alle glücklich sein könnten. Nur läuft das Leben leider nicht so", Di seufzte.

„Sollte es aber!", erregte Nan sich. Di lächelte nur müde und drückte ihre Schwester an sich. Irgendetwas an dieser Geste beruhigte Nan und statt sich weiter aufzuregen, wie sie es sonst wohl getan hätte, schwieg sie nur.

„Lass uns von was anderem reden", bat Nan nach einer Weile, „ich möchte jetzt nicht darüber nachdenken, was… was passieren könnte."

„Ich wünschte, ich könnte es vergessen, aber mit der Gabe des Träumens bist du leider weitaus mehr gesegnet als ich", erwiderte Di trocken.

„Ich meinte ja auch nicht träumen", verbesserte Nan, „nur über etwas anderes reden." Di zuckte die Achseln, was bei ihr ungefähr so viel wie ‚na gut' bedeutete, und ließ Nan ihren Willen. Es war so viel einfacher, als zu diskutieren.

„Ich freue mich schon auf den Sommer. Wir können wieder mehr Zeit mit Jem, Rilla und den Merediths zu verbringen. Wie früher", plauderte Nan nun also drauflos.

„Was du nicht sagst…", kommentierte Di in der trockenen Art, die ihre Schwester durchaus manchmal auf die Palme brachte. So auch jetzt.

„Was meinst du damit, Diana Katherine Blythe?", fauchte sie auch sogleich in bester ‚Nan-Manier', wie Jem es zu bezeichnen pflegte, los.

„Wenn du ‚Merediths' sagst, meinst du ‚Jerry'", erklärte Di, immer noch völlig trocken, „du bist doch völlig verschossen in ihn."

Und bevor Nan etwas erwidern konnte, fügte sie hinzu: „Nan, es bringt nichts. Ich kann eh an nichts anderes denken." Und überraschenderweise konnte Nan nur zustimmen.


Während Gilbert und Ken an Rillas Bett vergeblich darauf warteten, dass sie aufwachte, während Anne und Jem sich gegenseitig Mut zu machen versuchten, während Susan in ihrem Bett unablässig für das Jüngste ‚ihrer' Kinder betete und während Nan und Di erfolglos nach Ablenkung suchten, kam mit dem Nachtzug ein weiterer Soldat in Glen St. Mary an, wie es schon so viele vor ihm getan hatten.

Der Bahnhofsvorsteher warf kaum einen Blick auf ihn. Mochte es an der Art des jungen Mannes liegen, oder daran, dass ein wütender Sturm tobte, er hielt es nicht für nötig, sich näher mit dem Neuankömmling zu befassen.

Und der wollte auch gar nicht, dass man sich mit ihm befasste. In erster Linie wollte er nur noch nach Hause. Also schulterte er das wenige Gepäck, dass er hatte und machte sich im strömenden Regen auf den Weg – nach Ingleside, nach Hause.

Man konnte nicht sagen, dass er mit einem Empfangskomitee rechnete. Man konnte noch nicht einmal sagen, dass er eines haben wollte. Aber verglichen mit dem, was ihn erwartete, hätte er wohl jedes Empfangskomitee dieser Welt vorgezogen.