Dämmerung

Die nächsten Wochen war Ingleside erfüllt von eine Art nervöser Anspannung, die mit der etwa einem Jahr zuvor während Jems Gefangenschaft herrschenden zu vergleichen war.

Susans Husten stellte sich natürlich doch nicht als so ungefährlich heraus, wie sie behauptet hatte, und wenige Tage nachdem Gilbert ihr Bettruhe verordnet hatte, erkrankten erst Jem, dann auch Nan.

Anne machte sich auch vermehrt Sorgen um ihren Mann, der unentwegt zu arbeiten schien, war doch in ganz Glen und Umgebung die Grippe ausgebrochen. Sie selbst und Di erfreuten sich merkwürdigerweise bester Gesundheit, waren aber vollauf damit beschäftigt, die Kranken zu pflegen.

Shirley, der ebenfalls keinerlei Anzeichen einer Grippe zeigte, verbrachte die meiste Zeit auf seinem Zimmer und schien noch schweigsamer geworden zu sein, als es ohnehin seine Natur war.

Ansonsten bekam man in Ingleside wenig von der Außenwelt mit, waren die Bewohner von Glen doch angehalten, sich so wenig wie möglich auf den Straßen aufzuhalten.

Jem erholte sich als erster. Tatsächlich schien er die leichteste Form der Grippe gehabt zu haben, während es Susan und seine beiden Schwester weitaus stärker erwischt hatte.

Am schlimmsten erging es Rilla, bei der sich auch nach über zwei Wochen noch kein Zeichen der Besserung gezeigt hatte. Und obwohl die meisten Haushalte, in denen es Grippefälle gab, unter Quarantäne gestellt wurden, konnte das für Ingleside nicht gelten, lebte hier doch der einzige Doktor, den Glen hatte.

So konnte Kenneth seine regelmäßigen Besuche fortsetzen und so kam es, dass eines Abends, als er mit Jem, der schon wieder für einige Stunden aufstehen konnte, im Wohnzimmer saß, niemand anderes als Jerry Meredith, der die letzten zwei Wochen bei alten Freunden in Maywater gewesen war, vor der Tür stand.

Und natürlich war das erste, wonach er fragte, wie es Nan ginge und ob er sie sehen könne. Jem und Ken tauschten einen Blick. Anscheinend hatte niemand im Pfarrhaus Jerry gesagt, was genau sich in Ingleside abspielte.

„Du kannst nicht zu ihr", beantwortete Jem zögernd einen Teil der Frage. Jerry runzelte die Stirn.

„Warum nicht?", wollte er wissen und warf gleichzeitig einen Blick auf seinen Freund, „und überhaupt, wie siehst du denn aus? Als wärst du dem Tod von der Schippe gesprungen." Jem zog eine Grimasse und Ken lachte humorlos.

„Was…?", Jerry sah fragend von einem zu anderen.

„Spanische Grippe", gab Jem kurz angebunden Auskunft. Jerry starrte ihn für einige Sekunden an, bis die Information bei ihm angekommen war.

„Das heißt… Nan ist krank?", schlussfolgerte er langsam.

„Nan, Susan und Rilla", erwiderte Ken, „und Jem hier darf gerade mal für ein paar Stunden aufstehen."

„Und…?", Jerry beendete seine Frage nicht, aber das war gar nicht nötig.

„Rilla hat es am schlimmsten erwischt, während Susan schon wieder auf dem Weg der Besserung ist. Nans Zustand bewegt sich irgendwo in der Mitte", erklärte Jem, „aber sie ist auch noch nicht lange krank. Vier Tage erst."

Bevor Jerry etwas erwidern konnte, stürzte plötzlich Di ins Zimmer.

„Jem, wo ist Dad?", fragte sie und sah sich hektisch um.

„Nicht hier", gab ihr Bruder zurück und musterte sie besorgt, „ist was passiert?"

„Es ist wegen Rilla. Ihr geht es schlechter. Viel schlechter", Di schluckte, „ich glaube… ich glaube, sie stirbt." Im nächsten Moment war Ken auch schon aufgesprungen und lief nach oben.

„Di, ruf du überall in Glen an und versuch Dad zu finden. Er muss zurückkommen. Jerry, du bleibst entweder hier unten oder gehst nach Hause. Für Nan kannst du sowieso nichts tun. Allenfalls steckst du dich auch an. Ich gehe gucken, was ich machen kann", gab Jem Anweißungen und folgte Ken dann ins obere Stockwerk.

„Aber du musst dich doch…", begann Di, doch die Tür schlug bereits hinter ihrem Bruder zu. „…schonen", beendete sie ihren Satz leise, schüttelte dann den Kopf und ging zum Telefon, um ihren Vater zu suchen.

Jerry blieb etwas unschlüssig im Raum stehen, warf einen Blick zu Di, dann zur Tür, zuckte mit den Achseln und ließ sich in einen der Sessel fallen.

Gilbert kam ungefähr eine Stunde später und lief ohne ein Wort zu sagen nach oben. Anne, die nach Susan gesehen hatte, Di und Jerry saßen unten im Wohnzimmer und warteten, wie sie es in den letzten Jahren schon viel zu oft getan hatten.

Die Minuten verstrichen, doch bevor irgendwelche Neuigkeiten über Rillas Zustand nach unten drangen, klingelte es an der Tür. Di ging hin um zu öffnen und sah sich zu ihrem großen Leidwesen mit Mary Vance konfrontiert.

Denn die mochte normalerweise so unterhaltsam und gutherzig sein, wie sie mochte, in solchen Situation, wie der die gerade in Ingleside herrschte, war Mary alles andere als willkommen.

„Hallo Diana, liebste", trällerte sie sofort und ging uneingeladen an Di vorbei ins Wohnzimmer, „Wie geht es euch denn so? Wir haben uns so lange nicht gesprochen, da dachte ich, ich komme einfach mal vorbei. Oh, Jerry Meredith, na das ist ja eine Überraschung. Wann bist du denn angekommen?"

Jerry sah auf, schien es aber nicht für nötig zu halten, zu antworten, vor allem, da Mary sofort weiter sprach.

„Die alte Kitty Alec hat's übrigens auch erwischt. Grippe. Aber na ja, ihr kennt das ja, nicht wahr? Auf jeden Fall…", weiter kam Mary nicht, da Di ihr ins Wort fiel.

Den obwohl generell Nan als die Aufbrausende der beiden Ingleside-Zwillinge bekannt war, hatte auch Di ein nicht zu verachtendes Temperament von ihrer Mutter geerbt, das in Situationen wie diesen äußerst gerne durchzuschlagen schien.

„In der Tat kennen wir das, Mary. Rein zufällig liegen da oben nämlich meine beiden Schwestern und soll ich dir mal was sagen? Eine von ihnen sieht aus, als würde sie sterben. Oh ja, du hast ganz richtig verstanden. Rilla stirbt. Und du hast die Nerven, hier herein zu kommen und mich zu fragen, wie es mir geht?", explodierte sie.

„Ich…", setzte Mary kleinlaut an, wurde aber gerettet, als Gilbert das Zimmer betrat.

„Und?", fragte Di ihren Vater, hin und her gerissen zwischen Angst und Hoffnung, genau als Anne wissen wollte: „Wie geht es ihr?"

„Wenn sie die Nacht übersteht, dann stehen die Chancen gut, dass sie gesund wird", erwiderte Gilbert, „wenn nicht, dann…" Er beendete seinen Satz nicht, aber alle Anwesenden wussten, was er nicht hatte aussprechen können.

Die heutige Nacht würde entweder Leben oder Tod mit sich bringen.

„Ich muss langsam gehen, fürchte ich", unterbrach Jerry die Stille etwas verlegen, „Di, kannst du mich anrufen, wenn es Neuigkeiten von Nan – und natürlich von Rilla – gibt?"

Di nickte: „Klar, kein Problem. Grüß deine Eltern, Una und Bruce von mir – uns allen."

„Natürlich", Jerry griff nach seinem Mantel und machte sich auf den Weg in Richtung Tür, „tschüß."

„Tschüß", erwiderte Di etwas halbherzig und dir Tür schlug ins Schloss.

Die drei Blythes saßen sich schweigend gegenüber und gerade als Mary, die immer noch nicht auf die Idee kam, dass sie stören könnte, ein neues Gespräch einleiten wollte, kam Jem die Treppe hinunter.

„Ken hat gebeten, dass ich ihn mit Rilla alleine lasse", bemerkte er auf den fragenden Blick seitens seiner Eltern, „er sagt Bescheid, wenn sich etwas ändert."

Und wieder lag der unausgesprochene Satzteil in der Luft und wieder wusste jeder Bescheid. Ken wollte mit Rilla alleine sein, um sich verabschieden.

Für einige Sekunden sagte keiner etwas, dann schluchzte Di plötzlich auf und rannte die Treppe hinauf. Oben hörte man die Tür ihres Zimmers zuschlagen. Jem folgte ihr, langsamer, ging allerdings in sein eigenes Zimmer, um sich zu Faith' Briefen zu flüchten, die so oft in den letzten Jahren das einzige gewesen waren, was ihn davor bewahrt hatte den Verstand zu verlieren.

Gilbert und Anne blieben im Wohnzimmer und auch Mary saß weiterhin in ihrem Sessel, hatte aber zumindest den Anstand zu schweigen. Und so stellte man sich in Ingleside auf eine lange, schwere Nachtwache ein. Denn die Gewissheit, ob Rilla nun leben oder sterben würde, würden erst die nächsten Sonnenstrahlen bringen.

Und wie so oft in den letzten Wochen saß Ken wieder auf Rillas Bettkante, hielt ihre Hand, die schlaff in seiner lag, und war nicht bereit, sie aus den Augen zu lassen, ganz so, als könnte er ihren Gesundheitszustand dadurch beeinflussen.

Vielleicht lag es aber auch einfach daran, dass er verrückt geworden wäre, wenn er zu Hause hätte sitzen müssen, nicht wissend, wie es Rilla ging.

Besonders schlimm war die Stimmung im Traumhaus geworden, als aus Toronto die Nachricht gekommen war, dass nicht nur Victoria, eine Schwester seines Vaters, und mehrere ihre Kinder, sondern auch Thomas Gardiner, Persis Verlobter, erkrankt waren.

Persis weinte sich seitdem regelmäßig in den Schlaf und langsam begann Leslie, sich ernsthafte Sorgen zu machen. Nicht nur um ihre Tochter, sondern auch um ihren Sohn, denn daran, dass keines ihrer Kinder den Tod des Menschen, mit dem sie den Rest ihres Leben hatten verbringen wollen, gut verkraften würden, war ihr klar.

So weinte oder betete die eigentlich nicht sonderlich gottesfürchtige Persis jede wache Minute und plagte sich in den schlafenden mit grausamen Alpträumen, wovon naturgemäß die ganze Familie etwas hatte, war Persis doch ein sehr extrovertierter und offener Mensch.

Ken dagegen, der schon in seiner Kindheit dazu geneigt, nach außen hin gut gelaunt und freundlich zu sein, sich aber innerlich mit seinen Problemen aufzufressen, hatte sich seit dem Krieg noch mehr in sich selbst verzogen.

Und tatsächlich waren die Stunden, die er an Rillas Bett verbrachte, so etwas wie eine Flucht für ihn, auch wenn er es sich selbst nicht eingestand. Er merkte für gewöhnlich kaum, wie die Zeit verflog, so sehr hielten ihn seine Sorgen gefangen und natürlich war dem heute nicht anders.

So fiel Ken nicht wirklich auf, wie sich draußen erst eine bleierne Dunkelheit über die Welt legte, nur um Stunden später einem fahlgrauen Morgenlicht Platz zu machen.

Und wahrscheinlich hätte er auch weiterhin nicht viel um sich wahrgenommen, hätte nicht irgendwann eine Stimme seine Gedanken unterbrochen.

„Ken?" Und wie beim ersten Mal vor den letzten Tagen, die Ken wie eine kleine Ewigkeit vorgekommen waren, war es natürlich Rilla, die ich mit leiser Stimme ansprach.

Doch ansonsten hatte sie nicht viel mit dem fiebrigen, todkranken Wesen der letzten Tage gemein. Sie war zwar noch blass, aber ihre Augen waren nicht mehr von diesem trüben Schleier überzogen, sondern blickten Ken klar und strahlend an.

„Dein Vater sagt, wenn du heute Nacht überstehst, bist du über den Berg", murmelte er rau, weil ihm sonst nichts besseres einfiel.

Rilla lächelte: „Guck mal nach draußen." Ken drehte sich um und sah aus dem Fenster.

Sah die Sonne, die hinter dem Regenbogental aufging und den kleinen Vogel, der sich auf einem nahen Baum niedergelassen hatte und zwitscherte, als wolle er der Welt verkünden, dass der Morgen Leben und nicht Tod gebracht hatte.