Wermutstropfen
Nach der Hochzeit entschwanden Faith und Jem erst einmal auf Flitterwochen nach New York und nutzen den Rest des Sommers, sich in ihrem neuen Heim häuslich einzurichten.
Jem hatte sich von seinem Vater genug Geld geliehen, ein kleines Haus zu kaufen, obwohl Gilbert sowohl angeboten hatte, es ihnen zur Hochzeit zu schenken, als auch, dass sie so lange sie wollten in Ingleside bleiben konnten.
Jem hatte beide Angeboten ausgeschlagen, zum einen um seinem Vater nicht auf der Tasche zu liegen, dann natürlich, um endlich unabhängig zu werden und auch um nicht noch länger im elterlichen Haus leben zu müssen.
So hatte er also eben das Haus gekauft, auf das er und Faith schon vor dem Krieg ein Auge geworfen hatten. Es war lange nicht bewohnt worden, was es überhaupt erst erschwinglich machte, aber ansonsten „ziemlich perfekt", wie Faith es ausdrückte.
Ein besonderer Pluspunkt war auch die Lage, denn es war nur einen kurzen Gang von Ingleside und dem Pfarrhaus entfernt und überblickte zudem noch das Regenbogental, weshalb es von der neuen Hausherrin den Namen ‚Fairview' erhielt.
Faith und Jem lebten sich schnell in dem kleinen gelben Haus ein und waren das, was Carl als „ekelerregend glücklich" zu bezeichnen pflegte.
Und an einem lauen Abend im späten August verkündeten die beiden bei einem Abendessen mit ihren Familien im Pfarrhaus die Nachricht, die ihr Glück abrundete: Faith erwartete ein Kind.
Natürlich waren alle völlig aus dem Häuschen, besonders als sie erfuhren, dass das Kind für März ausgerechnet war, also nur Wochen nach Rillas und Kens Hochzeit zur Welt kommen würde.
Jerry verdrehte ziemlich theatralisch die Augen und verkündete, dass „das ja ganz schon viel auf einmal" sei und Carl konnte sich natürlich seinen Kommentar ebenfalls nicht verkneifen und musste allen vor Augen führen, dass Faith und Jem „es da ja doch ganz schon eilig" gehabt hatten.
Jem nahm es mit Humor und wies seinerseits darauf hin, dass danach „erstmal Ken und Rilla dran" wären. Ken lachte gut gelaunt, aber Rillas Lächeln fiel dann doch etwas steif aus.
Denn, obwohl sie natürlich sah, wie glücklich Faith zu sein schien und der kleine Oliver Robert Grant, den sie seit seiner Geburt vor etwa einem Monat bereits drei Mal gesehen hatte, ja wirklich süß war, das mit dem Kinderkriegen hätte sie wirklich lieber anderen überlassen.
Aber, so beruhigte Rilla sich, erstmal kam ja sowieso noch die Hochzeit im Februar. Und das, wie sie zu ihrer Freude, aber auch Panik, feststellen musste, mit beinahe riesenhaften Schritten.
Ehe sie sich versah war es Herbst, dann Winter, einschließlich Weihnachten, das man wieder in Ingleside mit den Merediths, allerdings diesmal ohne die Fords, feierte, ebenso wie Silvester.
Anfang Januar reiste Anne mit ihrer jüngsten Tochter schon nach Toronto, um bei den letzten Vorbereitungen für die Hochzeit helfen zu können. Denn in Toronto und nicht in Glen, würde die Hochzeit stattfinden wie man nach langem Überlegen beschlossen hatte.
Rilla selbst wusste nicht, wie glücklich sie mit dieser Entscheidung war, aber solche Sorgen vertraute sie freilich nur ihrem Tagebuch und sonst niemandem an, denn Ken schien es sehr wichtig gewesen zu sein und Owen hatte durchblicken lassen, dass er Widerspruch nicht wirklich akzeptieren wurde.
Das waren die Gründe gewesen, weshalb Rilla zugestimmt hatte, obwohl sie selber es weitaus lieber gehabt hätte, eine kleine Feier im Kreis von Familie und Freunden in Glen abzuhalten.
Aber sie hatte nun einmal zugestimmt und konnte nicht mehr zurück, auch nicht, als sie feststellen musste, dass die „etwas größere Sache", von der Ken gesprochen hatte, sich als ausgewachsene High-Society-Hochzeit entpuppte.
Anscheinend, so bekam Rilla den Eindruck, hatten die Fords sowohl das Geld, als auch das Ansehen und den Einfluss in Toronto, dass man von ihrem ältesten und einzigen Sohn so etwas beinahe schon zu erwarten schien. Nach der Braut fragte man da recht wenig.
Also schwieg Rilla, setzte ein gleichmütiges Lächeln auf und dachte jedes Mal ein bisschen wehmütig an Jems und Faiths Hochzeit, wenn immer ihr jemand mehrere, für sie völlig identisch aussehende Blumen vor die Nase hielt, aus denen sie sich wahllos welche aussuchte, nur um dann zu sehen wie man doch andere nahm.
Oder wenn sie stundenlang mit erhobenen Armen auf einem niedrigen Tisch stand und drei Schneiderinnen an ihr herumwerkelten, um ein Hochzeitskleid anzupassen, das sie sich nicht ausgesucht hatte, oder wenn etwas ähnliches geschah.
Das, fand Rilla, wäre aber auch alles noch erträglich gewesen, wenn da nicht die Blicke gewesen wären. Diese Blicke, die ihr sämtliche weibliche Wesen zuwarfen, denen sie vorgestellt wurden und die ganz deutlich ausdrückten, was sie von diesem ‚Landei' dort hielten.
Die jüngeren Frauen, unter ihnen auch die, die man als Rillas Brautjungfern ausgesucht hatte, gingen sogar noch weiter und schossen spitze, zielgerichtete Kommentare ab, wenn immer sich ihnen die Gelegenheit bot.
Und Rilla handelte in solchen Moment genau so, wie sie es schon immer getan hatte: so hob das Kinn noch ein Stückchen höher, blickte noch ein wenig distanzierter und lächelte noch ein bisschen angespannter.
Und daran, dass das von den anderen Frauen natürlich erst Recht als pure Arroganz empfunden wurde und somit alles nur noch schlimmer machte, dachte sie natürlich nicht.
Am schlimmsten erging es ihr mit Alice Stewart, die einer reichen, eng mit den Fords befreundeten Familie entstammte und zudem auch noch die jüngste Tochter des jüngeren Bruders von Owens Stiefmutter Barbara Stewart war, nach deren Vorgängerin Alice Selwyn man sie benannt hatte.
Alice war, wie Persis, Rilla erzählte, eine von Kens ehemaligen Freundinnen und sich wohl recht sicher gewesen war, dass er sie nach dem Krieg heiraten würde. ‚Das Mädchen von der Insel' kam ihr da natürlich gänzlich Ungelegen und es schien Rilla beinahe so, als wolle Alice sie dafür nicht ungeschoren davonkommen lassen.
Faith, der sich Rilla irgendwann, als sie es nicht mehr aushielt, brieflich anvertraute, schrieb zurück, dass „die ja nur eifersüchtig" wäre und Rilla „sie am besten einfach ignorieren" solle, schließlich wäre „sie ja wegen Ken und der Hochzeit da".
Rilla hatte den Brief seufzend weggelegt, denn, so sehr Faith es versuchte, wirklich verstehen tat sie nicht und die Tatsache, dass sie von Ken, ganz im Gegensatz zu Alice Stewart, die ständig in ‚Ford Manor', dem Herrenhaus der Fords, zu sein schien, kaum etwas zu Gesicht bekam, half auch nicht gerade.
Höchstens abends sah sie ihn manchmal für einige Minuten, an guten Abenden auch mal für eine Stunde und langsam kam es Rilla so für, als würde sie nur für dieses bisschen allzu kostbare Zeit jeden neuen Tag durchstehen.
Doch auch das sollte ihr nicht lange als Zuflucht dienen, denn natürlich blieb Ken nicht verborgen, dass sie stark abnahm, ziemlich krank und ganz bestimmt nicht glücklich aussah, und um seinen Fragen zu entgehen, lies Rilla sich immer öfter entschuldigen, wenn er sie auf einen Spaziergang mitnehmen wollte.
Stattdessen flüchtete sie sich selber so oft wie so konnte für ein paar Minuten in den Garten, in der Hoffnung, dass sie dort niemand finden würde.
So auch an einem Nachmittag Anfang Februar, als es bei ‚gemütlichen Kaffeekränzchen' allzu schlimm geworden war. Angefangen hatte es damit, dass Victoria, die weniger nettere von Owens Schwestern, angesprochen hatte, wie krank und dünn Rilla wirkte.
Die hatte natürlich mit einem Lächeln, von dem sie hoffte, dass es halbwegs überzeugend gelungen war, und ihrer Standardantwort („Ich bin nur so aufgeregt wegen der Hochzeit.") geantwortet hatte.
Victoria hatte gelacht und wie im Spaß gefragt, ob sie „den lieben Kenneth denn wirklich heiraten" wollte.
„Mehr als alles andere", hatte Rilla wahrheitsgemäß erwidert und während das Victoria zu reichen schien, sah Alice Stewart ihre Chance gekommen.
„‚Mehr als alles andere'", wiederholte sie, „wie niedlich!" Und aus ihrem Mund klangen diese durchaus ehrlichen Worte albern, dumm und naiv.
Nur Minuten später hatte Rilla sich entschuldigt und war geflüchtet.
Jetzt saß sie also auf einer Gartenbank und beobachtete das Windspiel in den Bäumen, als sich jemand neben sie setzte.
„Es wird besser", versprach Leslie ruhig, „irgendwann wird es besser. Man lernt ihre Spielchen. Und man lernt, sie zu ignorieren."
„Schwer vorstellbar", erwiderte Rilla trocken und sah ihre zukünftige Schwiegermutter an.
Leslie lachte leise: „Das habe ich mir auch gedacht, als Persis – Persis Gardner, Owens Schwester – mir das gleiche vor meiner Hochzeit gesagt hat, aber sie hatte Recht. Es wird wirklich erträglich."
„Wahrscheinlich", Rilla seufzte, „aber, was ich da eben gesagt habe, das habe ich auch so gemeint und dann wiederholt diese Alice es und plötzlich komme ich mir selbst so schrecklich dumm vor und…" Sie brach ab und schüttelte beinahe resigniert den Kopf.
„Ja, Alice Stewart ist ein ganz schlimmes Exemplar dieser Spezies. Und ich muss dir leider sagen: Die wirst du dein ganzes Leben lang nicht mehr los. Sie wird dich dein ganzes Leben lang spüren lassen, dass du deinem eigenen Mann niemals gerecht werden kannst", jetzt war es an Leslie zu seufzen.
„Du klingst, als redest du aus Erfahrung", bemerkte Rilla nicht ohne Neugier.
„Tue ich auch. Nur das meine ‚Alice Stewart' ‚Victoria Ford' heißt – ‚Russel' mittlerweile –, aber außer dem und dass sie keine Beinahe-Verlobte und ‚gute Freundin', sondern eine Schwester meines Mannes ist, ist es ziemlich identisch", erzählte Leslie nicht ohne etwas Bitterkeit.
„Mit Persis – wieder Owens Schwester – habe ich mich dagegen immer bestens verstanden. Und du wirst auch sehen, wenn du dich erstmal an Toronto und alles hier gewöhnt hast, ist es wirklich nicht so schlimm."
„Und bis dahin?", fragte Rilla, gefangen zwischen Skepsis und Hoffnung.
„Bis dahin sagst du dir einfach immer, dass es Ken ist, weswegen du hier bist, dass er dich liebt und dass Pers und ich dir helfen werden, wann immer du Hilfe brauchst."
„Und", jetzt grinste Leslie etwas, „du musst mir zwei Dinge versprechen: Erstens, dass du aufhörst, meinem Sohn aus dem Weg zu gehen, weil er sich täglich mehr Vorwürfe macht und zweitens, dass du endlich wieder anfängst zu essen, sonst drehen die armen Schneiderinnen noch durch, weil sie das Kleid ständig ändern müssen."
Und darüber musste selbst Rilla lachen.
