und sie lächelte

Ken strich sich die Haare aus der Stirn und klopfte dann an die Türe eines der Gästeapartments in Ford Manor, das Anne und Rilla bis zur Hochzeit bewohnen würden.

Er war sich nicht sicher, ob er überhaupt hätte kommen sollen, da Rilla ihn die letzten Male immer hatte wegschicken lassen und es außerdem schon recht spät war.

Ken hatte, sowohl durch verschiedene Kontakte seines Vater, als auch durch seinen bemerkenswert guten Universitätsabschluss, sofort eine Stelle bei einer renommierten Toronter Zeitung bekommen, was zum einen natürlich sehr gut war, sich zum anderen aber auch ebenso zeitaufwändig herausstellte.

Besonders, da er jetzt natürlich vorarbeiten musste, weil es doch direkt nach der Hochzeit in die Flitterwochen gehen würde und Ken überhaupt nicht einsah, diese nur wegen seines Jobs zu kürzen.

Also arbeitet er in der letzten Zeit noch mehr als ohnehin schon, was zur Folge hatte, dass er meistens erst sehr spät nach Hause kam. So auch jetzt, wie ihm seine Uhr verriet, deren Zeiger mittlerweile auf kurz vor zehn Uhr nachts standen.

In dem Moment öffnete sich auch schon die Türe und wie immer in den letzten Tagen sah er sich Anne gegenüber.

„Hallo Ken", grüßte sie und lächelte.

„Guten Abend", er nickte kurz zum Gruß, „ist Rilla…" Bevor Ken seinen Satz beenden konnte, wurde Anne zur Seite geschoben und Rilla höchstpersönlich stand ihm gegenüber.

„Sag mal, weißt du eigentlich wie spät es ist? Ich habe Ewigkeiten auf dich gewartet", anklagend blickte sie ihn an. Falls Ken überrascht war, ließ er es sich nicht anmerken.

„Tut mir Leid, aber in der Redaktion gab es ein paar Probleme", entschuldigte er sich und beobachtete Rilla, wie sie Hut und Mantel anzog.

„Na, an den Satz gewöhne ich mich besser schon mal, nicht wahr, Mum?", grinste sie. Anne nickte lachend und reichte ihrer Tochter die Handschuhe. Rilla griff danach und zog Ken schon mit sich nach draußen.

„Tschüß, Anne. Ich liefere sie in einer Stunde oder so wieder hier ab", rief der noch über seine Schulter, bevor die Tür sich schloss.


„…und dann haben deine Mutter und ich…", Rilla unterbrach ihr eigenes Plaudern und blickte zu Ken hoch.

„Ist was?", fragte sie leicht irritiert.

Er schüttelte den Kopf: „Nein. Was sollte sein?"

„Na, du starrst mich schon die ganze Zeit so an", erklärte sie, „also sehe ich entweder merkwürdig aus oder aber etwas ist los."

„Du siehst nicht merkwürdig aus, sondern wunderhübsch", stellte Ken klar, „und deine Haare gefallen mir offen ohnehin am besten."

Rilla lächelte: „Ich werde es mir merken."

„Das hoffe ich doch", erwiderte er grinsend.

„Aber", hob sie wieder an, seinen Kommentar ignorierend, „wenn es nicht mein Aussehen ist, dann muss etwas anderes los sein."

„Ich habe nur gedacht, dass ich dich seit langem nicht mehr so unbeschwert und glücklich erlebt habe wie heute", erklärte Ken, jetzt wieder ernst.

Rilla nickte nachdenklich: „Ich glaube, ich habe mich auch lange nicht mehr so gefühlt. Ich hatte ziemlich Probleme mich an Toronto zu gewöhnen, an euren Lebensstil und an die Menschen hier, aber heute habe ich mit deiner Mutter geredet und das hat mir sehr geholfen."

„Inwiefern?", erkundigte Ken sich. „

Sie hat mir geholfen, zu begreifen, was wirklich wichtig ist", erklärte Rilla, „dass ich hier bin um dich zu heiraten und dass es das wert ist und… und dass niemals alles so schlimm ist, wie es auf den ersten Blick scheint."

„Das heißt, du kommst klar?", vergewisserte Ken sich, „falls ich dir irgendwie helfen kann…"

„Nein, schon in Ordnung. Ich bin nur nervlich nicht ganz auf der Höhe im Moment, aber das wird sich wieder geben", Rilla lächelte, wie zum Beweiß, dass es ihr gut ging.

„Schon zu hören. Und jetzt mach die Augen zu", forderte Ken sie grinsend auf. Etwas irritiert tat Rilla wie ihr geheißen und ließ sich von Ken weiterführen. Sie hörte, wie er ein Tor öffnete und spürte dann, dass der Asphalt des Gehwegs in Kies überging.

„Ja nicht gucken!", warnte Ken und führte sie noch ein paar Schritte weiter, bevor er stehen blieb und beide Hand über ihre Augen legte.

„Und, was meinst du, was ich dir zeigen will?", fragte er leise. Rilla zuckte mit den Schultern.

„Keine Ahnung", erwiderte sie wahrheitsgetreu. Ken grinste und nahm seine Hände weg.

Rilla blinzelte. Sie stand mitten in einer Pappelallee, an deren Ende sich ein Blumenrondell mit einem Springbrunnen erstreckte. Überschattet wurde beides von einem großen, weißen Herrenhaus.

„Was…?", begann sie, brachte aber keinen vernünftigen Satz zustande.

„Unser neues Zuhause", erklärte Ken, schob seine Hand in ihre und zog sie sanft vorwärts.

„Unser… Zuhause?", Rilla schluckte, „und wie bitte hast du das bezahlt?"

„Das, Prinzessin, lass doch bitte meine Sorge sein", erwiderte Ken grinsend.

Rilla nickte: „Okay. Wenn du meinst."

„Gefällt es dir?", erkundigte Ken sich, als beide die kleine Freitreppe hochstiegen.

„Es ist umwerfend. Und wenn es von innen genauso schön ist, wie von außen, dann kann ich dir versichern, dass es mir mehr als gefällt", entgegnete Rilla und fuhr mit den Fingerspitzen das Treppengeländer entlang.

„Wir sind immer noch in Rosedale, gar nicht weit von Ford Manor", erzählte Ken und fummelte an seinem Schlüsselbund herum, „was allerdings auch heißt, dass es etwas außerhalb ist. Dafür ist der Garten aber wirklich riesig."

Den Garten und das Haus selbst zeigte er Rilla in der nächsten Stunde und sie wirkte von Zimmer zu Zimmer faszinierter. Das Haus war möbliert, ließ allerdings eine persönliche Note vermissen, wie Rilla besonders in den privaten Räumen im ersten Stock auffiel. Da kam noch ein gutes Stück Arbeit auf sie zu.

„Wie heißt es?", fragte sie Ken später, als sie durch den Garten schlenderten, von dessen Größe Ken nicht zuviel versprochen hatte und der dem Haus in nichts nachstand.

„Das Haus? Keine Ahnung. Ich glaube, es ist nach den Vorbesitzern benannt. Aber der letzte Spross der Familie ist vor ein paar Monaten gestorben, also ist es wohl legitim, wenn wir es umbenennen. Irgendwelche Ideen?"

Nachdenklich blickte Rilla sich um, betrachtete das Haus, die Blumenbeete und die Bäume, die sich im Wind sacht hin und her wiegten, ganz so wie in einem Gedicht, dass Walter Jahre zuvor geschrieben hatte. ‚Gates of the Wind' war der Titel – Tore des Windes.

„Windgates", verkündete Rilla nun und lächelte, „es soll Windgates heißen."


In den nächsten Tagen unternahmen sie und Ken wann immer es ging Ausflüge zu ihrem neuen Haus, das nun ganz offiziell Windgates hieß, und malten sich in schillernden Farben ihre Zukunft aus, wie es wohl nur verliebte Menschen konnten.

Viel Zeit hatten sie allerdings nicht füreinander, da Ken kontinuierlich zu arbeiten schien und Rilla mit den Hochzeitsvorbereitungen mehr als beschäftigt war.

Zuerst gab es Probleme mit der Gästeliste, dann waren die falschen Blumen geliefert worden und eine der Näherinnen hatte einen Fehler bei der Anpassung des Kleides gemacht und kurz vorher musste man sich noch mit Schwierigkeiten wegen der Torte herumschlagen.

Irgendwie wurde alles gelöst und so kam der große Tag – der 14.02.1921. Valentinstag, der Romantik wegen. Rilla konnte sich zwar nicht erinnern, jemals den Wunsch geäußert zu haben, am Valentinstag zu heiraten, oder es aus Kens Mund gehört zu haben, aber ihr sollte es Recht sein.

Am Morgen eben diesen Tages weckte eines der Hausmädchen sie beinahe unerhört früh, da es eine stundenlange Prozedur war, die Braut für die Hochzeit vorzubereiten.

Rilla saß still und ließ stumm geschehen, was auch immer man mit ihr tat. Am aufwändigsten war sie Hochsteckfrisur, in die man Perlen und kleine Brillianten hinein nähte.

Irgendwann gesellten sich auch die Brautjungfern dazu: Persis, Nan (Di hatte, wie erwartet, mit Hinweis auf die Hochzeit ihrer Zwillingsschwester, abgelehnt) und diverse andere Mädchen, von denen Rilla nicht viel mehr als den Namen wusste.

Laut schnatternd machten sie sich fertig und besonders Alice Stewart konnte es nicht lassen, einige spitze Bemerkungen in Richtung der Braut fallen zu lassen.

Rilla aber lächelte nur freundlich und dachte an Ken und an Windgates und versuchte, wie jedes Mal, wenn sie an ihr neues Heim dachte, wehmütige Bilder von Ingleside und auch von dem kleinen, gemütlichen Fairview zu verdrängen.

„Hey", hörte Rilla plötzlich eine Stimme hinter sich. Sie drehte sich um und sah direkt ins Gesicht einer strahlenden Faith.

„Faith! Schön dich zu sehen", rief Rilla und fiel der Älteren um den Hals. Sie wusste, dass Faith, ebenso wie der Rest von Familie und Freunden aus Glen, erst gestern Nacht angekommen war, aber außer Nan hatte sie noch keinen von ihnen zu Gesicht bekommen.

„Aufgeregt?", fragte Faith und setzte sich schwerfällig auf den Stuhl, den Rilla für sie freigemacht hatte. Sie war mittlerweile im achten Monat schwanger und hatte mehr und mehr Probleme, sich normal zu bewegen.

„Ja", Rilla nickte, „aber noch mehr freue ich mich. Und du auch, nehme ich an." Sie nickte in Richtung Faith' gerundeter Mitte.

Die Blonde strahlte: „Total. Mitte März ist es soweit, sagt dein Vater. Jem ist der festen Überzeugung, dass es ein Junge wird, aber ich…"

Weiter kam Faith nicht, denn irgendeine Angestellte betrat das Zimmer und verkündete, dass die Zeremonie begann. Die Brautjungfern stellten sich kichernd auf und Faith verschwand mit dem Versprechen, gleich weiterzuerzählen.

Dann war Rilla allein. Sie wusste, dass sie eigentlich hätte rausgehen sollen, dass ihr Vater vor der Tür und mehrere hundert andere Menschen unten warteten, aber sie ging nicht.

Sie warf einen Blick auf ihr Bouquet aus weißen Rosen (Unschuld), weißen Nelken (Liebe) und weißen Chrysanthemen (Wahrheit), dann einen in den Spiegel.

Zurück sah eine feine, herausgeputzte Gestalt, in der Rilla jeden anderen, aber nicht sich selbst erkannte. Sie seufzte und hob die Hände, um den Schleier vor ihr Gesicht zu legen, hielt dann aber inne.

Zwei, drei Handgriffe, dann hielt sie die silbernen Kämme, die ihre Haare gebändigt hatten, in der Hand und die braunen Locken fielen ihr weich über den Rücken, Brillianten und Perlen immer noch eingenäht.

Natürlich wusste Rilla, dass es einem Skandal gleichkommen würde, aber merkwürdigerweise war ihr das egal.

Hatte Ken nicht gesagt, er möge ihr Haar offen am liebsten? Und war Ken nicht der einzige Grund, weshalb sie hier war? Sie nickte sich selbst im Spiegel zu, richtete den Schleier, griff nach dem Bouquet und machte sich auf den Weg in ihre neue Zukunft.

Lächelnd.