Lichterfest

In den nächsten Monaten wurde aus der ‚Zweckgemeinschaft' zwischen Faith und Rilla eine stetig enger werdende Freundschaft.

Denn, nachdem einige Missverständnisse und alte Unstimmigkeiten aus dem Weg geräumt waren, verstanden sich die beiden immer besser. Rilla war froh, endlich eine echte gute – vielleicht sogar beste – Freundin gefunden zu haben, hatte es ihr doch gerade daran immer gemangelt.

Faith ihrerseits war ähnlich erleichtert, war sie sich doch sehr bewusst, dass sie sich in den zweieinhalb Jahren, die sie fort gewesen war, von allen entfremdet hatte und dass sie, selbst wenn dem nicht so gewesen wäre, bei den Zwillingen doch immer ein wenig außen vor gewesen war und immer sein würde.

Das, zusammengenommen mit den Tatsachen, dass sie sich ersten doch ähnlicher waren, als zuerst erwartet, und dass zweitens einfach niemand sonst da war, führte dazu das sich innerhalb weniger Monate eine dermaßen feste Freundschaft aufbaute, dass sich die anderen, als sie zur Weihnachtszeit heimkehrten, mehr als nur ein bisschen überrascht zeigten.

Aber natürlich war die Freundschaft zwischen Rilla und Faith nicht das einzig nennenswerte Ereignis in Glen. Miranda Milgrave – geborene Pryor – hatte im November ihr erstes Kind zur Welt gebracht.

Es war eine Tochter mit hellem Haar und den runden, blauen Augen ihrer Mutter, die, in Erinnerung an Mirandas eigene Mutter, auf den Namen Emma Madison Milgrave getauft wurde.

Auch Gertrude Oliver, die im August Robert Grant geheiratet hatte und nun mit ihm in Charlottetown lebte, hatte Rilla geschrieben, dass ihr erstes Kind für den nächsten Juli ausgerechnet war.

Aber das größte Ereignis, abgesehen von Weihnachten selbst natürlich, war die Hochzeit von Miller Douglas und Mary Vance am 17. Dezember. Aus den Plänen im Spätsommer oder Frühherbst zu heiraten, war wegen Planungsschwierigkeiten nichts geworden.

Da Mary sich in den Kopf gesetzt hatte, dass sie unter gar keinen Umständen im Oktober oder November heiraten würde, bekam sie nun eine Winterhochzeit und teilte jedem, der lange genug stillstand, mit, dass das ja sowieso das allerromantischste war.

So heirateten die beiden also und verschwanden dann auf eine von Miller eisern zusammengesparte, zweiwöchige Hochzeitsreise nach Toronto.

Von eben dort kamen kurz vor Weihnachten auch die Fords, da es für Ken selbstverständlich schien in Glen (und somit bei Rilla) zu feiern und nachdem auch Leslie den Wunsch ausgedrückt hatte, nach langen Jahren mal wieder auf der Insel zu feiern, war es beschlossene Sache.

Eine weitere stille Hoffnung sowohl Owens als auch Leslies war, dass Persis durch die Ferien wieder etwas aufleben würde. Zum Ende des Sommers hatte sie nämlich langsam gelernt, mit ihrem Verlust klar zu kommen und hatte begonnen, wieder unter die Leute zu gehen.

Nach ihrer Rückkehr nach Toronto war alles mit doppelter Wucht auf sie eingeprallt und sie hatte sich in den ersten Wochen geweigert, dass Haus zu verlassen, es sei denn für Besuche am Grab ihres Verlobten, die irgendwann eine nahezu tägliche Regelmäßigkeit annahmen, was ihre Eltern mehr als besorgte.

So versammelte man sich nun also in Ingleside um das erste Weihnachten mit den Jungen seit dem Krieg zu feiern. Doch auch wenn wohl jeder froh darüber war, dass sie endlich wieder da waren, ein Platz war leer und würde es für immer bleiben.

So wurde dieses Weihnachten nicht nur zu einem Fest der Freude, sondern auch des Gedenkens und der Melancholie.

Aber Weihnachten wäre eben nicht Weihnachten, wenn es nicht der einzige Tag im Jahr wäre, an dem man Gedenken und Freude vereinbaren konnte und als Jem Faith endlich, endlich den lang ersehnten Verlobungsring an den Finger steckte, konnte man gar nicht anders, als sich für die beiden zu freuen.

Der Ring selber, gold mit einem Rubin, wurde natürlich augenblicklich mit denen von Nan und Rilla verglichen, mit dem Ergebnis, dass jede den eigenen Ring für am schönsten befand, und von Ken mit einem trockenen „na, wie lange du dafür wohl gespart hast, Jem…" kommentiert.

Anschließend wurde erst gegessen, dann Geschenke ausgeteilt, was auf Grund der vielen Leute in einem dermaßenen Chaos endete, dass es Jem und Faith völlig, Rilla und Ken weitgehend und Nan und Jerry teilweiße gelang, unbemerkt nach draußen zu entschlüpfen

Es ging ihnen darum, sich ihre gegenseitigen Geschenke und etwas ruhigerem Umfeld zu geben oder, wie Ken es bezeichnete „dem Wahnsinn da drinnen" zu entgehen.

Rilla lachte, den irgendwo hatte er ja wirklich Recht, und für die nächsten paar Minuten gingen die beiden nur schweigend nebeneinander her, wie sie es kaum ein halbes Jahr zuvor an Rillas Geburtstag getan hatten, doch ergriff diesmal Ken zuerst das Wort: „Wann wollen Jem und Faith eigentlich heiraten?"

„So schnell wie möglich", antwortete Rilla, etwas überrascht über die Frage, aber durchaus im Klaren darüber, wohin das Gespräch führen würde, „am liebsten schon im Juni. Faith sagt, ihr wäre der neunzehnte am liebsten. Das ist so ziemlich das frühste, was sie schaffen können, wenn Jem seinen Abschluss am fünfzehnten kriegt."

„Das ist verdammt früh. Auch wenn ich zugeben muss, dass ich es verstehen kann", bemerkte Ken. Rilla nickte und wartete ab.

„Trotzdem", fuhr Ken auch sogleich fort, „wäre es mir persönlich lieber, wenn wir noch etwas länger warten. Du darfst das nicht falsch verstehen, weil, wenn ich könnte, würde ich dich jetzt gleich heiraten, aber mir wäre es lieber, wenn ich nach dem Studium noch ein paar Monate habe, um alles zu planen, einen Job und ein Haus zu finden und so. Verstehst du?"

„Kommt darauf an, was du mit ‚etwas länger warten' meinst", erwiderte Rilla und sah auf, „ein paar Monate sind in Ordnung. Aber ich möchte wirklich nicht noch ein paar Jahre mit Warten verschwenden."

Ken lachte: „Wo denkst du hin? Glaubst du wirklich, ich würde es aushalten noch mehr als ein paar Monate zu warten bevor ich dich endlich heiraten kann? Nein, Rilla-meine-Rilla, ganz sicher nicht. Eigentlich dachte ich so an Anfang 1921. Februar vielleicht."

Rilla lächelte jetzt ebenfalls: „Ja, ich glaube bis Februar kann ich warten." Anstatt etwas zu erwidern, beugte Ken sich zu ihr hinunter und küsste sie.

Nachdem er sich wieder von ihr gelöst hatte, holte etwas aus seiner Hosentasche, verkündete „Bescherung" und öffnete die Faust, so dass Rilla ihr Geschenk sehen konnte.

Es war eine silberne Kette mit einem Anhänger, in den ein Stein eingefasst war, der selbst im schwachen Licht in tausend verschiedenen Farben zu strahlen schien.

„Ein Schwarzopal", erklärte Ken leise, als Rilla die Hand ausstreckte um den Stein zu berühren. „Walter mochte Opale. Er hat gesagt, sie hätten etwas faszinierendes an sich", erinnerte Rilla sich. Ken nickte.

„Von ihm habe ich ehrlich gesagt auch die Idee", gab er zu und trat hinter sie, um ihr die Kette anzulegen, „wir haben uns während des Krieges regelmäßig geschrieben, musst du wissen, und meistens warst du der Inhalt. Und einmal hat er dich mit einem Opal verglichen."

„Wirklich? Warum das?", Rilla drehte sich etwas in Kens Armen, die er mittlerweile um ihre Taille gelegt hatte, so dass sie ihn ansehen konnte.

„Sie sind schön und kostbar, dabei aber auch lebendig und viel zu tiefgründig, als das man sie je so gut kennen lernen könnte, dass sie einen nicht mehr überraschen."

„Und ich bin genauso?", fragte Rilla, ein leichtes Lächeln auf den Lippen.

„Lass mich sehen", Ken tat als würde er darüber nachdenken, „schön sowieso. Kostbar auf jeden Fall. Lebendig durchaus. Tiefgründig auch. Ich würde sagen, ja, der Vergleich stimmt so. Und abgesehen davon habe ich gerade herausgefunden, was du als ‚gutes Kompliment' ansiehst."

Rilla lachte leise über diese Anspielung auf ihr Gespräch an ihrem Geburtstag, senkte dann aber leicht errötend die Augen, da es ihr doch etwas peinlich war so über den grünen Klee gelobt zu werden. Um die Situation zu überspielen holte sie ihr Geschenk für Ken heraus, einen hübschen Füllfederhalter, in den ihrer beider Namen eingraviert waren.

Nicht viel später gingen Rilla und Ken wieder hinein, kurz bevor erst Faith und Jem und dann auch Nan und Jerry wiederkamen.

Letztere hatten einander – natürlich – Bücher geschenkt. Eine in weiches Leder gebundene Bibel für Jerry und eine Sammlung von bedeutenden Gedichten des letzten Jahrhunderts für Nan.

Faith ihrerseits hatte von Jem, der sein Geld wirklich weitgehend für den Ring ausgegeben hatte, ein Armband aus hübschen Glasperlen bekommen und ihm dafür ein gerahmtes Foto, das irgendjemand von ihnen in London gemacht hatte, gegeben.

Mittlerweile hatten auch die anderen alle ihre Geschenke geben, erhalten und ausgepackt und es wurde eifrig geguckt, bewundert und verglichen. So mochte Di zum Beispiel den Blick gar nicht mehr von der Brosche nehmen, die ihre Mutter von ihrem Vater erhalten hatte und Persis war bereits in dem Buch versunken, das Shirley für sie ausgesucht hatte.

Und Jem konnte es sich natürlich nicht nehmen lassen Rillas Halskette mit einem „na, wie lange du dafür wohl gespart hast, Ken…" zu kommentieren.

So kam und ging also Weihnachten und ehe man sich versah, war es auch schon wieder Zeit abzureisen.

Und natürlich ging diese erneute Trennung für mehrere Monate nicht problemlos vonstatten und gerade Jem und Faith mochten einander wirklich nur ungern verlassen, aber es gab ja bereits das nächste Ereignis, auf das man sich freuen konnte: die Hochzeit der beiden, die mittlerweile fest auf den neunzehnten Juni gelegt war.

Die Zeremonie an sich sollte im Pfarrhaus stattfinden und die anschließende Feier, sofern das Wetter es zuließ, im Regenbogental. Anne, Rosemary und Susan waren bereits kurz nach Verkündung des Datums tief in Vorbereitungen versunken.

Auch Rilla hatte Faith hoch und heilig versprochen, ihr sowohl beim Nähen der Aussteuer, als auch dann zu helfen, wenn es galt, die drei älteren Frauen umzustimmen, wenn sie allzu sehr von Faith' eigenen, bereits sehr detaillierten Vorstellungen von ihrer Hochzeit abschweiften.

Und so waren die nächsten Monate voll verplant, denn, wie Carl seiner großen Schwester grinsend erzählte, als sie allzu ungeduldig wurde, „der nächste Sommer kommt bestimmt."