Das Schicksal planen
Rilla erholte sich ungewöhnlich schnell wieder von ihrer schweren Krankheit und zwei Wochen später konnte man sicher sein, dass auch Susan und Nan über den Berg waren. Dennoch gab es auch schlechte Nachrichten: nicht nur war eine von Owen Fords Nichten der Grippe erlegen, sondern auch Thomas Gardiner, Persis' Verlobter.
Die junge Frau war untröstlich und während die anderen sich voller Elan ins Leben stürzten, froh, das es endlich wieder in geregelten Bahnen verlief, schloss sie sich die meiste Zeit nur in ihrem Zimmer ein.
So auch an einem schönen Tag Ende Juni, als die ganze Gruppe im Regenbogental zusammen saß, redete oder einfach das Nichtstun genoss.
„Es tut so gut, endlich wieder draußen zu sein", stellte Nan fest, schloss die Augen und wandte sich der Sonne zu.
Aufgrund ihrer Krankheit würde sie ihre Lehrerinnenstelle frühestens wieder zum neuen Schuljahr beginnen und auch Di, deren Schule, aufgrund einer Grippewelle in den umliegenden Ortschaften, bis September geschlossen war, würde vorerst in Glen verbleiben.
„Sagt mal, Nan, Jerry, wann habt ihr zwei eigentlich vor zu heiraten?", fragte Jem wie beiläufig und rupfte etwas Gras aus. Nan lief feuerrot an und öffnete ein Auge, um ihrem Bruder einen bitterbösen Blick zuzuwerfen. Jem grinste zurück.
„Erstmal habe ich noch drei Jahre Theologiestudium vor mir", beantwortete Jerry die Frage etwas zögernd, „und dann wird man sehen…"
„Ken, Rilla?", fragte Jem weiter.
„Ich halte es wie Jerry", erwiderte Ken, „mir würde zwar im Traum nicht einfallen, Theologie zu studieren und ich habe auch keine drei sondern nur noch ein Jahr vor mir, aber ansonsten hat er Recht: erstmal das Studium zu Ende und dann wird man sehen."
„Was studierst du eigentlich?", erkundigte Di sich, „Journalismus?"
„Nein", Ken schüttelte den Kopf, „Geschichtswissenschaft und Politologie."
„Aber ich dachte, du wolltest Journalist werden!", sie wirkte etwas befremdet.
„Will ich auch. Aber wenn man Journalismus studiert kann man nur Journalist werden. Und so kann ich im Notfall auch noch auf irgendeinen anderen Job ausweichen", erklärte Ken.
„Bei dir irgendwelche Hochzeitspläne, Di?", Jem hatte in seiner Schwester ein neues Opfer gefunden.
„Gott bewahre!", sie lachte, „nein, ich werde mich einfach weiter meinen Schülerchen widmen."
„Ich auch", warf Nan ein, relativierte dann aber sofort, „zumindest in der nächsten Zeit."
„Shirley? Carl?", ging die Fragerei auch sofort weiter.
„Ich gehe nach Vancouver und studiere an der Universität von British Columbia Entomologie", verkündete Carl und grinste, als er die fragenden Gesichter der anderen sah.
„Insektenkunde", setzte er erklärend hinzu.
„Kannst du das denn?", fragte Di, „ich meine, wegen…" Sie brach ab, als ihr auffiel, was genau sie da fragte und wie taktlos es klingen musste, aber Carl nahm es mit Humor.
„Ich sage ja immer: ‚Insekten kann ich auch mit einem Auge beobachten.'" Die anderen lachten.
„Sag mal, Jem, anstatt uns auszufragen, könntest du uns doch auch mal von deinen Plänen erzählen, oder nicht?", forderte Rilla ihren Bruder auf, bevor er sich jemand neues heraus suchen konnte.
„Ich habe angeboten bekommen die letzten vier Semester in zwei zu packen, was zum einen viel Arbeit bedeutet, zum anderen aber auch, dass Faith und ich nächstes Jahr um diese Zeit herum heiraten können", beantwortete Jem bereitwillig.
„Und was hat Faith mit dem Jahr vor, dass sie noch zu überbrücken hat? Wann kommt sie überhaupt wieder?", wollte Ken jetzt wissen.
Zu aller Überraschung war es Una, die bisher, ebenso wie Shirley, schweigend zugehört hatte, die antwortete: „Sie schreibt, dass sie es wohl nicht vor Mitte September schafft und weil das Schuljahr dann ja schon angefangen hat, fällt unterrichten als Option weg.
Aber sie meint, dass es ihr wahrscheinlich eh gut tun würde, ein paar Monate zu haben, um sich wieder einzugewöhnen. Und an ihren Haushaltsfähigkeiten will sie auch noch arbeiten, bevor Jem und sie heiraten."
„Und dafür, Jem, kannst du dem Himmel danken", bemerkte Carl mit Seitenhieb darauf, dass Faith wirklich nicht die geborene Hausfrau war.
„Oh, Jem ist zum Glück nicht sehr anspruchsvoll", warf Rilla beiläufig ein, „außerdem könnte ich ihr helfen. Wenn ihr alle weg seid, ist es ihr ohnehin ziemlich einsam. Und jetzt, wo Una ihren Hauswirtschaftskurs macht, bleibt ja noch nicht einmal mehr sie hier."
„Du und jemandem diesen ganzen Haushaltskram beibringen?", Jem lachte, als wäre die alleinige Idee vollkommen lächerlich, „du hast doch selber zwei linke Hände."
„Ich hatte fünf Jahre Zeit den ‚ganzen Haushaltskram', wie du es nennst, zu lernen", verteidigte Rilla sich, „ich beherrsche sämtliche Handarbeiten, von Socken stricken bis hin zum herstellen von Spitze, ich kann Susans komplette Kochbücher durchkochen und letztens sind mir sogar Windbeutel gelungen.
Ich weiß, was wie gereinigt oder geputzt werden muss, ich kenne mich mit den häufigsten Krankheiten aus und ganz nebenbei habe ich ein Kind aufgezogen. Reicht das nicht?"
Jem wirkte ziemlich perplex, wusste aber selbst nicht, ob es daran lag, dass Rilla tatsächlich gelernt hatte einen Haushalt zu führen oder einfach daran, dass sie sich traute ihm zu widersprechen.
„Wie auch immer", griff Jerry ein, bevor die Situation in einem Streit ausarten konnte, „Shirley hat uns noch gar nicht gesagt, was er vorhat."
„Ich gehe ans Redmond und studiere Mathematik, danach suche ich mir eine Stelle als Assistenzprofessor und wenn ich damit fertig bin, kann ich selber an irgendeiner Universität unterrichten", gab Shirley Auskunft.
„Und nein, Jem, ich habe nicht vor in nächster Zeit zu heiraten. Es kann eben nicht jeder seiner Zukünftigen im Alter von dreizehn Jahren begegnen."
„Nein, wohl nicht", entgegnete Jem lässig und nahm Shirleys' Seitenhieb somit jegliche Schärfe.
„Ich will mindestens vier Kinder", verkündete Nan, als keiner sonst etwas sagte, „wenn nicht sogar noch mehr."
„Oh ja, ich auch. Wenigstens sechs!", rief Di mit einer ähnlichen Begeisterung aus.
„Sechs Kinder? Gott bewahre!", Rilla schien schon bei dem bloßen Gedanken ziemlich schockiert, „zwei oder drei reichen völlig, wenn ihr mich fragt."
Nan war sichtlich überrascht: „Ich dachte deine Kinderphobie hätte sich mittlerweile gelegt. Wegen Jims und so."
„Ich habe keine ‚Kinderphobie', ich kann lediglich nicht viel mit Kindern anfangen, Jims jetzt mal ausgenommen", stellte Rilla klar, „und abgesehen davon will ich ja eigentlich auch welche. Nur halt nicht so wahnsinnig viele."
„Hattest du nicht mal gesagt, dass du viele Kinder haben möchtest, Ken? Wie wollt ihr den das vereinbaren?", erkundigte Di sich halb ernst und halb scheinheilig.
„Das, Diana, lass mal Rillas und meine Sorge sein", erwiderte Ken und ließ eines seiner berüchtigten Grinsen in ihre Richtung herüberblitzen.
„Und abgesehen davon", bemerkte Rilla nicht ohne eines gewisse Schärfe in ihrer Stimme, „sind wir noch nicht einmal verlobt. Bereits an Kinder zu denken ist da ziemlich illusorisch, finde ich. Entschuldigt mich." Sie lächelte zuckersüß, stand auf und lief mit leichten Schritten in Richtung Ingleside davon.
„Na, wenn das kein Wink mit dem Zaunpfahl war", grinste Carl und stupste Ken an.
„Oh, ich kann sie verstehen", Nan stand ebenfalls auf, „es ist ganz bestimmt nicht schön, wochenlang hingehalten zu werden, ohne zu wissen, woran man ist." Sie lächelte ebenso süß und ebenso falsch wie Rilla, drehte sich dann um und folgte ihrer Schwester.
„Soll das heißen, Jerry", fragte Jem langsam, als Nan außer Sichtweite war, „du hast sie immer noch nicht gefragt?"
„Äh, nein", Jerry schüttelte etwas unsicher den Kopf.
Jem stöhnte: „Sie wird nicht ewig warten, weißt du."
„Schon klar. Es hat sich halt… noch nicht ergeben. Wegen ihrer Krankheit und so", erwiderte Jerry.
Carl lachte: „Lieber Gott, bitte erhalte mir meine Ausreden. Amen."
„Gut, oh großer Meister der Heiratsanträge, dann sag du uns doch mal, wie du es mit Faith gemacht hast", forderte Ken Jem auf und hielt gleichzeitig Jerry zurück, der so aussah, als hätte er sich liebend gerne auf seinen kleinen Bruder gestürzt.
Carl grinste nur wie die viel zitierte Katze, die gerade die ebenso oft zitierte Maus verschlungen hatte.
„Ach, das", Jem grinste betont lässig, „Faith hat mich gefragt, ob ich ihr verspreche, dass ich wiederkomme, woraufhin ich gesagt habe, dass würde ich nur tun, wenn sie mir verspricht, dass sie mich heiratet, wenn ich wieder zurück bin. Sie hat ja gesagt und die Sache war geritzt. Ich bin wieder da, also wird sie mich heiraten. Ganz einfach."
„Ja, aber nur, weil der richtige Moment da war", warf Jerry ein, „ich meine, wenn ich Nan frage, ob sie mich heiratet, wenn sie gerade mit 40° Fieber im Bett liegt, dann ist das wohl kaum der richtige Zeitpunkt."
„Es wäre aber interessant zu wissen, wie genau sie dich dann umbringen würde", bemerkte Carl grinsend und rutschte etwas von Jerry weg, „du weißt ja bestimmt am besten, wie schrecklich romantisch unsere kleine Nanny ist."
„Zu allererst würde sie dich umbringen, weil du sie Nanny genannt hast", warf Shirley trocken ein, „das darf nämlich nur dein Bruder hier." Grinsend wich er einen Schlag seitens Jerrys aus, den Ken nicht schnell genug hatte verhindern können.
„Versprich mir nur, Jerry", lenkte Jem das Gespräch wieder in die ursprünglichen Bahnen, „dass du sie fragst, bevor wir zurück ans Redmond gehen. Eigentlich hatte ich mich nämlich mit dir als Schwager abgefunden. Und das Di hier dich heiraten will bezweifele ich dann doch."
„Mach ich ja", erwiderte Jerry etwas widerwillig, „aber es muss der richtige Moment kommen." „Wenn du es nicht bis Ende August gemacht hast, tue ich es", drohte Jem.
„In deinem Namen, natürlich", setzte er nach einem Seitenblick auf Carls Gesichtsausdruck hastig hinzu. Der Blonde schloss den soeben geöffneten Mund wieder und schluckte sichtlich enttäuscht seinen fiesen Kommentar herunter.
„Und für dich, Ken, gilt das gleiche", fuhr Jem jetzt an seinen anderen Freund gewandt fort, „Rilla ist nämlich ganz sicher nicht der geduldigste Mensch auf dieser Erde."
Di lachte leise: „Jem, wir haben fünf Jahre darauf gewartet, dass ihr zurückkommt. Nan, Rilla, Una, ich und sämtliche andere Mädchen in Glen und auf der ganzen Welt. Glaub mir, warten haben wir gelernt."
