weil ‚zusammen' so viel besser klingt, als ‚allein'

Die nächsten Tage verstrichen ungewöhnlich schnell und es war keine Woche nach dem Gespräch im Regenbogental, als Nan nach einem Spaziergang mit Jerry nach Hause kaum und mit dem Diamanten an ihrem Finger um die Wette strahlte.

Natürlich war ganz Ingleside völlig aus dem Häuschen, aber während Susan, Di und Anne schon die Hochzeit planten, Shirley, Jem und Gilbert sich galant zurückhielten, schaffte Rilla nur ein etwas halbherziges Lächeln.

Natürlich freute sie sich für Nan, gönnte es ihr auch, aber sie schien so unendlich glücklich und dann dieser Ring… wie konnte Rilla da nicht eifersüchtig sein?

Unbemerkt schlüpfte sie nach draußen auf die Veranda und brauchte einige Sekunden um zu merken, dass Jem ihr gefolgt war.

„Keine Angst, Spinne, er wird dich schon noch fragen", bemerkte er halb ernst, halb amüsiert.

„Wird er das, Rotkäppchen?", fauchte Rilla zurück und drehte sich weg.

Jem lachte: „Okay, wir sind quitt. Aber mal ernsthaft: es ist gar nicht so leicht jemandem einen Antrag zu machen, wie ihr Mädchen immer glaubt."

„Und was ist so kompliziert daran, eine simple Frage zu stellen? Die Grammatik?", schnappte seine Schwester ohne sich zu ihm umzudrehen.

„Das traue ich Ken so gerade noch zu", erwiderte Jem grinsend, „ich glaube, sein Problem ist weniger Grammatik als viel mehr Nervosität." Jetzt drehte Rilla sich tatsächlich um, allerdings nur um ihm einen ungläubigen Blick zuzuwerfen.

„Nervös?", wiederholte sie, „warum denn das? Ich habe doch eigentlich keinen Zweifel daran gelassen, dass ich ihn durchaus heiraten möchte."

„Aber solange du nicht ja gesagt hast, kannst du auch noch nein sagen. Und das macht die Sache so schwierig", erklärte Jem, „Jerry zum Beispiel war so nervös, dass ich gedacht habe, er fragt Nan nie. Und selbst er hat es irgendwann geschafft, oder nicht?"

„Schon…", gab Rilla etwas widerwillig zu.

Jem grinste sie aufmunternd an: „Siehst du, du brauchst nur noch etwas Geduld zu haben." Rilla lachte tonlos.

„Noch mehr?", fragte sie, warf Jem einen schwer deutbaren Blick zu und lief ins Haus.

Wieder verstrichen einige Tage und Rilla sah sich mit einem anderen, beinahe ebenso wichtigen Ereignis konfrontiert: Ihrem zwanzigsten Geburtstag.

Man feierte im kleinen Kreis in Ingleside und es war der erste Tag, an dem Persis das Traumhaus verließ. Sie war blass, lächelte nicht und schien Probleme damit zu haben, Nan und Jerry, bzw. Rilla und Ken zusammen zu sehen, aber ansonsten ging es ihr den Umständen entsprechend gut.

Rilla hatte sich fest vorgenommen, sich etwas um Persis zu kümmern, war sie doch immer gut mit ihr ausgekommen, aber bevor sie ihren Plan in die Tat umsetzten konnte, bat Ken sie um einen kurzen Spaziergang.

Und natürlich nickte Rilla, die viel sagenden Blicke der anderen ignorierend, und folgte ihm vor die Tür. Draußen nahm Ken wortlos ihre Hand in seine und die nächsten paar Minuten verbrachten die beiden damit, schweigend durch den Garten zu schlendern.

„Der Mond ist schön heute Nacht", bemerkte Rilla, als sie die Stille nicht mehr ertrug.

Ken grinste: „Nicht halb so schön wie du."

„Elender Charmeur", konterte Rilla augenblicklich, musste aber ebenfalls grinsen.

„Magst du etwa keine Komplimente?", neckte Ken.

Rilla lachte: „Nein, nicht wenn sie schlecht sind."

„Okay", Ken nickte, „okay." Er schwieg für einige Sekunden, als müsste er über etwas nachdenken, dann blieb er stehen, wandte sich Rilla zu und griff nach ihrer zweiten Hand.

„Ich hatte mir einen schrecklich langen und schrecklich romantischen Text zurecht gelegt und die ganze letzte Nacht damit verbracht, ihn auswendig zu lernen", gestand er, „aber in anbetracht der Tatsachen denke ich, dass es wohl kaum noch das richtige sein wird."

Die Spur eines Grinsens erschien auf seinem Gesicht, verschwand aber genauso schnell, wie sie gekommen war. Stattdessen holte er einmal Luft, schloss kurz die Augen und sah dann Rilla an, die ihrerseits erwartungsvoll zu ihm aufblickte.

„Ich liebe dich. Und mich würde nichts glücklicher machen, als dich zu heiraten", fragend sah Ken sie an, „willst du? Mich heiraten, meine ich."

„Ja", Rilla nickte, „ja, iss will." Augenblicklich biss sie sich auf die Unterlippe.

Sie konnte sehen, wie Ken versuchte ein Grinsen zu unterdrücken und auch ihr wurde die Komik in der ganzen Situation bewusst. Und im nächsten Moment stimmte sie in Kens Lachen ein, ohne sich bewusst zu sein, dass es das erste Mal war, dass sie über ihr Lispeln lachen konnte.

Nachdem beide sich wieder halbwegs beruhigt hatten, beugte Ken sich zu Rilla herunter, um sie zu küssen und steckte, nachdem er sie wieder von ihr gelöst hatte, einen Ring an ihre linke Hand.

Es war ein alter Ring, mit einer ovalen Perle, eingerahmt von einem Kranz aus kleinen Rubinen und Saphiren.

„Er ist schön", bemerkte Rilla, hielt ihre Hand hoch und betrachtete ihren Ring.

Ken schlang einen Arm um ihre Hüften, beugte sich herunter und flüsterte grinsend in ihr Ohr: „Nicht halb so schön wie du."


Einige Minuten später schlug Ken vor rein zugehen, um ihren Familien zu sagen, „was sie ohnehin schon wissen." Und natürlich wussten sie es tatsächlich, was der allgemeinen Freude jedoch keinen Abbruch tat.

Doch wieder gab es jemanden, der es nicht so ganz schaffte, sich zu freuen. Persis rang sich zwar ein tapferes Lächeln ab, umarmte sowohl Rilla als auch Ken und wünschte ihnen alles Gute, aber sobald sich die Möglichkeit ergab, flüchtete sie sich in den Garten.

Und obwohl sie sicher gewesen war, dass niemand etwas bemerkt hatte, ließ sich, kaum das sie zwei Minuten draußen war, Shirley neben sie auf die Bank fallen.

„Störe ich?", fragte er und warf ihr einen kurzen Blick zu.

„Nein", erwiderte Persis, obwohl er sie natürlich doch störte und das auch eigentlich hätte wissen müssen. Shirley nickte, als Zeichen das er verstanden hatte und schwieg.

Etwas misstrauisch musterte Persis ihn von der Seite, aber als er nach einigen Minuten immer noch keine Anzeichen machte, sie in ein Gespräch zu verwickeln, entspannte sie sich wieder.

Aber da es nun mal Shirleys Art war, Leute durch sein Schweigen zum Reden zu bringen und weil Persis generell nie lange still sein konnte, begann sie dann doch zu reden.

„Es tut weh. Nicht, dass ich es ihnen nicht gönnen würde, aber es tut so verdammt weh, sie zusammen zu sehen. Zusammen und so dermaßen glücklich. Ich weiß, dass alle denken, ich hätte Thomas nicht geliebt, aber das stimmt nicht. Ich habe ihn geliebt. Tue es immer noch. Ja, er war zwölf Jahre älter als ich, aber mich hat das nie gestört. Ich war einfach glücklich mit ihm. Und jetzt ist er tot und…"

Sie brach ab und wischte sich hastig die Tränen aus dem Gesicht, die mittlerweile über ihre Wangen rannen.

„Ich weiß einfach nicht, wie es weitergehen soll. Ohne ihn", sie schluchzte leise, „und trotzdem erwarten alle, dass ich weitermache und darüber hinwegkomme, weil sie denken, dass ich ihn ja ohnehin nicht geliebt habe. Aber ich kann nicht. Ich kann nicht weitermachen, weil ich nicht weiß, wie. Nicht weiß, warum."

Sie blickte Shirley durch ihren Tränenschleier an. Wortlos zog er ein Taschentuch aus seiner Jackentasche und begann, ihr damit die Tränen aus dem Gesicht zu wischen. Persis versuchte sich an einem dankbaren Lächeln, das allerdings ziemlich kläglich wurde.

„Weißt du", begann Shirley langsam, „Tennyson hat mal gesagt, dass es ‚besser ist, Liebe empfunden und Verlust erlitten zu haben, als niemals geliebt zu haben.' Das klingt für dich jetzt vielleicht wie blanker Hohn, aber ich glaube, das es durchaus wahr ist.

Sieh dir zum Beispiel Una an. Sie hat Walter geliebt, ihn aber verloren, bevor sie Zeit hatte, ihm das zu sagen. Und trotzdem sagt sie, dass sie die Liebe, die sie für ihn empfunden hat und wahrscheinlich immer noch empfindet, um nichts in der Welt missen will. Und das, obwohl diese Liebe ihr mehr Leid als Freude gebracht hat."

„Una war schon immer stärker als ich", bemerkte Persis.

„Würde ich nicht sagen", widersprach Shirley, „sie ist nur anders. Sie behält Dinge für sich und durchlebt ihren Schmerz mit vorliebe ganz alleine, während du ihn auslebst. Das macht sie nicht stärker oder schwächer, nur eben anders."

„Es klingt nett, wie du das sagst. Ich würde es dir zu gerne glauben", gab Persis zu.

Shirley grinste etwas: „Dann tu's doch."

„Ich weiß nicht, ob ich kann", widersprach sie, „ich glaube nicht, dass ich kann."

„Versuch's einfach. Und wenn du doch irgendwann zweifeln musst, dann kommst du einfach zu Onkel Shirley und der hilft dir dann", schlug Shirley vor. Für einen Moment sah Persis ihn sprachlos an, dann lachte sie.

Es war kein lautes Lachen und ganz sicher nicht so fröhlich, wie früher, aber trotz allem war es zumindest so ansteckend, dass auch Shirley, der von Lachen sonst nicht viel hielt, lachen musste.

„Das war das erste Mal seit Thomas krank geworden ist, dass ich gelacht habe", stellte Persis nach einigen Sekunden fest und wirkte überrascht über sich selbst.

„Na, das ist doch eine gute Sache, oder nicht?", fragte Shirley und Persis nickte etwas zögerlich. Shirley sah sie an und stellte bei sich fest, dass es auch das erste Mal seit seiner Rückkehr war, dass er lachte. Aber er hätte sich lieber die Zunge abgebissen, als das zuzugeben.

„So, fühlst du dich gestärkt genug um dich unseren Turteltäubchen zu stellen?", fragte er sie dann, hauptsächlich, damit sie nicht wieder traurig wurde, weil sie an ihren Ex-Verlobten gedacht hatte.

Für einen Moment überlegte Persis, dann nickte sie langsam: „Ja. Ja, ich glaube schon."

„Gut", Shirley stand auf, stopfte das Taschentuch wieder in seien Jackentasche und hielt Persis dann eine Hand hin, um ihr beim Aufstehen behilflich zu sein. Persis griff danach, ließ aber nicht los, als sie stand.

„Danke", sagte sie plötzlich.

Shirley wirkte überrascht: „Wofür?"

„Dafür, dass du mir zugehört hast. Dafür, dass du mir geholfen hast ohne mich direkt als überemotionale Heulsuse abzustempeln. Dafür, dass du da warst", sie senkte den Blick, „ich meine, wir hatten nie viel miteinander zu tun. Eigentlich gar nichts. Es ist auf keinen Fall selbstverständlich, dass du mich tröstest."

„Für mich schon", stellte Shirley klar, „und jetzt komm, sonst dichtet Carl uns noch eine Affäre an oder so was."

Persis kicherte leise und folgte ihm zur Türe. Kurz bevor sie eintraten, ließ sie seine Hand los.