Vivere est dicere (Leben heißt lernen)

Die Sommermonate verflogen schnell und man sich versah, war es plötzlich Ende August. Carl verließ Glen als erster, musste er doch einmal quer durch ganz Kanada reisen, um nach Vancouver zu kommen und die Fords fuhren ebenfalls sehr zeitig zurück, damit Ken pünktlich zum Schulbeginn wieder in Toronto war.

Irgendwann verabschiedeten sich auch Jem, Jerry, Shirley und Una, um ihre Studien am Redmond aufzunehmen und zu guter letzt dann Nan und Di.

Für Rilla begann eine langweilige Zeit, in der sie ein ums andere Mal nahe daran war, sich selbst überdrüssig zu werden. Vielleicht war das auch der Grund, warum sie, als sie eine knappe Woche später von Faith' Rückkehr hörte, ihren Stolz herunter schluckte und beschloss den Merediths einen Besuch abzustatten.

Und so kam es, dass sie eines Nachmittags auf der Türschwelle des Farmhauses stand, klingelte und sich mit einem schnellen Blick vergewisserte, dass ihre Schuhe auch wirklich zu einander passten.

Bruce öffnete.

„Tag", grüßte er höflich.

Rilla lächelte: „Hallo Bruce. Ist deine Schwester da?"

„Faith? Ja", er nickte, „sie ist in der Küche und versucht zu kochen." Er bedeutete Rilla mit einer Handbewegung, ihm zu folgen und ging voraus zur Küche.

„Danke Bruce", wieder lächelte Rilla ihn an, woraufhin Bruce feuerrot anlief, etwas in sich hinein murmelte und flugs das Weite suchte.

Rilla blickte ihm etwas verwundert hinterher, zuckte dann mit den Schultern und klopfte vorsichtig an die geschlossene Küchentür. Nachdem sie keine Antwort erhalten hatte, klopfte sie ein weiteres Mal und trat schließlich einfach ein.

Konfrontiert wurde sie mit etwas, dass sie spontan nur ‚Chaos' nennen konnte.

Überall lag irgendetwas verstreut, seien es nun Zutaten oder Küchenutensilien, auf dem Herd standen zwei Töpfe, die bedenkliche Geräusche von sich gaben, die ganze Küche war mit einer feinen weißen Schicht bedeckt, die ziemlich nach Mehl aussah und obendrauf roch es auch noch verbrannt.

In mitten dieses Chaos stand Faith und fluchte ziemlich farbenfroh.

„Hallo", machte Rilla sich bemerkbar. Faith fuhr herum und ließ dabei prompt zwei Eier fallen, die sie in den Händen gehalten hatte.

„Rilla! Wie lange stehst du da schon?", fragte sie und ein Hauch von rosa überzog ihre Wangen.

„Lange genug", Rilla lachte, „aber abgesehen davon: du siehst aus, als könntest du Hilfe gebrauchen."

„Du willst mir helfen? Mich wundert es ehrlich gesagt, dass du noch nicht schreiend raus gerannt bist", bemerkte Faith trocken, sah sich in der Küche um und verzog das Gesicht.

„Da versuche ich einmal, Rosemary und Dad zu überraschen und das kommt dabei raus", stöhnte sie, „sind ja tolle Aussichten."

„Jem ist nicht anspruchsvoll. Er isst alles, was man ihm vor die Nase setzt", erwiderte Rilla grinsend, schloss die Türe hinter sich und ging hinüber zum Herd, um den Inhalt der Töpfe zu inspizieren, der mittlerweile begann überzukochen.

„Was sollte das werden?", erkundigte sie sich neugierig. Faith deutete wortlos auf einen Zettel, der sich, nachdem Rilla ihn von der Mehlschicht befreit hatte, als Rezept entpuppte.

„Wie viel Zeit haben wir noch?", fragte Rilla und blickte von dem Zettel auf. „Zweieinhalb Stunden, schätze ich. Vielleicht drei", erwiderte Faith, nachdem sie bei dem Versuch gescheitert war, eine Uhrzeit auf der Mehl bedeckten Küchenuhr zu erkennen.

„Okay", Rilla nickte, „ich würde sagen, als erstes räumen wir hier mal etwas auf, dann gehen wir einkaufen und dann kochen wir noch mal ganz neu."

„Du willst mir wirklich helfen?", Faith' Gesichtsausdruck lag irgendwo zwischen erfreut, ungläubig und skeptisch.

Rilla lachte: „Klar. Ich finde es nämlich ehrlich gesagt gar nicht so schlecht, dass ich nicht die einzige bin, die ein so hoffnungsloser Fall in Sachen Haushaltsführung ist. Und ich kann dich beruhigen: Das lässt sich alles lernen. Irgendwie."

Für einen Moment stand Faith wie sprachlos da, dann grinste sie: „Na dann, frisch ans Werk." Rilla blinzelte, warf einen viel sagenden Blick auf das Chaos um sie herum und hob eine Augenbraue.

„Frisch ans Werk…", wiederholte sie betont skeptisch, sah Faith an und im nächsten Augenblick mussten beide loslachen.

Irgendwie schafften sie es tatsächlich und als Rosemary und John Meredith abends aus Charlottetown zurückkehrten, warteten eine blitzblanke Küche und ein fertiges Abendessen.

Und während Mr. Meredith sich nicht viel dabei dachte, versuchte Rosemary mehr als einmal, herauszufinden welche Geschichte sich hinter diesem Essen verbarg, aber da Faith nichts sagen wollte und Rilla zur Geheimhaltung verpflichtet war, waren ihre Versuche erfolglos.

So verstrich das Abendessen und irgendwann stellte Rilla fest, dass sie gehen musste. Faith begleitete sie noch zur Tür, wo sich beide etwas unsicher gegenüber standen.

Sicher, heute hatten sie sich gut verstanden und während des Krieges war ein regelmäßiger Briefwechsel entstanden, aber beide erinnerten sich noch zu gut an sie Zeit, in der sie nicht wirklich gut miteinander ausgekommen waren.

„Du kannst gerne mal vorbeikommen", bot Rilla an und grinste etwas, „selbst wenn es nur aus Langeweile ist. Davon habe ich auch genug."

Faith lachte unsicher: „Werde ich. Und danke noch mal."

„Kein Problem", Rilla lächelte, „na ja, tschüß dann."

„Tschüß", echote Faith und winkte.


Und obwohl Rilla sich sicher gewesen war, dass Faith ihr Angebot irgendwann annehmen würde, schon weil es dem guten Ton entsprach, war sie doch etwas überrascht, dass die andere schon am nächsten Tag vor der Haustüre Inglesides stand.

„Hallo", grüßte sie etwas überrascht.

„Hey", Faith grinste, „tut mir Leid, dass ich so reinplatze, aber du hattest gesagt, ich könnte kommen, wenn mir langweilig ist und… na ja, mir ist langweilig."

Rilla lachte: „Komm rein."

Sie führte Faith ins obere Stockwerk und dann in ihr Zimmer. Faith selber, die eigentlich angenommen hatte, Ingleside in- und auswendig zu kennen, musste überrascht feststellen, dass sie das erste Mal in Rillas Zimmer war.

„Ich muss eben nach dem Kuchen sehen", entschuldigte Rilla sich, „dauert nicht lange."

„Kein Problem", Faith lächelte und begann bereits, sich im Zimmer umzusehen.

Die Wände waren sehr hellblau, die Möbel aus hellem Pinienholz, Sofa, Gardinen und Bettbezüge weiß. An den Wänden waren Bilder, hauptsächlich kleine Ölgemälde und bunte Zeichnungen von Landschaften oder Tieren, aber auch einige Fotos, von Familie und Freunden.

Über dem Schreibtisch hing eines von Walter, daneben eine Abschrift seines berühmtesten Gedichtes. Und auf dem Tisch stand, halb verdeckt von einem Strauß rosafarbener und weißer, langsam welkender Orchideen, ein Bild, das wohl erst diesen Sommer aufgenommen wurde, und Rilla neben Ken Ford zeigte.

Daneben lag ein Briefumschlag, adressiert an Rilla und abgestempelt in Toronto vor ein paar Tagen, sowie ein Bogen Papier, auf dem Faith ganz zu oberst die Worte ‚Lieber Ken' und darunter noch einige weitere Zeilen erkennen konnte.

Der Brief war abrupt abgebrochen und der Stift lag noch daneben, was bedeuten musste, dass Rilla gerade eben erst dabei gewesen war, ihn zu schreiben. Und Faith, die den Ring an Rillas Hand natürlich bereits gestern bemerkt hatte, zog nun, da sie das Foto und die Briefe gesehen hatte, sofort die richtigen Schlüsse.

„Das ist nicht gerade höflich, weißt du", Rillas Stimme ließ Faith herumfahren. Die jüngere stand grinsend in der Tür und sah aus, als beobachtete die kleine Szene schon etwas länger.

Faith grinste ebenfalls und konterte: „Nun, es ist auch nicht nett, mir deine kleine Liebschaft mit Ken Ford vorzuenthalten."

„Interessiert es dich denn?", fragte Rilla scheinheilig, ging hinüber zum Sofa und setzte sich. Faith folgte.

„Interessieren? Natürlich. Ich meine, Ken ist nicht unbedingt der Typ Mann, bei dem man erwartet, dass er früh heiratet. Und das kommt ja auch ziemlich plötzlich mit euch beiden", überlegte sie.

„Obwohl ich meine mich erinnern zu können, dass ihr während des Tanzabends damals ziemlich viel Zeit zusammen verbracht habt. Nicht, dass ich es genau wüsste… die Ankündigung von der Kriegerklärung hat mich doch ziemlich abgelenkt."

„Hmh", Rilla nickte, „und das war auch bestimmt der Grund, warum du stundenlang mit Jem auf den Felsen gesessen hast, richtig?"

Faith musste lachen, doch Rilla bemerkte auch den wehmütigen Klang, der jetzt mit ihrem Lachen mitschwang.

„Du vermisst ihn, hm?", fragte sie mitfühlend. Faith seufzte.

„Schrecklich", gab sie zu, „ich hatte so sehr gehofft, dass irgendeine höhere Macht dafür sorgt, dass er noch hier ist, wenn ich komme. Aber das war dann wohl ein Gebet zu viel. Und jetzt sehe ich ihn erst an Weihnachten. Weihnachten! Wie schrecklich weit weg das doch klingt!"

Sie versuchte ein Lächeln, scheiterte aber und seufzte stattdessen ein weiteres Mal.

„Als er vermisst wurde… manchmal da war ich soweit, zu sagen: ‚Wenn er stirbt, kann ich nicht weiter leben.' Und… wenn du mir nicht das mit Monday geschrieben hättest, dass er trotz allem weiter gewartete hat,… ich glaube, ich wäre durchgedreht", Faith schluckte.

„Eigentlich war es Susan, der das aufgefallen ist", erwiderte Rilla, weil ihr nichts anderes einfiel.

„Aber du hast daran gedacht, es mir zu schreiben", wandte Faith ein, schluckte noch einmal und versuchte, sich selbst unter Kontrolle zu bringen.

„Wo ist Monday eigentlich?", fragte sie dann, um das Thema zu wechseln.

„Bei Jem in Kingsport", antwortete Rilla und lächelte etwas, „du glaubst doch nicht wirklich, er hätte sich noch mal von Jem trennen lassen, oder? Und dann auch noch an diesem Bahnhof?"

Faith lachte leise: „Nein, wohl nicht. Dumm von mir."

Ein paar Momente schwiegen sie, dann blickte Faith auf.

„Sag mal, wolltest du eigentlich niemals studieren?", fragte sie vorsichtig.

„Doch", Rilla nickte langsam, „du bist so ziemlich der erste Mensch, dem ich das erzähle, aber nur weil ich mich damit abgefunden habe, der familieneigene Dummkopf zu sein, heißt es nicht, dass ich das gerne bin.

Aber vor dem Krieg hatte ich keine Ambitionen und währenddessen… ich konnte Mum und Susan doch nicht alleine lassen! Nicht, wo alle anderen weg waren. Also ist studieren ein ganz eigener kleiner Traum in meinem Kopf geblieben."

Sie lachte, aber es klang gezwungen.

„Was hältst du von einem Handel?", Faith lächelte, „du bringt mir den Haushaltskram bei und ich dir ein bisschen Universitäts-Wissen?"

Kurz überlegte Rilla, dann lächelte sie ebenfalls: „Klar, warum nicht?"