Nun denn, gute Nacht
Es läutete an der Tür. Jem und Anne wechselten einen Blick, aber keiner von beiden schien wirklich gewillt, herunter zu gehen und aufzumachen. Es läutete wieder und Jem stieß sich seufzend von der Wand ab.
„Ich werde ihn abwimmeln. Wer immer es ist", bemerkte er, wie, als ob er einfach irgendetwas hatte sagen wollen, und Anne nickte, bevor sie sich wieder dem Fenster zuwandte und hinaus auf den Garten sah.
Sie war etwas überrascht zu sehen, dass es stürmte, erinnerte sich dann aber daran, dass es tatsächlich den ganzen Tag nach einem bevorstehenden Gewitter ausgesehen hatte. Nur, das es schneller heraufgezogen war, als sie gedacht hätte.
Sie hörte, wie Jem die Stufen herunter sprang, während die Klingel ein weiteres Mal schellte. Dann ein genervtes „ist ja gut, ich komme" von ihrem Ältesten und schließlich das schaben von Holz auf Fließen.
Für einige Sekunden herrschte vollkommene Stille, dann hörte Anne leise Stimmen, gefolgt von einem Zuschlagen der Tür und Schritten auf der Treppe.
„Mum ist in da drin", kam dann Jems Stimme, „ich gehe Dad Bescheid sagen. Susan und die Zwillinge werden schon schlafen."
„Okay", erwiderte eine Männerstimme und Anne hörte wieder Schritte. Ein Paar entfernte sich, das andere kam näher, bis schließlich die Tür geöffnet wurde.
Anne verharrte, blieb dem Fenster zugewandt, denn obwohl sie den jungen Mann in der Tür noch nicht gesehen hatte, wusste zumindest ihr Herz längst Bescheid.
„Mum?", zögerlich kam er näher. Jetzt drehte Anne sich doch um und betrachtete ihn im fahlen Licht des Mondes. Er trug seine Uniform und hielt sich aufrecht, wie er es immer schon getan hatte, aber wie auch bei Jem vor einigen Wochen, fiel Anne auch jetzt wieder auf, wie alt ihr Sohn aussah.
Alt, müde und ausgebrannt. Besiegt. Und obwohl ihr nicht nach lächeln zu Mute war, schaffte Anne es doch, eines auf ihr Gesicht zu zaubern. Mittlerweile hatte sie genug Übung darin.
„Hallo Shirley", begrüßte sie ihn.
Einige Sekunden schwiegen beide, dann streckte Anne die Arme nach ihrem jüngsten Sohn aus. Nach einem kurzen Zögern kam Shirley näher und ließ sich umarmen.
Er, der normalerweise immer so distanziert war, sich nicht mehr hatte ins Bett bringen lassen, seit er vier war und grundsätzlich jede Form von Liebkosung abzulehnen schien, lehnte sein Gesicht gegen die Schulter seiner Mutter und ließ sich für ein paar Minuten einfach festhalten, wie als wäre er immer noch ein Kind, das Trost bei seiner Mutter suchte.
Aber er war nun mal kein Kind mehr und den Trost, den er brauchte, konnte Anne ihm nicht geben. Also löste Shirley sich nach einigen Augenblicken wieder und wartete ab, bis seine Mutter sich die Tränen aus dem Gesicht gewischt hatte.
„Jem hat gesagt, dass Rilla krank ist", es war halb Feststellung, halb Frage.
„Sie hat…", Anne schluckte, „…Spanische Grippe." Shirley nickte, aber sein Gesicht ließ keinerlei Emotionen erkennen.
„Kommt sie durch?", fragte er, nachdem Anne sich wieder einigermaßen beruhigt hatte.
„Wir wissen es nicht. Dein Vater ist bei ihr. Ken ebenfalls", antwortete Anne und wandte den Blick ab.
„Ken? Ken Ford?", Shirley klang milde überrascht, aber nicht wirklich, als interessiere ihn das Thema.
„Er hat heute bei eurem Vater um ihre Hand angehalten", erklärte Anne.
„Na sieh mal einer an", Shirley grinste, aber es wirkte merkwürdig humorlos. Wie tot.
Damit schien alles gesagt zu sein, also schwiegen beide wieder. Shirley, weil er lieber schwieg als redete und Anne, weil ihr nach Schweigen zu Mute war.
Aber sie hätte eh nicht gewusst, was sie hätte sagen sollen, war Shirley doch niemals wirklich ihr Kind gewesen. Nicht, dass Anne ihn weniger geliebt hätte, als seine Geschwister, aber sechs Kinder waren eine Menge, wenn man seine Zeit auf sie aufteilen musste.
Und dankbar dafür, dass Susan ihr half, hatte Anne viel zu spät erkannt, dass ihr jüngster Sohn ein Fremder für sie geworden war.
So beobachtete sie schweigend, als Susan herein gestürzt kam, Shirley an sich drückte und er weitaus länger in ihrer Umarmung verharrte, als er es bei Anne getan hatte.
„Dad? Shirley ist da", platzte es aus Jem heraus, noch ehe der die Tür ganz geöffnet hatte. Gilbert sah auf: „Shirley? Wirklich? Wo ist er?"
„Bei Mum", antwortete Jem, der schon wieder im Begriff war, wegzugehen, „ich gehe mal gucken, ob Susan noch wach ist. Und die Zwillinge."
Gilbert stand auf und wandte sich dann Ken zu. „Sagst du mir Bescheid, wenn sich etwas ändert?", fragte er beinahe rhetorisch.
„Natürlich", Ken nickte, ohne den Blick von Rillas Gesicht zu nehmen. Er hörte, wie Gilbert den Raum verließ und leise die Tür hinter sich schloss. Nachdem die sich entfernenden Schritte verklungen waren, legte sich eine Stille auf den Raum, die Ken nervöser machte, als er ohnehin schon war.
Er hatte gelernt, Stille zu hassen, zu fürchten. Denn mit der Stille kamen auch die Schreie zurück.
Schreie von sterbenden Soldaten, hundert-, tausendfach, die sich wieder und wieder in seinem Kopf abspielten, jedes Mal, wenn um ihn herum Stille herrschte. Warum sollte es jetzt anders sein?
„Was ist los?", durchbrach schließlich eine leise weibliche Stimme diese Stille und trieb die Schreie davon, wenn auch nur für einige Zeit.
Ken blickte Rilla an, die aufgewacht war, ohne dass er es gemerkt hatte, und schüttelte dann den Kopf: „Nichts."
„Hmh", Rilla nickte, glaubte ihm aber offensichtlich kein Wort.
„Was ist passiert?", fragte sie nach einer kleinen Weile.
„Du bist ohnmächtig geworden", erklärte Ken etwas zögernd, was Rilla natürlich nicht verborgen blieb.
„Und?", hakte sie nach, als er nicht weiter sprach und schloss die Augen, als wäre es ihr zu anstrengend, sie offen zu halten.
„Dein Vater vermutet… na ja… sagt dir ‚Spanische Grippe' etwas?", Ken sah sie besorgt an. Rilla rührte sich nicht.
„Rilla?", fragte er nach einer kleinen Weile vorsichtig.
„Muss ich sterben?", fragte sie zurück, sehr leise und immer noch mit geschlossenen Augen. Ken schluckte.
„Natürlich nicht", versicherte er dann, „es stirbt noch lange nicht jeder daran."
„Und ich?", wollte Rilla jetzt wissen und sah ihn durchdringend an.
„Das kann man jetzt noch nicht sagen", wich Ken aus, „dein Vater und Jem tun auf jeden Fall alles menschenmögliche."
„Wie beruhigend", erwiderte Rilla ruhig und schloss die Augen wieder, aber Ken konnte nicht sagen, ob sie es ernst oder sarkastisch meinte.
Einige Momente schwiegen sie und Ken fragte sich schon, ob Rilla wieder eingeschlafen war, da öffnete sie ihre Augen plötzlich wieder.
„Ich will nicht sterben", ihre Stimme war kaum mehr als ein Flüstern, „nicht jetzt, wo es gerade wieder bergauf geht."
„Und ich habe nicht vor, dich sterben zu lassen", erwiderte Ken leise, griff nach ihrer Hand und strich sanft mit einem Daumen darüber. Rilla nickte, als wäre das alles an Bestätigung was sie brauchte und schloss die Augen wieder.
„Nicht einschlafen", Ken hatte sich gerade wieder an Gilberts Bitte erinnert, „dein Vater möchte bestimmt noch mit dir reden."
„Holst du ihn?", fragte Rilla, deren Stimme mittlerweile so schwach war, dass Ken sich anstrengen musste, um sie zu verstehen.
„Kann ich dich denn alleine lassen?", fragte er zurück, streckte die Hand aus und strich ihr eine Haarsträhne aus dem Gesicht.
„Keine Angst, ich laufe nicht weg", bemerkte Rilla und verzog das Gesicht zu einem Grinsen, dass allerdings eher wie eine Grimasse aussah.
„Und du bist dir sicher, dass ich dir vertrauen kann?", neckte Ken sie, erleichtert, dass sie noch scherzen konnte. Rilla nickte.
„Jetzt geh schon", verlangte sie, „ich bin müde."
„Stets zu Diensten, Mylady", Ken stand auf und hauchte einen Kuss auf ihre Stirn. Etwas erschrocken stellte er fest, dass sie nahezu zu glühen schien.
Anscheinend ging es ihr doch schlechter, als ihre Scherze vermuten ließen. Aber Galgenhumor im Angesicht des Todes war Ken wahrlich nicht fremd.
„Ich beeile mich", versprach er, während er zur Tür ging.
„Hmh", Rilla hatte sich längst wieder in die Kissen gekuschelt und die Augen geschlossen.
„Nicht einschlafen", bemerkte Ken noch einmal grinsend, woraufhin von Rilla allerdings nur ein unartikuliertes, aber definitiv unwilliges Geräusch kam.
„Rilla ist aufgewacht", verkündete Ken, sobald er das Wohnzimmer betreten hatte, indem sich der Rest der Blythe-Familie versammelt hatte.
„Wie geht es ihr?", erkundigte Gilbert sich, während er sich erhob.
„Wie soll es ihr schon gehen?", fragte Ken, dessen Anspannung langsam begann, sich zu zeigen, zurück „sie redet, sie scherzt, aber ich glaube, dass das Fieber weiter gestiegen ist. Nicht, dass ich es beurteilen könnte." Gilbert runzelte die Stirn, nickte dann und folgte Jem in Richtung Tür.
„Ich habe ihr gesagt, was sie hat", bemerkte Ken noch, kurz bevor Gilbert den Raum verließ. Jetzt drehte der Arzt sich um und sein Gesichtsausdruck zeigte deutlich, wie wenig er davon hielt.
„Komm schon, Dad", sprang Jem seinem Freund bei, „wir wissen doch, wie Rilla sein kann. Sie hat wahrscheinlich mal wieder keine Ruhe gegeben."
Wieder nickte Gilbert, wandte sich dann um und verließ den Raum. Jem zuckte mit den Schultern, drehte sich ebenfalls um und folgte seinem Vater nach oben.
„Hallo Shirley", begrüßte Ken den jüngeren Mann etwas halbherzig und setzte sich in einen der Sessel.
„Hallo", grüßte Shirley ebenso halbherzig zurück, dann herrschte Stille, ab und zu durchbrochen von Susans Husten.
„Leg dich besser hin, Susan", bemerkte Anne irgendwann, „dein Husten klingt gar nicht gut."
„Ach was. Das ist gar nichts, liebe Frau Doktor. Sie werden sehen, morgen bin ich wieder wie neu", winkte Susan ab, aber keiner glaubte ihr.
„Ich halt das nicht mehr aus!", rief Nan irgendwann, sprang auf und begann unruhig im Zimmer auf und ab zu gehen. Di folgte ihr mit den Augen, sagte aber nichts.
„Das ist doch nicht fair!", fuhr Nan fort und rang die Hände gen Himmel. S
hirley lachte humorlos: „Was ist schon fair?" Keiner antwortete.
„Es wird schon werden", versuchte Susan die anderen aufzuheitern und wurde augenblicklich von einem neuen Hustkrampf geschüttelt. Noch nicht einmal ihr unumstößlicher Optimismus schien jetzt noch irgendwen zu überzeugen. Am wenigsten von allen sie selbst.
